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- 26 06 2001 - 22:51 - katatonik

Koryphäen in Kazimierz

Das Hotel “Sokrates” zu Warschau steht überraschenderweise immer noch dort, wo es vor zwei Jahren stand.

Schwachbrüstiger Witz, vor der Rezeption erdacht: “Hätten Sie vielleicht’n Zimmer?” – “Weiss nich. Aber das weiss ich dafür sicher.” – “Wieso wissen se denn das nich?” – “naja, wir sind hier ja das Hotel Sokrates.”

Mittlerweile sperrt allerdings die Hotelbar schon um zehn Uhr (abends) zu, damals konnte man noch bis zwölf Uhr günstiges Bier in charmant indifferenter Atmosphäre trinken, irgendwo zwischen Ostblock-Schläfrigkeit und Westblock-Erschöpfung.
Am Eröffnungsabend des gross angelegten Seminars (an die 30 Teilnehmer, darunter vier Teilnehmerinnen) über “Argument and Reason in Indian Logic” gelang den versammelten Koryphäen eine Erweiterung der Sperrstunde bis nach Mitternacht, wobei sowohl Barfrau als auch Bierzapfhähne überstrapaziert wurden vom Durste der Anwesenden, der durch deren aufgeregtes Geplappere und angeregtes Geplaudere schneller anstieg als der Bierzapfhahn sich drum kümmern konnte.

Am nächsten Morgen bestiegen die Koryphäen einen eigens angeheuerten Bus, der sie nach Kazimierz Dolny brachte, in ein Städtchen mit ehrbarer Vergangenheit (urkundlich usw. usf. 1170, Stadtrecht angeblich 1406), naturbelassener Umgebung (unreguliertes Grün um der Weichsel), beeindruckender Architekturgeschichte, deren Monumente z.T. noch erhalten sind, sowie der in Zentraleuropa (naja) üblichen wechselvollen politischen Geschichte. Da kamen mal die Schweden – ich wusste nicht, dass der Krieg Polens mit Schweden “Sintflut” genannt worden war – und brannten, zerstörten und plünderten, dann die zig Teilungen Polens, die die Bedeutung der Stadt minimierten, dann Aberkennungen des Stadtrechts, ein paar Brände, und Choleraepidemien. Ach ja. Kein Wunder, dass sich hier schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts immer wieder Künstler ansiedelten. Nach 1923 ergriffen die Künstler angeblich vollends von Kazimierz Besitz. Naja, nicht ganz. Bis zum zweiten Weltkrieg war etwa die Hälfte der Bevölkerung von Kazimierz jüdisch. Dann nicht mehr. Die Künstler werden dafür wohl nicht, oder zumindest nicht allein, verantwortlich gewesen sein.

Die genannten Koryphäen bezogen Quartier in einem etwa fünfzehn Minuten Fussweg den Hügel hinauf gelegenen Seminarzentrum, mit viel Grün, grossen Gästezimmern, Satelliten-TV und guter Küche. Nach Besiedelung und Erkundung der Örtlichkeiten sowie erster Bekanntschaft mit Kunstwerken gastronomischer Natur (Roterübensuppe!) schritt die Koryphäenschaft an die Entfaltung ihres Wesens und trug vor, stellte in Frage, disputierte, organisierte, ritualisierte. Des Abends spazierte sie in die nahegelegene Ruine des Königspalasts, wo sie von Lagerfeuer, Grillwürsten, Bieren, einer angemessen kostümierten sowie über alle Maßen rührigen Volksmusikgruppe und, nicht zu vergessen, gleich mehreren Mückenpopulationen begrüßt wurde – wie es sich eben für Königspaläste so geziemt, auch für ruinenhafte. Es wurde getanzt, jaja.
Nach weiterem Erkenntnisgewinn am nächsten Tag folgte ein Ausflug auf einem Schifflein, geleitet von sachkundigen Erklärungen eines alten polnischen Männleins — gedolmetscht von einer örtlichen Koryphäe —, überflogen von einer Vogelpopulation, die aussah, als hätte man jedes einzelne Tierlein in ein Gipskorsett gesteckt. Die Landnahme am anderen Ufer der durch Regenfall über ihre Ufer getretenen Vistula gestaltete sich abenteuerlich, wurde aber dank des Erfindungsreichtums des Kapitäns und des Abenteuergeistes der Koryphäenschaft dennoch möglich. Damit man sich nicht gar so langweilt, wenn man dort vom Hügel herab das Grün besichtigt, das den Fluss umgibt und das er beizeiten überschwemmt, haben die Polen oder auch die Aliens ins hohe Grün einige Tierfiguren einrasiert: einen Vogel, einen Fisch. Leider keinen “Duck-a-Rabbit“, wie es zumindest einigen der Koryphäen zupaß geko mmen wäre. Aufstieg zur Festung Janowiec, die auch während kommunistischer Zeiten in Privatbesitz gewesen sein soll. Davor hatte die Festung eine äußerst wechselvolle Geschichte gehabt, weil die Schweden … usw. usf. Auffällig häufig erwähnte der Führer, dass irgendwelche neuen Besitzer der Festung, die sie im Kartenspiel gewonnen oder auf andere ehrenwerte Wege erworben hatten, nicht in der Lage gewesen wären, die Festung zu erhalten. Nun ja, nach kommunistischen Zeiten hätte der private Festungsbesitzer die Festung an den Staat vergeben, der ihm zum Dank dafür ein originales Häuschen aus dem 18. Jahrhundert von irgendwoanders her herbeiholen liess. Bauwerktransport mit Stock und Stein scheint also doch keine ausschliesslich US-amerikanische bzw. japanische Eigenart zu sein.

