Nichts muss so bleiben, wie man glaubt, dass es wäre
Vor eineinhalb Monaten hatten wir sie aus dem Krankenhaus entführt, im Rollstuhl, wenige Tage vor der Operation. Sie wollte den Hund sehen, der Hund durfte natürlich nicht ins Krankenhaus hinein, also rollte der Elfjährige sie im Rollstuhl nach unten, nach draußen, und dann war es recht windig, ich lieh ihr meinen Schal, den roten, und eins gab das andere, und so rollten wir, ausgelassen, in ein nahegelegenes Café, mit dem Hund. Der Elfjährige, erst noch so ernst und schweigsam, er taute auf, und das Gespräch ging so hin und so her, erstaunlich, wie sie heute schon in Jugendfußballvereinen Videoanalysen machen, mit Drohnen und so, sowas, und was willst du denn in deinem Schulpraktikum machen, echt, zur Biologin ins Labor?
Das Gespräch ging über das Thema hinweg, manchmal auch daran rührend, ja. Es wurde viel fotografiert, er, der Mann, ruhig, so darauf achtend, dass nichts passierte, dass alle zufrieden waren, er hatte das Handy immer im Anschlag. Man wusste nicht, damals, ob sie in ein paar Tagen noch sprechen, denken, alles bewegen können würde, was sie nun bewegen konnte. Die Furcht war am Tisch voller Tees und Kaffees und Nutellapalatschinken, und sie sprach sie dann auch aus, in Fragen, die niemand beantworten konnte und die mit “glaubst du, dass ich jemals” begannen. Sie neigt dazu, ihr Gegenüber zu überfordern, im Gespräch immer etwas zu viel zu erfragen, zu erwarten, so ist sie. Sie kann auch heute noch sprechen, denken, und alles bewegen; es ging in der Hinsicht gut aus, aber in der anderen nicht, denn jetzt ist ein deutliches Krankheitsbild da. Eines von denen, bei denen du weißt, aber nicht weißt, du weißt, nicht mehr lange, jedenfalls nicht mehr so lange, wie du möchtest, aber du weißt nicht, wie lange, und vor allem nicht, wie.
Sie lud Leute ein, so eineinhalb Monate später. Sie sang. Es war Hauskonzert angekündigt gewesen, formloses Herumhocken, Schlürfen und Knabbern, und dazu Hauskonzert; die Klavierlehrerin des Elfjährigen spielte, sie sang. Sie hatte das Singen entdeckt, mittlerweile, die Klavierlehrerin hatte ihr eine Gesangslehrerin empfohlen. Sie sang an diesem Abend entgegen den Empfehlungen der Lehrerin, denn die Lehrerin vertrat die Meinung, sie müsse ihre Stimme erst noch finden, sie sei noch in ihrem Körper gefangen und müsse gefunden, befreit, entdeckt, entwickelt werden. Aber sie wollte singen an diesem Abend, deutschsprachige Lieder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und noch etwas Gounod, alles mit Klavierbegleitung. Sie begann mit “Kauf’ dir einen neuen Luftballon”, komponiert von Anton Profes, als Teil des Filmes “Der weiße Traum” (1943), ein Eisrevuefilm, der in Wien spielt. Ein Lied, das ermuntert, Träume der offensichtlich unrealisierbaren Art zu verfolgen, ihnen nachzugehen, sie zumindest nicht aus den Augen zu lassen; man kann da viel hineindeuten, zumal, wenn man den Kriegszusammenhang bedenkt, den Faschismuszusammenhang, in dem das Lied enstand. Es gibt davon eine Remix-Version mit leicht erweitertem Text. Wo man vor Wut fast aus der Haut fahrn könnt. Dann denkt man manchmal: Ach, wär das schön, Wie ein Ballon jetzt in die Luft zu gehn. Den Wut-Teil, der im ursprünglichen Text fehlt, den singt sie besonders überzeugend. Der Körper als Werkzeug der Wut und der Träume. Das ist in diesem Moment sehr stimmig.
