Das Zentrum eines Abends
Ich meine, Er saß da, das Zentrum des Abends. Es ging nach hüben und nach dorthin, dann aber quer über den voll besetzten Tisch und zu den zwei doch auch irgendwie einberufenen Gästen. Die beiden setzten sich erst später zu uns, obwohl Er sie schon beim Eintritt begrüßt hatte.
Er fragte nach ihrer beider Befinden, nach ihrer beider Schaffen. Der eine schob eine Hochglanzbroschüre über den Tisch, in der es um nackte Männer mit nackten Schwänzen ging, visuellmäßig, alles etwas zu rot geraten. Der Drucker, Sie wissen schon. Der andere sprach von einer Gerichtsverhandlung, Bausicherheit, alles geschoben, von Müttern von Auftragsgebern, auch das wissen Sie, wie das läuft. Eine Ausstellung sollte man machen, meinte Er. Große Kunst, Männer, Schwänze, könnte man sicher organisieren. Er macht ja tolle Sachen, ja, und die Dinger erst. Für eine Schwulensauna gemalt, ist das nicht. Wo Er jetzt sei, könnte man sicher was machen. Wo sonst, wenn nicht dort. Siewissenschonmäßig. Noch Wein, bitte.
Drei Jahre zuvor im selben Bezirk, anderes Lokal. Er und noch ein er und eine sie. Der dritte war besoffen, so wie auch heute, wo er auch mit am Tisch saß, mit nach oben verdrehten Augen unter den halb geschlossenen Lidern, so dass Schaum vor seine Lippen hätte treten sollen, was aber nicht geschah. Damals war sie aufgestanden und in einen abgedunkelten Raum des Lokals getreten, aus Neugier und als Magnet. Der Er folgte ihr. Er trat langsam an sie heran. Nacken, Atem, Hauch, Küsse, Schmiegen. Zurück zum Besoffenen, dann woandershin, Bett. Der Er entschuldigte sich morgens dafür, dass er früh weg musste und auch spät nicht konnte. Er war noch einige Tage in der Stadt. Zwischen Bücherregalen begegneten sie einander. Sie küsste ihn, er zuckte zurück. Es könnte sie jemand sehen. Sie fror. Konnte nicht einmal sagen, na und, weil sie wusste und vernünftig war. Er und seine Frau dort, Er und seine Freundin hier, und jetzt auch noch sie. Vorhersehbare Komplikationen, erwartbare Verletzungen, aber trotzdem ein paar Tage im Vielleicht.
Ein paar Tage später, unter Neonlicht in ihr Büro zitiert, hatte Er dann ein “nein” von ihr gehört, voll Schmerz, aber verbrämt in Rationalitäten und Notwendigkeiten. Es könnte nicht gut gehen, es hätte keinen Sinn, sowas eben. Einige Wochen später trafen sie wieder zusammen, ganz anderswo, freundlich und distanziert, verletzt vermutlich beide, nicht wissend, warum, auch beide.
Jetzt saß Er da, meine ich, eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren links und eine ältere rechts, Mutter und Tochter. Vielleicht war die ältere ja die Freundin von damals, die vor Ort, niemand weiß, und bei Ihm fragt nie jemand, wer die Frauen sind. Am Ende der Nacht saß die ältere zurückgelehnt still unter dem Schein einer trüben Funzel. Je mehr Er den beiden auch irgendwie einberufenen Gästen Kunstgelegenheiten öffnete, umso grüner, fahler und stiller wurde ihr Gesicht.
Im Taxi roch es dann nach ungewaschenen Haaren.