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- 15 05 2005 - 12:24 - katatonik

Harry Mulisch, Strafsache 40/61

Letzte Woche in Berlin noch mit der Straßenbahn quer durch den Osten der Stadt gefahren, M10, glaube ich, von Eberswalder Straße bis Warschauer Bahnhof, innerhalb einer halben Stunde drei mal kontrolliert worden. Etwas sentimental spaziere ich den trunken und dunkel getänzelten Blogmich-Schritten bei grellem Tageslicht nach, schwenke dann in die Lübbener Straße zu “b-books” ein. Dort entdecke ich, daß ich keine Lust mehr auf Theorielektüre habe. Statt dessen greife ich zu Harry Mulischs “Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozeß.” Aufbau-Verlag, 3. Auflage 2002.

1961 erschienen Mulischs Berichte vom Eichmann-Prozeß in der holländischen Zeitschrift “Elseviers Weekblad”. Hier sind sie gemeinsam mit Mulischs Tagebuchnotizen abgedruckt. Mulisch berichtete nicht nur aus Jerusalem; er fuhr nach Berlin, Warschau, Auschwitz, Treblinka, um Spuren und Antworten zu suchen, nichts Gesuchtes, aber doch Vieles zu finden.

Ich las “Strafsache 40/61” dann am Weg von Berlin über Göttingen nach Wien, in Straßenbahnen, Cafes und Zügen, immer versucht, den Umschlag vielleicht doch in braunes Packpapier einzupacken, als wäre ich in Japan und würde Porno-Mangas lesen, denn am Umschlag prangt groß das Gesicht Eichmanns, und das war mir peinlich.
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Der erste Prozeßtag.
“An diesem ersten Werktag setzt sich die Maschine allmählich in Bewegung. Gedränge und Geschrei im Pressebüro, wo wir unsere Eintrittskarten für das Gerichtsgebäude erhalten, Karten für Fernschreiber, Telephon und Telegramme, ein Kilo Papiere, von der Anklageschrift angefangen bis zu einer Liste mit den SS-Rängen, und elegante Kopftelephone aus Plastik für die Übersetzungen – von Philips hergestellt, allerdings ohne Warenzeichen, da die Firma nicht mehr für Israel arbeitet, nachdem die arabischen Länder gedroht hatten, ihre Geschäftsbeziehungen zu Philips einzustellen. Wir unterschreiben eine Erklärung, in der wir uns verpflichten, unsere Artikel einer Militärzensur zu unterwerfen, insofern wir über etwas anderes als Eichmann schreiben. Ich habe das Gefühl, daß mir das entfallen wird.” (44f.)

Aus dem Kibbuz Yad Mordechai, Feier zum Gedenktag der Helden und Märtyrer.
“Mit großem Beifall werden die Helden von Warschau auf dem Podium begrüßt. Zehn alternde Männer in Zivil, die etwas befremdet die jubelnde Menge betrachten. Unter ihnen auch ein fünfundvierzigjähriger, kahl werdender Mann mit einem schwarzen Lappen vor dem linken Auge, das andere schaut merkwürdig blau und klar in die Welt. Das ist der legendäre General Moshe Dayan, der Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte während der Suez-Aktion und das Idol seiner Soldaten. Unter Trommelwirbeln und Trompetengeschmetter marschiert nun die Mapamjugend mit roten Fahnen den Hügel hinab; während sich jetzt schnell die Nacht senkt und ringsum in den Hügeln die Grillen zirpen, spricht ein alter Mann mit weißem Bart: der ehemalige Anführer der polnischen Juden. Ich verstehe nur das Wort “Eichmann”. Indessen beobachte ich, daß sich dann und wann Pärchen aus den hintersten Reihen lösen und in der Dunkelheit des Kibbuz verschwinden.” (55f.)