Der Elfjährige, er spielte dann noch Trompete, später, schon gegen zehn, die Nachbarn, nun ja, aber gut, spiel was. Es war nichts Konkretes, melodiöse Phrasen eher, angedeutete Musik, der Hund, der zu seinen Füßen lag, knurrte erst, dann heulte er mit, und alle lachten.
I never felt so welcome in a public toilet (Beijing, September 2024)
Am späten Nachmittag dieses einen, langen Gehtages kam ich in Gulou zu einem Café; es lag an etwas, das aussah wie ein Platz, abseits der breiten, geschäftigen Straße von Ost nach West; es war jedenfalls eine rein zufällige Öffnung in den blockartigen Strukturen der Stadt, die keine Plätze vorsieht. Eigentlich suchte ich eine bestimmte Cocktailbar, von der ich auf WeChat gelesen hatte, fand sie aber nicht, weil ihr Straßeneingang noch verschlossen war. Es war ja noch früh. Die Kellnerin des Cafés jedenfalls antwortete auf meine gestisch vorgetragene Frage nach Alkohol mit einer Geste in einen angrenzenden Raum, der wie eine Höhle anmutete. Eine fein polierte Höhle. Eine anheimelnde Höhle. Das war die gesuchte Bar.
Eine Barfrau war bereits aktiv, sie wirkte streng mit sehr glatt zurückgestrichenen Haar. Pferdeschwanz. Der Martini, den ich dann wählte, sei recht stark, warnte die Barfrau. Er war angenehm bitter, bestand aus Martini, Sherry, Gin, Bilouchun (Grüntee) und einem großen Eiswürfel, im Gaiwan serviert. (Monate später lerne ich in einer Bar in Wien, dass die Herstellung dieser Eiswürfel keineswegs trivial sei, man würde sie hier bei einem Speziallieferanten bestellen, weil das Handling sonst zu aufwändig wäre.) Sehr kleine Schlucke, denn das Zeug ist tatsächlich recht stark. Jeder Schluck schmeckt anders, während das Eis langsam in den Cocktail schmilzt. Hinter der Bar treffen vier Leute Vorbereitungen für die Nacht. Sie schneiden und reiben; sie laufen hin und her, und zwar wirklich viel; sie gähnen. Der Alkohol fährt in die Blutbahnen und lässt die Szenerie wie ein Schauspiel wirken.
Als ich das Lokal verlasse, ist es schon dunkel; es wird hier ja schon früh dunkel. Eine öffentliche Toilette, von der es hier viele gibt, vermutlich auch, wie C., die italienische Kollegin meinte, weil es in den Hutongs eben keine privaten gäbe. In der Damentoilette nur dezent abgegrenzte Verschläge, keine Türen. Ich zögere instinktiv kurz, doch dann sagt eine Dame mittleren Alters mit herzlichem Lachen laut “Please come in!”, während sie ihre Hose hochzieht. I never felt so welcome in a public toilet.
