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- 16 March 2024, 16:57 - katatonik

Desolate (San Francisco, Februar/März 2024)

Ein Hotel in Nob Hill; ein altes, knarzendes Gebäude mit einem Lift mit innerer Faltmetalltür. Ein faux fireplace, der eine Gasheizung ist, mit einem Schalter aktivierbar. Eine Tischlampe mit Elefant als Fuß. Elefantenförmige Griffe am knarzenden Holzschrank. Schlecht schließende Fenster. Über dem Bett, hinter Glas und gerahmt, ein paar Zeilen von Kerouac in Courier gesetzt, auf bräunlichem Papier (Schreibmaschinenanmutung, Vergilbtheitsanmutung). Über dem Klo, auch hinter Glas und gerahmt, das Foto von Veruschka mit Gepardin. Verneigungen vor der Architektur des sehr frühen und der Kultur des etwas späteren 20. Jahrhunderts, alles leicht desolat. Wine hour ab 17 Uhr vor einem anderen faux fireplace, geschliffene Freundlichkeit des Kellners (Familie aus Mexiko), Vorabendplaudern mit anderen Gästen. Die Dame aus Norwegen, mit ihrer Tochter hier, beide, um einen Marathon zu laufen. Sie ist Ärztin auf einer Ölplattform, da hätte es unlängst einen Unfall des Transporthelikopters gegeben, alle sehr beunruhigt, schließlich ist der Transporthelikopter die life line jeder Bohrinsel. Reisesplitter, von den Massai, vom underground tunnel des Zenkōji-Tempels in Nagano, aus Guatemala.

Portsmouth Square, Chinatown, ein kleiner Park. Spielgeräte für Kinder, an denen ältere Leute, alle mit surgical masks, langsam Kraftübungen vollführen, Rücken aushängen. Ein Denkmal für die erste publicly funded school Kaliforniens. Eine Statue einer Frauenfigur, die “Statue of Democracy”. Eine ältere Dame mit Einkaufstaschen und einem Transistorradio (chinesische Lieder, Frauenstimme, schrill) möchte eine Tasche mit Blumen partout an den Sockel der Statue lehnen, doch der Wind weht sie immer wieder um. Das passt ihr gar nicht. Sie unternimmt mehrere Anläufe, selbst ein Denkmal des Starrsinns, bis sie dann doch die vom Wind abgewandte Seite findet und wählt. Ein Mann mittleren Alters, caucasian, Rucksack am Rücken, geht hin und her durch den Park. Er spricht laut in Rechtsdokumentssprache, als würde er Vorschriften für den supreme court (das Wort fiel mehrmals) rezitieren. Unter einer Pergola Obdachlose, aufgetürmte Besitztümer. Eine Gruppe Menschen am anderen Ende des Parks, gemischte Ethnien und Altersgruppen, versammelt um einen, der doziert. Es geht um irgendeine Vereinigung, der man nicht einfach beitreten könne, da müsse man schon Besonderes leisten, um aufgenommen zu werden. Es scheint nicht, als würde er Reiseführer sein; er klingt nach Seelenfänger. Eine Sekte vielleicht. Der Rechtsdokumentrezitator geht an der Gruppe vorbei. Seine Rezitation überschneidet sich mit der Seelenfängerei.

Abends dann die falsche Bahn erwischt, Metro statt BART, daher drei Kilometer entfernt von der Gray Area an die Oberfläche gekommen, von jenem Theater- oder Kinobau, wo an diesem Abend Actress und drei andere Acts auftreten. Noch Zeit genug, zu Fuß zu gehen. In den USA zerdehnt sich das immer, ich lese, es ist irgendwohin drei Kilometer und denke dann, ach, das geht doch locker zu Fuß. Dunkelheit, leichter Regen, wenige Menschen, Häuserblöcke, Palmen. Eine episcopal church, aus deren Innerem hartes Schlagzeug tönt. Dann die Mission Street, breit, Lokale, Shops, abgefuckt, temporäre food stalls am breiten, desolaten Gehsteig (mittel- und südamerikanisch), mehr Menschen, Taco shops, Gestalten, die ihren Körper schlecht oder nicht unter Kontrolle haben, stärkerer Regen.

Recht gebügelter Veranstaltungsort für “antidisciplinary collaboration … towards a more equitable and regenerative future”, der kritischen Auseinandersetzung mit Technologie und Kultur verschrieben. Angenehme Mezcal-Cocktails an der Bar, ausgesuchte Freundlichkeit allerorten. Die Konzerte im Rahmen des Noise Pop Festivals 2024. Der Sound passend zur Gegend: glänzende Dunkelheit, verborgene Dimensionen, Rohes und Desolates, aufblitzende Wärmemomente, überraschende Wendungen.

Erst Eileen Sho Ji, ein Ambient Set, sehr unterstützende Fanbase im Publikum. Dann alles Einpersonenshows. mars kumari, eine recht düstere Elektronikerin aus Oakland (Album I Thought I Lost You, hauntologisch verbrämt). Chuquimamani-Condori, bolivianisch-kalifornisch, mit Cowboyhut, lässt südamerikanische Musikelemente in brachial-tänzerische Elektronik hineinschmelzen (Album DJ E). Die alle führen vortrefflich hin zu Actress (Darren Cunningham, das ist gut hinzuzufügen, falls jemand Suchmaschinen betätigen möchte). Räume aus Sound gebaut, Skulpturen aus Sound ziseliert, visuelle Strecken, die sehr eigene Galaxien entwerfen. Live lohnt sich, der Mann kann Dramaturgie, oh, und wie (letztes Album LXVIII). Die Trackstruktur der Alben ist das eine, die Dramaturgie seines Live-Sets das andere. Mir kommt vor, man erkennt sein handwerkliches Geschick daran, dass er live zwar mit von den Alben erkennbarem Material arbeitet, aber dann doch einen sehr eigenen, neuen Klangstrom generiert. Ich bin hin und weg. Gleich nach dem Konzert strömt das Publikum unverzüglich nach draußen, viele in die nahegelegenen Taco shops, alles verläuft sich. Durch stärkeren Regen zur Metro-Station, etwas verirrt dabei. Die Station recht leer, erst später lese ich, dass sie nachts als gefährlich gilt. Ich spürte keine Gefahr.