“Während wir uns den Whisky schmecken lassen, erzählt er (Wechtenbruch, Assisten von Eichmanns Verteidiger Servatius) von Eichmanns unvorstellbarem Gedächtnis für Essen. Sogar von Diners, zu denen er am Anfang seiner SS-Zeit 1934, 1935 eingeladen wurde, kann er noch genau berichten, welche Suppe, welches Fleisch es gab und ob der Nachtisch aus Obst oder Kuchen bestand. Wenn es sich dagegen um deportierte Juden handelt erklärt er: “Hundertfünfzig- oder zweihundertfüngzigtausend, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Es ist schon zu lange her.” Dann gehen wir ins Haus. In Jerusalem werden die Abende schnell kühl.” (73)

Unabhängigkeitstag Israels, 20.4.
“Allerschönster Augenblick: als Ministerpräsident Ben Gurion eintraf, eskortiert von Motorrädern, während das letzte Auto des Zuges ein Taxi war, in dem eine durch irgendeinen verkehrstechnischen Irrtum im Defilé gelandete Familie saß, für die es zwischen den Menschenmauern kein Entkommen mehr gab. Der Beifall für die zitternde Familie und den leichenblassen Chauffeur übertönte den für den Staatsgründer.
Denn eben für diese Familie geschieht es! Da erscheint ihre englisch gedrillte Armee mit gestreckt schwenkenden Armen, Mädchen mit Maschinenpistolen, das Barett in die Stirn gezogen, da rasseln ihre Tanks heran – dürfen sie bitte endlich ein Heer haben? Und kaum einer der Soldaten sieht “jüdisch” aus. Es könnte auch die ägyptische, französische oder polnische Armee sein. Von den Zeichen der Verstreutheit wird keine Spur zurückbleiben, ebensowenig wie in den Zeiten des Sozialismus eine Spur vom Proletarier zurückblieb. Es wird sogar der Tag kommen, da wir wieder von den Juden sagen dürfen, daß sie etwas Schändliches getan, etwa ein arabisches Dorf niedergemetzelt und angesteckt haben, zum Beispiel Kfar-Kassem – erst wenn der Tag kommt, werden wir über sie wie über andere Menschen sprechen, die gut und schlecht sind, nicht aber eines von beiden, kurzum: wie über andere Menschen. Und erst dann werden auch wir selbst keine Antisemiten oder Philosemiten mehr sein, sondern ebenfalls wie andere Menschen.” (81f.)

Beer Scheva.
“Die Menschen hier sind auch schöner. Jedenfalls die märchenhaft schmutzigen Arbeiter, die vorbeischlendern: heroisches Wüstenproletariat, und es sind nie europäische, sondern immer nordafrikanische Einwanderer. Das sind die Juden Israels; im Heer sind sie Soldaten, die Offiziere sind Europäer. Und später, in einer Art Künstler-Bar, werden die Menschen noch schöner, und allmählich dämmert mir, warum alle Hotels besetzt sind. Auf einem Barhocker neben mir sitzt David Niven. Irgendeine italienisch-amerikanische Supercineramaproduktion dreht im Negev. Je weiter der Abend fortschreitet, desto mehr füllen sich die Straßen mit dem schönsten Männermaterial, das ich je gesehen habe: alle lassen sich tagsüber gegen Gagen stöhnend von galoppierenden Pferden fallen.” (94f.)

“Samstag, 1. Juli. Sabbat. Fleißig gearbeitet.” (p193)

“Hoffentlich wird indessen niemand meine Worte mit dem Ton verwechseln, den Klaus Eichmann kürzlich in den Vereinigten Staaten anschlug. Dieser Sohn einer Gurke erklärte, daß die Juden die ganze Schuld nur dem kleinen Oberstleutnant zuschoben, weil sie keine höheren Offiziere erwischt hatten; wenn sie seinen Vater nicht zu fassen gekriegt hätten, hätten sie einem Hauptmann die Schuld gegeben; und wenn sie keinen Hauptmann hätten schnappen können, so hätten sie einen Feldwebel genommen. außerdem, fährt der Gurkerich fort, sei Hitler von hochstehenden Zionisten, die Märtyrer brauchten, zum Judenmord angestiftet worden.” (197)

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