Nichts will sich einladend anfühlen, was nach Nacht wirkt, gerade noch aber, was zum Tag gehört. Ich gehe in einen Milch- und Brotladen, weil da alle hineingehen, vor allem Frauen. Es gibt dort Croissants und ähnliches Gebäck, süß oder mit Würsten drin, Durian-Milch-Creme im Kühlregal. Und wenn man um diese Buffets herumgegangen ist, steht man plötzlich vor einem Glasschrank mit sauber gespülten Flaschen, die sich die Frauen herausnehmen, und dann dürfen sie aus einem weiß emaillierten Zapfhahn Milch in die Flaschen füllen, unter Anleitung, so nötig. Spitze Schreie der Begeisterung. Es gibt Gespräche mit weiß gekleideten Milchexpertinnen hinter dem Zapfhahn, Milchgespräche, vermute ich. An der Kasse packen weiß gekleidete Frauen mit Hygieneplastikhäubchen über ihrem schwarzen Haar die Milchflaschen vor den Augen der vergnügt jauchzenden Kundinnen in Kühltaschen. Ich nehme nur eines der dicken “Beijinger Joghurts” (Běijīng suānnǎi) mit den blauen Papierhäubchen, auch Nai lao genannt. Nailao ist eigentlich ein fermentiertes Milchgetränk, aus mit Nüssen, Rosinen, Zucker und Reiswein aufgekochter Milch, kredenzt in Keramikbechern mit blauweißen Papierhäubchen, durch einen Strohhalm getrunken. Es gibt sie überall, die Nailao-Becher. Hier gibt mir die Kassadame für meinen Nailao-Becher an der Kassa extra eine Kühltasche. Ich möchte sie spontan als zu groß gewählt zurückweisen, nehme sie dann aber doch, als Souvenir.
Dann doch noch, obwohl müde und eh schon leicht angetrunken, in die andere Bar, die namens “FLAVOUR”, von der ich auf WeChat gelesen hatte. Sie lag in einer Nebengasse, etwas abgelegen von anderen Lokalitäten und Geschäften, im Dunkeln. Kühler, unprätentiöser Stil, wie so ein New-Wave-Lokal im Wien der ausgehenden 1980er Jahre. Karierter Boden, Sie wissen schon. Eine junge Frau hinter der Bar, unprätentiös, bei der Cocktailzubereitung sehr konzentriert und sorgfältig. Die Cocktails tragen poetische Namen, ihre Zusammensetzung erzählt von Sorgfalt und Liebe zum selbst Angesetzten. Ich nehme einen “Morning, Beijing” aus mit Sesam-Erdnussbutter-Sauce angesetztem Whisky, Shaoxing-Wein, Walnüssen, Pistazien und Zitrone; später koste ich noch ihren selbst angesetzten Limoncello. Die junge Frau spricht wenig Englisch, ich übe mein Duolingo-Mandarin. Die Screenshots einzelner Sätze aus der Duolingo-App, mit gezeichneten Charakteren, die kulturell mit der erlernten Sprache nichts zu tun haben und einen sehr feinen Verfremdungseffekt erzeugen, sind übrigens total leiwande Conversation Opener. Die Leute lachen sich einen Ast ab und nehmen das tollpatschige Bemühen, sich ihrer Sprache anzunähern, erfreut zur Kenntnis. Die Barkeeperin und ich, wir behelfen uns dann auch noch mit unseren jeweiligen Übersetzungs-Apps.
Auf diese Weise erkenne ich allmählich, dass alle Cocktails nach Filmen benannt sind, deren Titel sich mir aus dem Mandarin nicht unmittelbar erschließen. Aber man findet sowas ja mit seinem Endgerät. Eric Rohmers “Le rayon vert”, Ingmar Bergmans “Wilde Erdbeeren”. Der “Morning, Beijing” bezieht sich auf “Beijing ni zao” (1990, Regie Nuanxing Zhang), den ich nicht kenne; IMDB gibt als Inhalt an “A female bus conductor falls into confusion of career and love when getting along with three young men.” Ich nehme noch einen “rayon vert”; er besteht aus Gin, Klebreiswein, Mezcal, Zuckererbsen- und Schraubenpalmenextrakt (Pandanus amaryllifolius) und Zitrone (und einem großen Eiswürfel). Die quadratischen Untersetzer, emailliert, mit modernistischen Bildern bemalt, sind übrigens nach Motiven aus den cocktailnamensgebenden Filmen gestaltet.