Im Nordwesten der Stadt am Strand die Ruinen der Sutro Baths, benannt nach Adolph Sutro, in Aachen 1930 geboren, mit der Familie im Alter von 20 in die USA emigriert, vom Goldrausch nach San Francisco gespült, reich geworden, 1894 bis 1898 Bürgermeister von San Francisco. Die Baths: 1894 errichtete, luxuriöse Badeanlagen, bis zu 10.000 Menschen Fassungskapazität, in einer Bucht, die heute “Naiad Cove” heißt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts geschlossen, umgebaut, teils abgerissen, abgebrannt. 1897 klagte John Harris erfolgreich gegen die “whites only”-Policy in den Sutro Baths. Er erhielt eine recht geringe Kompensationssumme, von der er jedoch die Gerichtskosten bezahlen musste; praktisch dürfte der rechtliche Sieg dann auch wenig geändert haben. Ein Wasserbecken ist noch da, Reste von Steinmauern. Wenige Spaziergänger*innen, die sich gegen den an diesem Tag sehr starken Wind stemmen. Einige Wasservögel planschen; ich kann sie mit meinem Feldstecher nicht identifizieren. Der Wind ist so stark, dass es mir nicht gelingt, die Hände ruhig zu halten. Am Hang oben das “Cliff House”. Sutro hatte hier ein achtstöckiges viktorianisches Gebäude errichten lassen, das zwar nicht im Zuge des San Franciscoer Erdbebens, doch bald danach abbrannte. Weiter Blick über die Westküste. Mit den Wellen laufende Limikolen, im Sand laufende Menschen, kleine Striche.

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- 5 March 2024, 04:37 - katatonik

Leerstellen

Ein zusammengewürfeltes Hotel, eingeschoßig der Vorderbau, der Zwischenbau, dreigeschoßig die Hinterbauten, ein japanisch gestalteter Zwischengarten mit unjapanischer Hochsprudelanlage im Teich (keine Fische), über dem Kolibris flirren. Auf der einen Seite des Hotels das Arboretum der reichen Universität Stanford, die im übrigen eine eigene Stadt ist, auf der anderen der Ort Palo Alto; in den digitalen Stadtplänen viele bekannte Namen von Tech-Unternehmen. Geschäftsgebäudeblöcke, zwischendrin flach gebaute Einkaufszentren, nicht wenige leerstehende Läden. Im Arboretum sehr viele Eukalyptusbäume. Ich lernte dereinst, dass Eukalyptusbäume sehr viel Wasser aus dem Boden zögen und daher schlecht umweltverträglich wären, gerade in Zeiten zunehmender Trockenheit, aber das scheint nunmehr umstritten zu sein.

Ein Swimming Pool als Leerstelle im Zentrum des Hotels, 25 Yards. Einmal schwimme ich bereits um 05:30, noch im Dunkeln, bei annäherndem Vollmond, das beheizte Wasser dampft in der Morgenkälte. Burt Lancaster schwamm sich als Ned Merrill durch die Pools des reichen, Parties feiernden, bröckelnden Kaliforniens. Um diesen Hotelpool herum werden Geschäfte getrieben, online, offline; Menschen erholen sich zwischen Geschäftsterminen. Im Verlauf einer knappen Woche sehe ich ein Mal nachmittags einen Vater mit seinem kleinen Sohn (China) planschen, zwei Mal frühmorgens eine ältere Dame (weiß) kraulen. Der Pool als Leerstelle im Geschäftsgetriebe.

Schon beim Frühstück ungemein sorgfältig zurechtfrisierte, ondulierte, flächig geschminkte, manikürte, gebügelte, glattgestrichene Frauen in Business-Kostümen, durchtrainierte Männer in dazu passenden Anzügen (ist Slim Fit in den USA tatsächlich weniger verbreitet als in Mitteleuropa?). Molligere Männer in Hosen und Hemden, die nach Versicherungsvertreter aussehen. Die eine oder andere Person in alternativem Reise-Outfit (Rucksack, kein Rollkoffer), eine Familie mit drei kleinen Kindern, was machen die hier, und warum? Sind sie wegen des family weekends der Universität da? Diesen Termin merkt man jedenfalls in den Restaurants; viele asiatische Familien, ich vermute Indien, ich vermute China, ich vermute Korea, ich vermute seltener Japan. Einmal, abends in der Hotelbar, eine Gruppe aus älteren und jüngeren Personen aus Indien, die starken indischen Großfamilien-Vibe haben. Alle scharen sich um den Pater Familias, vor allem die Männer. Die Frauen gehen irgendwann, alle. Es bleiben die Männer, alle, dann wird business gesprochen, aus welchen Investments man rausgehen sollte, in welche man reingehen sollte, mit wem man darüber sprechen sollte, wer darüber mit wem gesprochen hätte, sowas. Gespräche mit eindeutigen Gravitationszentren, personal, thematisch. Im Service, in den Küchen, beim Reinigen der Infrastruktur fast ausschließlich Latinos und Latinas, nur nicht im chinesischen Restaurant und an der Rezeption des Hotels.

Sonne, obszön viel Sonne; Wärme. Im Februar sollte das nicht sein, nicht in Nordkalifornien, wo es denn doch bedeutend kühler ist als im Süden. Es hätte viel geregnet in den letzten Wochen, sagt P., als er mich vom Flughafen abholt. Er zeigt auf die Hügel südlich von San Francisco: Sie wären alle grün, das sei sonst um diese Jahreszeit nicht mehr so, sei überhaupt selten so. Das Wasserreservoir, an dem wir vorbeifahren, dennoch auf eher niedrigem Stand. Es wird nicht mehr, sagt P., nüchtern. Einige Tage später wird A., der aus Berkeley vorbeikommt, en passant erzählen, sie hätten dort da ja schon vor Covid über Zoom unterrichtet, zu Zeiten, wo man wegen der von den Waldbränden verdorbenen Luft einfach unmöglich rauskonnte.

Der Hoover Tower am Stanforder Campus, 14 Stockwerke hoch, im 14. Stockwerk die Aussichtsplattform. Unten im Erdgeschoß eine permanente, sehr hagiografische Ausstellung über Herbert Hoover, den 31. Präsidenten der USA, der von 1929-33 im Amt war; er wird wegen seiner Haltung gepriesen, die Freiheit und Wohlstand predigte, als Vorvater Hayeks, als Fels in der Brandung des bedrohlichen Kommunismus (Fragmente der Berliner Mauer, Berlin-Kalter-Kriegs-Paraphernalia). Eine temporäre Ausstellung behandelt Watergate. Ich wäre da von mir aus nicht unbedingt hineingegangen, hätte mich nicht eine der zahlreichen, sehr bemühten Angestellten fast hineingeschubst. Mehrere ältere Männer und Frauen arbeiten da. Sie wissen schon: das Pensionssystem. Sie widmen sich den nicht besonders zahlreichen Besuchenden hingebungsvoll, erzählen viel und gerne, sind auch wahnsinnig gut informiert; ich höre ihnen gerne zu. Besonders gerne und ausführlich lasse ich mir über das Glockenspiel erzählen, oben, die insgesamt 48 Bronzeglocken, die 1941 zu Ehren von Herbert Hoover als Geschenk der Belgian-American Education Foundation hierher gelangten (Hoover hatte Belgien nach dem 1. Weltkrieg im Kampf gegen Hungersnöte geholfen). Carillon ist der Ausdruck, das ist ein schönes Wort. Es gibt einen designierten carilloneur, das ist aktuell Timothy Zerlang. Er spielt hier mitunter, nimmt auch apprentices an, sei dabei aber sehr wählerisch. Welche Stücke würde er denn spielen, frage ich, ja, also adaptierte Standards (am Notentisch kann ich “Morning has broken” erkennen), aber es gäbe auch eigens für das Glockenspiel komponierte Stücke (deren Komponisten nicht weithin bekannt wären). Ich möchte umgehend Kali Malone hier spielen hören. Es sind im übrigen nicht die Glocken, die schwingen (sie sind zu schwer), sondern die Schlegel, betätigt mit klaviaturartig arrangierten Hand- und Beinhebeln. Ich verlasse Stanford mit der Bahn, von einem Bahnhof, der so groß ist wie und weniger belebt als der von Neusiedl am See.