Die Festung wird gerade restauriert, besitzt aber bereits ein funktionstüchtiges Museum sowie einen ebenso funktionstüchtigen Biergarten, und – natürlich, einen Geist. In einigen Monaten kann man dort wohl auch nächtigen, sofern der Geist gewogen ist.

Im Städtlein Kazimierz wurde unterdessen ein nationales Volksmusikfestival vorbereitet. Wie es Koryphäen gut ansteht, beäugten sie selbige Vorbereitungen aus einem Biergarten am Dorfplatz. Auftritt singender Altdamenchor in dirndelkleidartigen Gewändern. Posieren des Altdamenchors fürs Foto. Abtritt Altdamenchor. Auftritt singender Altherr mit Akkordeon. Posieren des Altherren fürs Foto. Abtritt. Nach eingehendem Studium des Brauchtums zogen sich die Koryphäen in ihre abseits gelegene Konferenzkemenate zurück, auf deren Terrasse bis gar nicht sooo spät Zybrowka getrunken wurde (das spricht man “Dschobruwka” aus, hiess es). Nach einem weiteren Tag voll Erkenntnisgewinns folgte ein weiterer, letzter Abend mit noch mehr Dschobruwka, dessen Genuss durch klangliche Darbietungen einer eigens herbeigekommenen, kinderreichen Volksmusikerfamilie begleitet wurde. Manche Koryphäen assoziierten etwas bösartig in Richtung Kinderarbeit & Kinderausbeutung sowie “die polnische Familie Trapp”, aber alle stimmten überein, dass das aus der Hüfte hin- und hergeschwungen präsentierte Gesinge dreier bezopfter Mädchen und das ebenso beschwingt wie beschwingende Getrommle eines achtjährigen Knabens allemal anerkennenswert sei.

Wie es sich für Koryphäen gehört, standen am Ende des Tages einige überraschende und aufsehenerregende Einsichten, die sich keineswegs auf den fachwissenschaftlichen Bereich im eigentlichen Sinn beschränkten. Es konnte festgestellt werden, dass es sich bei einer bestimmten Koryphäe, die übrigens durch stetes Mitführen einer Anzahl hochgebildeter, aber etwas enervierender Teddybären glänzt, eigentlich um eine Mischung aus ihr selbst, Helmut Kohl und einer Kuh handelt. Diese Entdeckung hat den Vorteil einer transdisziplinären wissenschaftlichen Hypothese, nämlich eine ökonomischere Erklärung einer ganzen Reihe disparater Phänomene – Korruption, BSE, Maul- und Klauenseuche sowie einer gewissen Eigenart der wissenschaftlichen Tätigkeit besagter Koryphäe – zu ermöglichen, deren Verbundenheit aufgrund der bis dato gegebenen Dominanz viel begrenzterer Erklärungsansätze verborgen geblieben war. Im Zuge der fruchtbaren Ausgestaltung dieser Hypothese wurde auch wertvolles Datenmaterial gesammelt: Ausdrücke für BSE in allen verfügbaren Sprachen – Deutsch, Schwedisch, Englisch, Chinesisch, Japanisch, Polnisch, Italienisch, und nochnpaar – wurden mitgeteilt und erörtert. Auf die Frage, warum an die Kohl-Kuh-Koryphäentür in Schweden niemals Kühe klopfen, konnte jedoch keine Antwort gefunden werden, da in diesem Bereich noch keine empirischen Untersuchungen angestellt wurden. Eine japanische Koryphäe entdeckte letztlich, dass es sich bei der Kohl-Kuh-Koryphäe entgegen ursprünglich anderslautenden Annahmen doch um einen wirklichen Menschen handle. Die versammelten Koryphäen waren baß erstaunt, hell erfreut und prosteten einander im Geiste ehrbarer Wissenschaftlichkeit aufrichtig und mehrmals zu. Über die Rückfahrt nach Warschau am nächsten Morgen liege der Mantel des Schweigens, und er bedecke sie gut.


brenn, feuerlein, brenn!

Stefan (Jun 28, 02:15 pm) #


oh ja! dies ist der ort, wo geheime brandstiftungsgelüste ausgelebt werden können! *loder*

katatonik (Jun 28, 02:45 pm) #

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