Die Barkeeperin, Barbetreiberin war noch nie in Europa, aber in der Türkei. Türkei? Ja, da wären sie hingeflogen, und das, wovon sie mir begeistert erzählen möchte, stellt sich nach einigen Anläufen als Drachenfliegen heraus. Sie wären in die Türkei gereist, weil der Flug dahin billig war, und dort hätten sie Drachenfliegen probiert, das sei toll gewesen. Kulturelle Referenzen, Erfahrungen, Andeutungen; ich erzähle von meiner ersten Chinareise 1989, da war sie natürlich noch nicht geboren, woraus sich natürlich Gesprächswendungen ergeben, die als politische Andeutungen verstanden werden könnten, aber weder sie noch ich folgen den Andeutungen. Es scheint, als wüssten wir beide nur zu gut, worüber wir nicht reden können.
Before breakfast (Beijing, September 2024)
Beijing in Bildern: aus der Kleeblattkreuzung
Abends versuchte ich immer, noch spazieren zu gehen. Wir aßen meist recht früh zu Abend, in der Kantine des Forschungszentrums, die mittags gut gefüllt war, abends dagegen nur von uns drei bis fünf Europafuzzis in Gegenwart einer Mitarbeiterin. Wir hatten dann den ganzen Tag über, mit Ausnahme der Mittagspause, über Kopien von Handschriften gesessen, die wahrscheinlich seit gut Tausend Jahren niemand mehr genau gelesen hatte. Das war und ist etwas Besonderes, doch das Besondere rückte in die Ferne unserer Aufmerksamkeit, als wir versuchten, in der für uns begrenzten Zeit so viel wie möglich zu entziffern, herauszufinden, zu erkennen, mit Müdigkeit kämpfend hier, Rhythmen zur effizienten Muskelentspannung findend dort.
Wenn die Kopien dann eingesammelt waren, glitten wir langsam aus der konzentrierten Stille solitärer Gebeugtheit in raunendes Plaudern, die Muskeln bewegten und entspannten sich, bis irgend jemand lachte, dann lachten bald alle. Das war meistens noch, bevor wir in den Aufzug stiegen. Das Abendessen dann in der bis auf die gerne lachende Kantinenfrau und gelegentlich ein paar Männer, deren Hierseinsgrund ich nie verstand (es schien nicht nur die Kantinenfrau zu sein), leeren Kantine. Es war dann noch möglich, in die Abenddämmerung hinein spazieren zu gehen, gerade noch, denn es wurde früh dunkel.
Ich gewann keinen Sinn für den Rhythmus der Stadt. Rush hour schien immer zu sein, jedenfalls immer, wenn wir irgendwohin gingen oder fuhren, zu der einen Universität, zu der anderen Sehenswürdigkeit. Es waren jedenfalls in den Abenddämmerungen viele Leute unterwegs, wenn ich die mehrspurige Stadtautobahn entlang nach Westen ging, die sich bald mit der anderen Stadtautobahn nach Norden kreuzte, in einer Kleeblattkreuzung. Stadtautobahn, Bundesstraße, was immer, kein Sinn für Dimensionen; mehrspurig jedenfalls und breit.
Ich blieb da, in der Kleeblattkreuzung, gerne stehen, orientierungslos zwischen Grünflächen und jenen Fahrbahnen, die die Kleblattränder markierten. Sah zu, wie andere Fußgänger*innen genauso wie ich die Ränder überquerten. Sie schienen mir alle zu spazieren, zu schlendern, so mit Hände hinterm Rücken, Taschen baumelnd irgendwo vom Körper. Männer in T-Shirt und Hose, auch ganz ohne Tasche, gepäcklose Menschen mitten in der Stadt ohne erkennbaren Aufenthaltszweck, da, in der Kleeblattschlinge in der Dämmerung. Am Rande der Fahrbahn ein recht breiter Zweiradstreifen, wie fast überall, der von Fahrrädern und Motorrädern benützt wurde. Kleine Leihfahrräder in knallgelb und knallblau, Legobikes, Mountainbikes, urbane Klappräder à la Brompton. Viele E-Motorroller, Erwachsene mit Kindern drauf, nicht diese Nepal- oder Vietnam-Bilder mit den ganzen Familien auf einem Roller, nicht diese Wien-Bilder mit der einen Person pro Fahrgerät. Manchmal fuhr jemand gegen die vorgesehene Richtung, da, auf der Zweiradspur, aber das schien niemanden zu stören. Es schien überhaupt ein Raum zu sein, da, zwischen den Spuren, wo niemanden etwas störte an der Bewegung der anderen, man bewegte sich einfach, ohne sich an etwas zu stören, ohne etwas zu genießen. Ich bemerkte dort keine Überwachungskameras, aber es kann sein, dass ich sie einfach nicht mehr sah; es gab ja so viele in der Stadt, dass sie zu bemerken nicht mehr angemessen zu sein schien.