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- 11 February 2024, 14:48 - katatonik

Picdump (04 Feb-11 Feb)

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- 11 February 2024, 12:43 - katatonik

Berlin Intermission

Der oktogonale Bau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche strahlt nach außen bläulich, verbreitet auch im Inneren ein Licht wie ein permanenter Sonnenuntergangszustand an einem bewölkten Tag. Stetes Zwielicht. Das Blau stammt aus Gabriel Loires Glasfenstern, von denen die Kirche (einschließlich des halb zerstörten Altbaus) über insgesamt 22.790 Stück verfügt, jedes davon ein Unikat. Blau, so heisst es, sei Ausdruck des Versöhnungsgedankens. Die blauen Fenster bzw. Glasbausteine sind in zwei Reihen angeordnet; die Beleuchtung erfolgt durch weiße LEDs dazwischen (früher mit großen Glühbirnen).

Konzert. An der Orgel Kali Malone und Stephen O’Malley (ich kann akustisch nicht ausmachen, bei welchen Stücken er beteiligt ist). Ich sehe sie nicht, denn die Orgel befindet sich auf der Empore hinter den Sitzreihen, wie es in Kirchenräumen eben so ist. (Man hat für das Konzert vorne beim Altar einige Reihen mit Blick auf die Empore aufgestellt, was den nicht ganz angenehmen Effekt hat, dass einander Teile des Publikums gegenüber sitzen.) Es gibt ausgewählte Orgelstücke von Malones neuem Album All Life Long, das etwa eine Woche nach dem Konzerttermin erscheinen wird. Der Prozess aufwändig: In diesem Interview beschreibt Malone, dass die Registration einer Pfeifenorgel vor dem Konzert vier bis acht Stunden in Anspruch nähme; die Konzerte selbst wären eine hoch konzentrierte Angelegenheit, aufgrund genau kalkulierter Wiederholungsmuster. Sie spricht dabei von einer Art Athletik.

Das erste Stück eingewöhnend, die verbleibenden verfolgen analoge Kompositionsmuster, ermöglichen damit Aufmerksamkeit für Nuancen. Die Stücke beginnen mit polyphonen (Dis-)Harmonien, die mit einer eine Melodie suggerierenden Struktur stärkere, angedeutet rhythmische Wechsel durchlaufen, wiederholt, transformieren sich langsam zu gehaltenen polyphonen Vibrationsflächen, die ausklingen. Jedes der Stücke evozierte zu Beginn eine Art Unwohlsein, eine Art Schmerz, fast ein Abstoßen, dann aber wirkte ein Magnetismus, der zur Beobachtung der Registerwechsel einlud, am Ende immer das Gefühl eines tief befriedigenden Mitschwingens. Ein erstaunliches Konzert. Vibrationen.

[Ich verstehe zu wenig von Orgeln. Die Orgel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin, der Prozess der Registration einer Pfeifenorgel.]

Im Hamburger Bahnhof Anri Salas Videoarbeit The Long Sorrow (2005); hineingestolpert ohne Vorinformation. Ein leerer weißer Raum, ein vertikal gekipptes großes Fenster, das die Außenwelt so zerteilt, dass im oberen Teil des Fenstervierecks der hellgraue Himmel eingeschlossen ist, die untere Kante der gekippten Scheibe mit den Dachrändern von Wohnblöcken zusammenfällt. Im unteren, geöffneten Fensterteil ist eine Assemblage aus Blättern und Blüten sichtbar. Erst langsam wird mir klar, dass es sich um den geschmückten Hinterkopf eines Menschen handelt, eines Mannes, eines schwarzen Mannes mit Dreadlocks. Saxophontöne, erst suchende Melodien, dann härtere, weniger harmonische Phrasen, gelegentlich durchbrochen von Vokalisierungen, die Schmerz anzeigen. Schnitt nach außen: Erst der ganze Kopf, dann in Großaufnahme im Profil das Gesicht des Free-Jazz-Saxophonisten Jemeel Moondoc (1945—2021), der sich für diese Performance im 18. Stockwerk eines Berliner Hochhauses (es wird wohl von den Bewohner*innen der Anlage “long sorrow” genannt, daher der Titel ) außerhalb dieses Fensters aufhielt. Wo und wie genau er stand, bleibt unklar, doch er muss gestanden haben, das erweist sich im Lauf der Performance aus seinen Bewegungen.

Die Kamera bleibt fragmentarisch an seinem Oberkörper, immer wieder Großaufnahmen. Die Blüten und Blätter in seinem Haarschmuck, teils frisch wirkend, teils verdorrt. Ihr Übergang zur Filzstruktur seiner Haarmatten, seine verschwitzte Gesichtshaut, ihre Unebenheiten, ihre Poren, die Muskelbewegungen seines Gesichtes, Runzeln und Entspannung seiner Stirn. Die Kamera wendet sich aus dem Fenster schräg nach unten. Grüne Bäume, fahrende Autos, dazwischen der Blütenschmuck in seinem Haar, der sich in der Glasscheibe spiegelt und dann eben doch nicht mit den Bäumen verschmilzt. Am Ende ein scharfer Schnitt auf die oberen drei Stockwerke des Gebäudes, das eine Fenster, vor dem er stand, nun leer, noch von den darüber befestigten Filmscheinwerfern angestrahlt. Wir bekommen kein Bild, das sich ganz anfühlt. Anschnitte von Schmerz, Fremdheit und Kraft.

Durch die Grünfläche vor dem Hamburger Bahnhof lief ein Fuchs, an den Menschenschlangen vorbei, die am Tag der Museen auf den freien Eintritt warteten. Kitsune.