Hands on
Eine der Birnen des fünfarmigen Lüsters ist durchgebrannt. Gegenüber in einer Polsternische zwei Verkrochene, ein Mann und eine Frau. Hochgehoben das Buch vor seinem Gesicht, die Fingerknöchel gerötet vor Anspannung. Links befassen sich die Hände einer älteren Dame mit der Teekanne, dem Teebeutel, der Tasse, dem Löffel, dem Tee, sichtbar, wenn die Finger ihrer Tochter den Blick freigeben, nachdem sie Wischbewegungen am Endgerät beendet haben, und bevor sie zu neuen ansetzen. Rechts fährt eine Gabel in Kaiserschmarrn.
Lebensräume
Im Forschneritschpark, einem Beserlpark von recht überschaubarer Größe, steht an diesem Samstag die Bezirks-ÖVP. Sie steht da mit einem alten VW-Bus, der zum Retro-Verbrennerfetisch der Partei passt. Der VW-Bus ist türkis, auch die T-Shirts der Handvoll Parteimänner und -frauen sind türkis, auch der Eisstand ist türkis, mit dem man Seelen anlocken möchte. Die Chancen, dass Seelen dieses Bezirks tatsächlich bei der Nationalratswahl im Herbst wählen, sind freilich nicht allzu groß. Im 15. Bezirk verfügen 44% der Bevölkerung im wahlfähigen Alter über kein Wahlrecht (Stand 2023), da sie keine österreichischen Staatsbürger sind; 19,2% davon sind EU-Bürger und dürfen auf Bezirksbene wählen.
Ein wohlgenährt wirkender Austrotürke, definitiv noch nicht im Wahlalter, nutzt seine Chance und holt sich ein Eis, das wohl gratis ausgegeben wird. Vielleicht ist auch das türkis. Ich überprüfe es nicht, denn mich hält eine unsichtbare Bannmeile von ÖVP-Ständen fern, ebenso wie von den FPÖ-Ständen, die gelegentlich in der Halle des Meiselmarkts auftauchen; da sieht man immer Menschen — nie viele —, denen man ohne weiteres Bluthochdruck und Alkoholprobleme zutrauen würde, und dass sie nach spätestens drei Sätzen irgendwelche Ungeheuerlichkeiten sagen. Eine junge Frau nähert sich ebenfalls dem ÖVP-Eisstand, sonst ist da niemand, weit und breit, denn es ist August und Samstag Vormittag. Die meisten Leute sind weg und die, die da sind, sind am Meiselmarkt ein Stück weiter den Hügel hinan einkaufen. Wer immer von den türkisen Bazis die Idee hatte, den Stand im Forschneritschpark aufzustellen, war schlecht beraten, wenigstens für diese Uhrzeit.