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- 29 January 2024, 07:50 - katatonik

Und dann nochwas

Es war Winter, an einer Endstation mit mehreren Straßenbahnen. Schienen in Schleifen, sie kamen von überallher. Viele Wartende. Wägen fuhren ein, fuhren aber immer vorbei, bevor jemand zusteigen konnte. Immer diese alten Wägen, die ganz alten Triebwägen, vereinzelt, gelegentlich eine Bahn aus den 1960er Jahren, nichts Späteres. Es gab Schnee. Alle waren zu spät dran.

Es gab Zeichen in der schmutzigen, schlammigen Stadt, Farbflecken in gelb, rot und türkis mit schwarzen Kreuzen, die markierten, wo sich welche Menschen aufhalten durften, und die Menschen auch. P., den ich lange nicht gesehen hatte, verschwand hinter einer halboffenen Brettertür mit türkisem Kreuzlogo, noch bevor ich ihn ansprechen konnte. Ich trug ein gelbes Zeichen, das mich als Hundeperson markierte, und musste einen kuschelbedürftigen Boxer (ich hasse Kuscheln mit Boxern) motivieren, Treppen zu einem für uns erlaubten Platz hinabzulaufen.

Dazu der Soundtrack, eine Beat-Band spielte eine Gitarrenschrabbelnummer mit dem Textfetzen:

come on make me dinner
take me where I am
make me miss my dinner

und dann nochwas.

(#aufgew.)

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- 24 January 2024, 21:55 - katatonik

Séances soniques et sucrées

Fremde Menschen erzählen mir wieder Geschichten.

Faszination der so gekonnt aussehenden Reglerbetätigung bei elektronischen Klangerzeugern, gerade, weil anders als bei konventionellen Musikinstrumenten die Kausalität zwischen Bewegung und Klang nicht nachvollziehbar ist, für mich jedenfalls nicht. Es ist eine kindliche Faszination, woher weiß der Kerl, was da rauskommt.

corporeal gratitude

Ich habe zwei CDs käuflich erworben, nach einem Konzert, direkt von den Musikerinnen. Ich höre keine CDs, mein Setup schließt diese Option technisch nicht mehr ein. Der Erwerb hatte mehr von einer spontanen Geste des Ausdrucks der Anerkennung, der Begeisterung; das musste sein. Ich höre die Nummern auf Bandcamp nach, auf Tidal; ich digitalisiere die CDs in FLAC-Dateien und höre sie vom Laptop. Vielleicht kaufe ich auch die CDs noch einmal als Dateien von Bandcamp, schließlich ist die Begeisterung groß, und Musik darf Geld kosten. Die CDs werde ich natürlich behalten, sie sind nun sehr geschätzte Objekte, eine Art Talisman.

Wenn man aus der Erinnerung von Menschen gefallen ist, die doch so stark in der eigenen sind.

Rezept des magischen Kuchens: 1 ganze Orange ca. 30 Minuten kochen, dann pürieren. Dazu 4 ganze Eier, 120g Kristallzucker, 250g geriebene Mandeln, 1TL Backpulver, Prise Salz, in Springform 45min bei 180° backen. Die Zuckermenge ist skalierbar; das Originalrezept hatte 180g, mir reichen 120.

nachvibrierend

Im In-Ear-Bluetooth-Kopfhörer sagt eine Frauenstimme “connected”, wenn die Verbindung mit dem Endgerät hergestellt ist; sie sagt dies in erkennbar amerikanischem Englisch, mit einer zu Aktivität und Genuss auffordernden Fröhlichkeit, Betonung “con-NECT-ed”. Der Over-Ear-Kopfhörer dagegen ist ein britisches Fabrikat. Auch hier eine Frauenstimme, die “connected” sagt, allerdings in unterkühltem Tonfall, fallend: “CON-nect-ed”, ein Fakt konstatierend, mit keinerlei Aufforderung verbunden, zurückhaltend.

Überrascht davon, wie ausnehmend gut mir ein Konzert improvisierter Musik gefiel — public recording in einem Tonstudio —, das mehr Jazz an sich hatte, als mir sonst lieb ist. Der Saxophonist, er stand ganz vorne, wie er bei manchen Passagen des Pianisten seine Lippen ganz nah am Mundstück hatte, es fast berührte, die Augen geschlossen, ein Körper durchdrungen von Musik, ein, zwei Mal setzte er an und blies dann doch nicht, erst später.

[Martin Siewert & Reinhold Friedl, Echoraum, 17.1.; Golden Diskó Ship, Echoraum, 17.1.; Ad Libitum Quartet (Vinicius Cajado, Mark Holub, Villy Paraskevopoulos, Werner Zangerle), Public Recording, Amann-Studios, 21.1.]

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- 13 January 2024, 17:35 - katatonik

Mitnehm- und Tagesabschlusshöhepunktkonzerte

Kein Fahrrad in diesen Jahresanfangstagen, da zu kalt und eisig; der Weg ins Schwimmbad zu Fuß, das geht in fünfzehn Minuten, unter anderem durch einen schneebestäubten leeren Park, die Verstrebungen der nihilistisch anmutenden Spielgeräte weiß nachgezeichnet. Im Becken der zu Jahresbeginn immer wiederkehrende Gutevorsatzschimmendenstau, das gibt sich im Februar wieder. Es gibt im übrigen bedeutend mehr zuvorkommende männliche Schwimmer als vor Jahren, was Positives. Die Testosteronmonster werden weniger. Die innere Hausärztin ruft dazu in Erinnerung, dass Testosteron ja auch sehr positive Wirkungen auf den Organismus und das Verhalten hätte, gerade bei Frauen; ich hätte in mehr als ausreichendem Maß davon, hatten der externen Hausärztin die Werte am Papier vor einigen Monaten gezeigt, übrigens. Seit diesem Befund frage ich mich gelegentlich, ob mich die Testosteronmonster deshalb so nerven, weil ich im Grunde eine von ihnen bin.

Manche Konzerte lassen sich am Heimweg gewissermaßen mitnehmen; die um 19 Uhr angesetzten Konzerte in der “Strengen Kammer” zum Beispiel, einem eher kleinen Nebenraum des Porgy & Bess, der experimentell und improvisatorisch bespielt wird. Sympathisch, familiär, nachgerade intim, für meinen Geschmack immer recht nah am Überfamiliären, aber das ist Wien, da ist man schnell in einem sich allzu dörflich anfühlenden Bereich. Es spielten diese Woche zum Beispiel Kenji Herbert (E-Gitarre), Vinicius Cajado (Kontrabass) und Lukas König (Schlagzeug). König und Cajado waren mir aus anderen Zusammenhängen bekannt, jeweils für sich genommen, Herbert hörte ich zum ersten Mal. Rhythmische, harmonische, treibende Instrumentalnummern, bei denen die Gitarre hörbar im Vordergrund stand. Spielfreude. Eh ok. Gelegentlich Solos zwischendurch mit Oha-Momenten. Ich weiß nicht, ob es am Überfamiliären lag, oder auch am Testosteron, dass mir das alles zu gefällig war, oder daran, dass ich gerade Cajado im letzten Jahr drei Mal mit Experimentalmusiker*innen gehört hatte, deren improvisierendes Zusammenwirken mit seinem Kontrabass sich explorativer anhörte. Die Exploration des Klangs, das vermisste ich hier. Mehr Spielen mit vorgefundenem Material als Gestaltung von Material durch Spiel, so in die Richtung hörte sich das an, if you get my drift.

Echoraumkonzerte sind eigentlich immer Tagesabschlusshöhepunktkonzerte. An dem einen Abend, später in der Woche, trockener, weniger Eis, fahrradtauglich, also an dem Abend drei Sets gebaut um Bernhard Hammer, einem Elektro Guzzi Fuzzi, womit ich diese Formulierung, die sich mir schon lang aufdrängt, nun tatsächlich hinkalauerte, da schau her. Sehr gut besucht übrigens, überraschend viele junge Leute da, naja, die Guzzis ziehen halt. Matija Schellander spielt sein Stück “Drill”: Weißes Rauschen aus der Konserve; Schellander ruckelt dazu an einem durch die Saiten des Kontrabasses gefädelten Bogen, während er das massive Instrument hält und gleichzeitig um es herumläuft, im Kreis, immer wieder, das Rauschen und den Bassklang durch die Bewegung filternd. (Ja, ihm wurde schwindelig dabei.) Der Kontrabass als menschlich angetriebene Bohrmaschine, das gefällt mir an diesem Bild, als Idee, als Performance.

Hammer und die Pianistin Anna Sophia Defant spielen gemeinsam Hammers Komposition “Reflektierende Echos”. Eine gewisse Sentimentalität, ausgehend von Hammers frühkindlicher Erfahrung, unter dem Flügel liegend auf seine Schläge und Rufe daran Antwort erwartet zu haben. Diese Erinnerungen würden sich in der Komposition als reflektierende Echos manifestieren, heißt es im Beipacktext. Die Idee des Rufens ins Klavier wurde mehrfach bemüht, ansonsten zahlreiche langsame und weich gespielte Klavierpassagen, also halt wirklich nix mit Testosteron. Berückend und berührend einige Stellen, an denen sich Hammers Laptop-Elektronik eng an den Klavierklang schmiegte, damit fein dissonante Flächen gestaltete.

Plauder- und Weinpause; dann Hammer und Schellander, einander in einer Art und Weise gegenübersitzend, dass man sie für Schach- oder andere Brettspieler halten könnte. Beide an den Reglern, vorgeführt werden bereits am Wege einer Tonbandmaschine bearbeitete und überschriebene, gemischte und mit Dub-Techniken verfeinerte elektronische Klänge, so wird das beschrieben. Das ergibt einen Sound warmer, jedoch trockener Elektronik, die ordentlich eskaliert, dabei von Hammers E-Gitarre unterstützt. Sonic derailment, das schätzt die Testosteronikerin.

Und dann war da noch die eine, mit der ich plauderte, und an ihr ging der andere vorbei, den ich so oft lachen sehe, ein freundlicher Mensch. Und sie lachten einander an, sich auf eine vorangegangene Unterhaltung berufend, einander anlachend, dass sie da noch anknüpfen müssten, und da knisterte etwas, was mir große Freude bereitete, dieses Knistern mitzuspüren. Und als ich dann das Lokal verließ, standen sie beide da, im Stiegenhaus, rauchten, ihre Gesichter so offen füreinander, ihre Körper einander näher, aber noch nicht so nah, wie ich vermutete — und für die beiden hoffte —, sie könnten einander in dieser Nacht noch kommen.

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- 28 December 2023, 11:47 - katatonik

Es is so eine Schadheit in mir

Es geht immer, bis es nicht mehr geht. Dieses Jahr ging es lange, aber an dem einen Tag dann war es zu viel, als ich übermüdet das Fahrrad mit in die U-Bahn nahm, dann dort Massen an Menschen zustiegen, ein nicht näher geklärtes Ereignis das eine Gleis sperrte, die U-Bahn gefühlt Stunden erst in einer Station, dann zwischen zwei Stationen stand. Da ging es nicht mehr, da, ein Klaustrophobie-Anfall, wie schon länger nicht mehr, plötzlich die Menschenmenge stumm und bedrohlich. Da rief ich dann gegen die bei der nächsten Station einsteigenden Massen mit meinem Fahrrad aus dem Wagen “ich muss mit dem Fahrrad raus! Lassen Sie mich raus!” (ein Mann freundlich so “danke, dass Sie Platz machen”), trug das Fahrrad die Rolltreppe nach oben, wäre fast damit umgekippt, aber da war eine junge Frau, da war ein junger Mann, sie wollten helfen, sie halfen, ich bedankte mich, es war mir peinlich, es war mir nicht peinlich, so ist das, wenn es geht, bis es nicht mehr geht. Es kommen dann ein paar Tage der Regeneration, des Rückzugs, dann geht es wieder.

Can David Bowie be a language?

Es haben sich Traditionen eingeübt, es üben sich Traditionen ein. An den Feiertagen trinken die, die sonst keinen Schnaps trinken, miteinander guten Grappa. Es werden neue Grappagläser nach Bayern transportiert zu diesem Zweck, es wurden schon vor Monaten in Italien besondere Grappasorten akquiriert. Die einen kochen, die anderen kochen. Für das Steinpilzrisotto an dem einen Tag wurden in den örtlichen Wäldern, ebenfalls schon vor Monaten, Steinpilze gesammelt. Auch in diesem Jahr, das als schlechtestes Schwammerljahr seit Menschengedenken gilt, gab es immerhin noch genug dafür.

Während der Lockdownzeiten der letzten Jahre die Einübung in die Zubereitung von Rogan Josh, ein kaschmirisches Lammcurry, das während der Moghulzeit populär wurde, daher auch der persische Name. Nach einigen Versuchen kristallisierte sich dieses Rezept als für uns Bestes heraus. Es begab sich, dass ich es nun schon zum dritten Mal angelegentlich eines Feiertags in Bayern zubereitete, leicht abgewandelt, statt der vier Löffel tomato puree ein Löffel Tomatenmark und ein Glas der hier im Sommer selbst eingemachten Tomatensauce, auf Sahne verzichtet. Das Lammfleisch wird vorausschauend vorbestellt, es gibt ja fantastisches Lammfleisch in der Gegend.

Das Rogan Josh darf eineinhalb Stunden köcheln, nicht nur eine, wie es das Rezept vorschlägt, und die halbe Stunde macht in Sachen Weichheit des Fleisches und Würzigkeit der Sauce einen Riesenunterschied. Am nächsten Tag wird das Gericht gute 120 Kilometer über Autobahnen und Landstraßen gefahren, aufgewärmt, mit Joghurt, Koriander und gemörserten Fenchelsamen in Kontakt gebracht, und dann sind alle glücklich, auch wenn das, aus Gründen, gerade sehr schwer ist. Andere besorgen für diesen einen Tag Baumkuchen, da wird in der Umgebung eingehend recherchiert, nachtelefoniert, das ist keine einfache Sache; es gibt da Expertise von bewundernswertem Feinsinn in Sachen Konsistenz des Teiges und Geschmack. Diesmal sogar ein Baumkuchen mit Matcha-Ring; ich bin gerührt. Das Zulaufen all dieser vorsorglichen Besorgungen, Bestellungen, Sammlungen und Zubereitungen auf diese paar Tage; es ist einfach schön. Wir tun einander Gutes, wir tun einander gut. Darauf einen Grappa.

Repetition is a form of change

Das neue Album von Automat heißt Heat, es läuft hier seit September immer wieder; für mich ist es eher warmth, und in a good way. Eines von mehreren Alben, mit denen mich 2023 hoch geschätzte Musiker*innen überraschten, in denen musikalische Volten geschlagen wurden, die ich nicht erwartet hatte; they grew on me. Radian, Distorted Rooms, Deadbeat, Kübler-Ross Soliloquies. Angesichts der beiden Fennesz-Konzerte, die ich dieses Jahr gehört habe, erwarte ich von dessen nächstem Album auch sowas. Das ist fein.

Eigengrau

Schwanzmeisenschwärme, Distelfinkentrupps, Eichelhähergangs. In den (hier gottseidank nur moderat) überfluteten Feldern, den temporären Tümpeln, ungewöhnlich viele Kuhreiher, Graureiher. Ein Milan. Der nördliche Raubwürger ist auch wieder da. In dem einen Wald ein Moor mit Schwefelquelle, im anderen ein alter römischer Hafen, nahe eines Altarms der Donau. Dort ungewöhnlich viele Meisen, sogar Haubenmeisen, bis wir entdecken, dass es da eine Tierfütterungsstelle mit Körnchen gibt, und eine sattsam langsam fließende Quelle, mehr braucht die Meise nicht. Landstraßen, die wir noch nicht kannten.

Wenn man sich die Dinge zu lange offen hält, gibt es irgendwann keine Dinge mehr.

Schade, das Wort gefällt mir zunehmend als Haltung gegenüber Vergangenem. Grimms Wörterbuch erzählt dazu eine komplizierte Geschichte, die Beschädigung und Bedauern verbindet, und ich picke mir etwas von Zwischendrin heraus:

“jetzt sagt man ‘es ist schade’ als ausdruck des bedauerns, eigentlich es ist ein verlust, ein unglück, ein bedauernswerther umstand”.

Ich würde dieses Wort gern reservieren, habe es für mich reserviert, für einen Ausdruck des Bedauerns, der sich nicht die Haltung eines Vorwurfs anmaßt, weder an sich selbst noch an andere, ein Anerkennen von Realitäten aus einer Stimmung des Bedauerns heraus. Der Satz “Es is heut’ so eine Schadheit in mir”, gesprochen von der jungen Romy Schneider, oder auch von der Cissy Kraner. “Schadheit” ist schon in Wörterbüchern von 1830 in der Bedeutung “Schadhaftigkeit” belegt, und ich reklamiere im mindesten Doppeldeutigkeit: ja, da ist was schadhaft, und das ist bedauerlich, und nicht mehr.

Es gibt immer ein andererseits, in jede Richtung.

corporate Hirnederln

Wusstet ihr, dass Bully Herbig in einer Asterix-Verfilmung mitspielt?

Der japanische Protagonist in Wenders’ “Perfect Days” reinigt seine Tatami-Matten, indem er zerknülltes Zeitungspapier in Wasser (mit Reinigungsmittel?) tunkt und sie damit abreibt. Ich recherchiere dieser Reinigungsmethode erfolglos hinterher.

Stay, that’s what I meant to say.

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- 24 December 2023, 20:20 - katatonik

Wim Wenders, Perfect Days (Japan 2023, 123 min.)

[Drehbuch mit Takasaki Takuma]

Der Film war als Dokumentation über das Projekt “Tokyo Toilets” geplant, im Bezirk Shibuya 17 öffentliche Toiletten von 16 namhaften Architekt*innen gestalten zu lassen (Überblick). Der Toilettenhersteller Toto arbeitete dazu mit der Nippon Foundation zusammen; das Projekt stand in Zusammenhang mit der Olympiade 2021. Es ging um Hebung hygienischer Standards, verbesserte Zugänglichkeit, auch Kommunikation japanischer Gastfreundschaft an die internationalen Gäste (zu einer Zeit, da es noch strikte Reisebeschränkungen wegen der SARS-CoV2-Pandemie gab, die auch in Japan ansässige Ausländer*innen betrafen, werden das Betroffene wohl eher als Verhöhnung wahrgenommen haben).

Es kam dann anders; es wurde ein anderer Film.

Bilder. Stadträume in Rhythmen des Arbeitsalltags eines Toilettenreinigers. Kameraflüge über Tokio, das in kleinteilig gebaute Blöcke zerfallende Tokio, durchzogen von den Bändern der Stadtautobahnen, immer, wenn gezeigt wird, wie der Toilettenreiniger Hirayama mit seinem kleinen Lieferwagen unterwegs zur Arbeit ist. Die Toiletten, das sind einige der 17 Architekt*innentoiletten. Wir sehen sie von außen, von innen, aus Blickwinkeln, die ihre architektonischen Qualitäten erscheinen lassen. Nie ostentativ verdreckt, gelegentlich unordentlich von verstreutem Müll. Hirayama in seinem blauen Overall, auf dem hinten “The Tokyo Toilet” steht, gebeugt über WC-Schüsseln, mit Spiegeln deren Unterseite prüfend, die Arschduschdüsen säubernd, die Knöpfe für deren Betätigung polierend, die Enden der neu eingelegten WC-Papier-Rollen zu Dreiecken faltend.

Das Verhalten um die Toiletten herum ist stillschweigend ritualisiert, wie so vieles in Japan. Muss oder möchte jemand jene Toilette benutzen, in der Hirayama tätig ist, so verlässt er sie so unauffällig und wenig störend wie möglich, stellt sich draußen an eine Wand, wartend, still, lässt dabei seinen Blick offen und mit der Bereitschaft zu staunen auf das fallen, was sich ihm zeigt: die Schattenspiele auf Wänden, das Sonnenlicht, wie es durch die Blätter von Bäumen fällt. Staunen: Sogar darüber, dass ihn andere mitunter das Befremden über seine Tätigkeit spüren lassen, scheint Hirayama zu staunen. Seine Mittagessen – Sandwiches aus dem konbini, dem convenience store – nimmt er stets auf einer Parkbank ein. Auch dabei blickt er auf Sonnenlicht, wie es durch die Blätter. Es gibt im Japanischen ein Wort dafür: komorebi, das erzählt übrigens der Abspann ganz am Ende in einer die Geduld der Abspannblicker*innen etwas belehrend belohnenden Geste.

Am Ende eines jeden von Hirayamas Tagen eine Sequenz in Schwarz-Weiß, komorebi, darin eingehaucht Restbilder des Tages. (Die Sequenzen gestaltet von Donata Wenders.) In Hirayamas Schrank Metallboxen mit Fotos von komorebi, jede Box steht für einen Monat. Es sind viele. Wo liegt die Grenze zwischen hingebungsvoller Aufmerksamkeit für das Detail und zwanghaftem Verhalten?

Jeden Morgen gießt Hirayama Setzlinge, die er in kleine Töpfchen, Teebecher, gepflanzt hat. Japanischer Ahorn, vermute ich. Wir sehen, wie er einen Setzling aus dem Park mitbringt, vor Ort sorgfältig mit etwas Erde in eine Papiertüte gesetzt, die er zusammengefaltet in seinem Overall mit sich trug.

In der Buchhandlung, wo Hirayama seine Lektüre kauft, ersteht er um 100 Yen second hand “Ki” (“Baum”) von Kōda Aya (1904—1990), einer Essayistin und Romanschriftstellerin. “Ki” ist, so finde ich später heraus, eine Sammlung von Essays, in der Kōda ihre Interaktionen mit Bäumen darlegt, die sie von Norden bis Süden, Hokkaido bis Yakushima, besucht hat. “Ich möchte Bäume treffen und mich von ihnen bewegen lassen”, wird Kōda auf Buchhändlerseiten zitiert, wo “Ki” angeboten wird. Es dürfte keine Übersetzung in eine europäische Sprache geben. Kōda Aya sei doch vernachlässigt, nicht, sagt die Buchändlerin. Sie freut sich, dass Hirayama das Buch kauft.

Stadträume in Rhythmen, Innenräume in Rhythmen. Hirayamas kleine Wohnung in einem schäbigen zweigeschossigen Bau wird wohl in Asakusa liegen. Von Asakusa sind es etwas mehr als 10 Kilometer nach Shibuya. In Asakusa sind viele der Aufnahmen von Hirayamas Alltags jenseits der Toilettenreinigung angesiedelt, einer Gegend mit starkem shitamachi -Feeling. Der Begriff shitamachi ist vage; historisch bezieht er sich auf die lower city, die Wohngegenden der kleinen Leute in Tokio, niedrig gelegen, daher häufiger überflutet als die Gegenden für Kaiser, Adel und andere Begüterte. Er hat heute kulturelle Konnotationen, steht für das Kleinteilige, Alte, für enge, oft kurvige Gassen, Handwerksläden und kleine Geschäfte, streunende Katzen; Dinge, die es dort noch gibt. Ozus Filme sind shitamachi -Filme, sie standen damals schon für eine Melancholie des Verschwindens einer Lebenswelt. Durch Asakusa bewegt sich Hirayama auf dem Fahrrad, aufrecht sitzend, wie in Japan zumeist Fahrrad gefahren wird, auf klapprigen Rädern mit wenigen Gängen, am Gehsteig, daher gezwungen langsam. Eine verkehrsplanerisch erzwungene Eleganz. Aber eben doch: Eleganz.

Audio tapes. Hirayama hört im Auto Musik von Kassette (Assoziation: Hamaguchi Ryusukes wunderbaren Film “Drive My Car”, 2021), Lou Reed, später in einer Szene mit Jüngeren auch Patti Smith. Die Kassette zieht sich als Motiv durch, als Gegenstand, mit dem die Jüngeren nicht wissen umzugehen (und einmal, in einer Situation, die für ihn ungewohnt ist, erwischt auch Hirayama die Einsteckrichtung falsch), der ihn als aus ihrer Zeit gefallen markiert. Sie steht aber auch für Veränderung, und für neue Möglichkeiten von Verbundenheit: Der jüngere Kollege bringt Hirayama und ein paar von dessen Kassetten in ein Geschäft für second hand tapes, er könnte dort seine Tapes um viel Geld verkaufen. (Natürlich interessiert ihn das nicht.) Die junge Frau, die der jüngere Kollege glaubt, mit Geld herumkriegen zu können, hört lieber mit Hirayama in dessen Lieferwagen Patti Smith von Kassette.

Männer. Abendessen in einem kleinen Restaurant in einer Unterführung eines Bahnhofs in Asakusa, wo andere Männer essen, in stillem Einvernehmen. Besuch eines öffentlichen Bades, wo andere Männer ihre alten, nackten Körper reinigen, bevor sie in das heiße Wasser steigen. Besuch eines Waschsalons, eines Fotogeschäftes, wohin Hirayama seine komorebi -Aufnahmen zum Entwickeln bringt, wo er neue Filme kauft. Besuch einer Bar, wo andere Männer trinken, Geplänkel, die Mama-san führt elegant die Unterhaltung; sie singt “House of the Rising Sun” auf Japanisch, auf Bitte eines Gastes. Nur einmal sehen wir einen Besuch eines buddhistischen Tempels. Andeutung eines vergangenen Todesfalls? Für den Tod ist in Japan der Buddhismus zuständig, für das Leben der Shintō, sagt man.

“Perfect Days” ist auch ein Film über Männer in Tokio, die älter werden, ihre Körper, ihre Einsamkeit, ihre Krankheiten, ihr Fallen aus Welten, in die sie nicht mehr zurückkönnen, ihr Fallen in Welten, die sie nicht verstehen. Es gibt nicht eine Welt, sagt Hirayama einmal zu seiner Nichte, die Welt besteht aus vielen Welten. Da ist eine wunderbare Szene, in der Hirayama nachts am Ufer des Edoflusses versucht, eine Zigarette zu rauchen. Man sieht ihm an, er hat das früher gemacht und lange nicht mehr. Er hustet. Ein zweiter Mann gesellt sich dazu, bittet ihn um eine Zigarette, auch das, spürt man, eine Geste der Kontaktaufnahme, die der Betreffende schon länger nicht mehr getätigt hat. Beide rauchen, beide husten. Es ist eine von mehreren Szenen, die sich ins Komische entwickeln, mit einem Humor, der nicht immer meiner ist.

Hirayamas Leben gerät aus dem Takt. Da ist eine Situation unerwarteter Überlastung in der Arbeit, da ist das plötzliche Auftauchen seiner Nichte Niko, die von zu Hause weggelaufen ist. Es führt dazu, dass er seinen Rhythmus verliert, an den gewohnten Orten Dinge aus dem Leben anderer sieht, die nicht für ihn bestimmt waren, und an anderen als den gewohnten Orten gewohnte Dinge tut. Lesen im Waschsalon, ohne dort zu waschen. Wie viel von seiner Selbstbescheidung ist Suche nach Sicherheit, wie viel Verweigerung, etwas außerhalb gewohnter Bahnen wahrzunehmen, wie viel Hilflosigkeit?

kondo wa kondo / ima wa ima, diesen Satz sagt Hirayama auf einer Brücke zu seiner Nichte. Sie möchte in dieser Situation eine Versicherung, eine Verabredung, ein Versprechen einer konkreten Zukunft. Er geht nicht weiter als kondo, “nächstes Mal”, sie so “wann ist nächstes Mal”, er darauf ebendiesen Satz: “nächstes Mal ist nächstes Mal / jetzt ist jetzt”. Beide auf Fahrrädern, sie wiederholt den Satz, er wiederholt ihn, beide wiederholen ihn, mehrmals, sie fahren in Schlangenlinien. (sabi, das Prinzip des Ephemeren aus der japanischen Ästhetik.) Die Verweigerung des Erklärens; Erklären allein durch Zeigen, das sagte Wenders einmal, hätte er bei Ozu gesehen und gelernt. Ritualisierte Gesten, wortlos, sparsam. Aussparungen, Ungesagtes, Zurückhaltung dem Leben gegenüber. Spontan war ich versucht zu meinen, den filmischen Umgang mit Ungesagtem hätte ich bei japanischen Regisseuren besser gesehen als in “Perfect Days”, subtiler. Ich möchte den Film gern noch einmal sehen.

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- 23 December 2023, 23:11 - katatonik

An den Mond und unter Silberfischchen (mit Sesselleiste)

An diesem einen Abend zu einer Finissage in den Echoraum, deren zugehörige Vernissage ich leider versäumen musste: Sounding Spomenik hieß die Ausstellung. “Spomenik” bedeutet im Serbokroatischen und Slowenischen “Denkmal, Monument.” Es gibt viele brutalistische Denkmäler im früheren Jugoslawien. Beton, Stahlrahmen, Metallplatten, Architekturen mit Hohlräumen. 2021 begann ein Sublabel des slowenischen Labels “Inexhaustible Editions” perspektivisch längerfristig die “sonic attributes” von Spomeniks zu erforschen, indem sie örtliche Musiker*innen ersuchten, dort zu spielen – ergo das Projekt “Sounding Spomenik”.

Zur Finissage traten Peter Ablinger und Biliana Voutchkova auf. Ablingers Komposition “An den Mond” für vokalisierende Violinist*innen, gespielt und vokalisiert von Voutchkova, erschien bei “Inexhaustible Editions” (hier auf Bandcamp). Geschichtete Violinklänge, geschichtete Stimmverläufe, Einsätze versetzt, miteinander verschlungene Linien, die einander hochtreiben, Ausflüge ins Schrille und Unstimmige. Dann performten Ablinger und Voutchkova noch gemeinsam “Das ökologische Manifest”, und ich erlebte Ablinger bei einem seiner sehr seltenen Live-Auftritte als hoch engagierten Papierzerknüller. Danach trank man noch gemütlich Wein und plauderte; es ist dies ein Ort, wo man Wert auf guten und preisgünstigen Wein legt und was zum Plaudern hat. Über Musik, klar, aber auch über Weinanbau und Bienenfresser zum Beispiel, oder über die Grundstücke an den nahen Westbahngleisen, und was damit geschehen wird — ob dort ein Park entstehen kann, was die Bezirksverwaltung möchte, was die Anwohner*innen in diesem dicht verbauten, grünfreien Bezirk gerne möchten, oder Wohnbauten, was die ÖBB möchten, oder zumindest Teile davon, und denen gehört der Grund. Oder über Mathematikaufgaben, die man mit Söhnen macht, darüber kann man da auch plaudern.

Karolina Preuschl macht in Wien bildende Kunst und Musik. Im September sah ich ein Konzert von ihr im Echoraum, Stimme, Klavier, Elektronik; sehr gute Texte, alltagsgegründete Poesie, durch die Strategie der abwandelnden Wiederholung verfremdet, unglaublich kräftige Stimme, unglaublich kraftvolle Performerin. Der Text zum Track Sesselleiste (2020), den sie als Coco Béchamel mit Lukas König performt, ist ein gutes Beispiel dafür. Man würde hinter diesem Titel nicht unbedingt ein Sprachkunstmusikstück zur österreichischen Vergangenheitsbewältigung erwarten, aber das ist es, und zwar ein auf abgründige Weise großartiges.

Karo Preuschl war nun einen Monat lang “Artist in residence” in den Westbahnstudios, einem Aufnahmestudio in einem Hinterhofgewerbetrakt des 15. Bezirks, das sich neu aufstellt; es gibt schon länger gelegentlich Konzerte da. Gestern präsentierte sie, was sie in residence erarbeitet hat. Auch dazu gab es guten und preisgünstigen Wein, auf den man dort Wert legt.

Sie begann mit sehr konzentriertem Spiel am Flügel. Dann ertönte ein Husten, und du glaubst, es ist jemand im Raum, aber nein, es kam aus den Lautsprechern. Es war der Anfang einer Strecke mit Hustensamples, das wird langsam klar, eine gut gesetzte Pointe in dieser Zeit, wo gefühlt alle husten, eine Pointe, die genauso lange dauerte, wie sie dauern musste. (Preuschl hat auch einen sehr guten Sinn für Timing.) Husten als Rhythmusgeber, er wird dann zu einem tiefen, kehligen Stöhnen, wie man es aus Filmen mit nicht-menschlichen, nicht-tierischen Lebewesen der bedrohlichen Art kennt. Wechsel zu schwirrender Elektronik. Dann ungemein starker Gesang ausschließlich mit Hall als Begleitung, punktiert durch kraftvolles Stampfen des Mikrofonständers auf den Boden. Der Text handelt von einem Buch, in das sie etwas schreibt, und mit dem sie Silberfische erschlägt. Von Liebe, über die sie in das Buch schreibt, von den Silberfischen, die sie erschlagen hat, bevor dann Silberfischfallen aufgestellt wurden, und das macht naturgemäß etwas mit der Liebe, wenn sie keine Silberfische mehr erschlägt.

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