Im Bezirk neuerdings auch mehr Tourist*innen. So kommt es mir vor; auf meinen rekonvaleszenzbedingt bezirksbeschränkten Spaziergängen sehe ich immer wieder Menschen mit Rucksäcken, Rollkoffern, Menschen, die jetzt nicht gerade wie Ansässige beim Abreisen aussehen. In der Apotheke unlängst ein Paar mittleren Alters aus einem skandinavischen Land; er sprach deutsch und übernahm die Konversation. Was mit Abführmitteln, sie wurden fachkundig beraten. In der Bäckerei, die übrigens im Ruf steht, einem der FPÖ nicht abgeneigten Herrn zu gehören, der diese nun aber an einen Türken verkauft haben soll, wobei er, der Meisterbäcker, aber noch weiter bäckt, hervorragendes Brot übrigens, wo aber immer schon Chinesinnen oder Türkinnen hinter der Budel standen, weisst noch, die Hantige da, die war dann aber irgendwann nicht mehr da. Die andere, die Freundliche und G’schwinde, aber auch nicht.
Also jedenfalls: In dieser Bäckerei, die ihr Sortiment aus verschiedenen Kornbroten und -weckerln und sogar veganen süßen Backwaren zunächst beibehalten hat und jetzt nicht sofort, wie manche befürchteten, auf Baklava umgeschwenkt ist, von dem’s eh schon so viel gibt in der Gegend — also in dieser Bäckerei geraten wir an diesem Samstag in einen offenbar schon etwas länger andauernden, gelegentlich eruptierenden Disput zwischen der austrotürkischen oder -balkanesischen Verkäuferin und einer spanischen Touristin. Die Spanierin, eine sehr fein zurechtgemachte Dame, sitzt mit zwei jungen, auch sorgfältig zurechtgemachten Mädels, bei Café con leche (Melange) im Bäckereigastgarten vor der Tür. Gerade, als wir eintreffen, springt sie plötzlich auf und trägt einen Schoko-Topfen-Muffin (ausgezeichnet, übrigens) zur Budel, hält ihn der Verkäuferin vor, bis fast unter die Nase, entrüstet. Es gäbe halt Bienen im Garten, sagt die Verkäuferin in einer offensichtlich bereits seit längerem eingenommenen Pose der Patzigkeit, da könne man doch nichts dafür.
Daraus schließe ich, dass der Muffin und die Spanierinnen von Wespen belästigt wurden — es ist ja die Saison — und die Spanierinnen dies als Beschwerdegrund behandelten, eine Sicht der Dinge, die die Verkäuferin nicht teilte. Die Spanierin zog sich dann gleich wieder zurück zu den Mädels; ein paar Minuten später kam sie wieder und ließ ihre Google-Translator-App in perfektem Deutsch fragen, “was kostet der Milchkaffee?”. Sie schien die Antwort (“vier Euro”), die ihr mit Fingern, sowie zusätzlich auf Englisch und auf Spanisch vermittelt wurde, nicht zufriedenstellend zu finden und zog sich wortlos, jedoch weiterhin indigniert, erneut zurück zu den Mädels. Eine nächste Eruption schien unvermeidlich. Wir entkamen ihr durch raschen Broterwerb.
Ein weiterer Beserlpark in der Gegend wurde aufwändig neugestaltet, inklusive im Vorfeld durchgeführter Umfrage unter den Anrainer*innen. Der Park ist jetzt kleinteiliger, zusätzlich zu Ballspielkäfig (renoviert) und Bankerln (vermehrt) gibt es Tischtennistische, Fitnessgeräte, ein Kinderspielareal mit Rutsche und Schaukeln und weichem Baumrindenboden, Hängematten, Tische mit Bänken. Schläuche für die Baumbewässerung. Es gibt auch ein Öklo, eine ökologische österreichische Toiletteninnovation, die sich in Wiener Parks immer häufiger findet. Ich hätte die ÖVP-Bazis fragen sollen, was sie von Öklos halten. Wahrscheinlich wären sie implodiert, den Konflikt zwischen der Notwendigkeit, sich für ein innovatives österreichisches Unternehmen auszusprechen, dem Hass auf alles Ökologische und auf die Rastalocken des Öklo-Typen, das hätten sie nicht ausgehalten.
Letzte Woche spazierte in diesem Beserlpark zu zwei recht unterschiedlichen Tageszeiten ein Chinese auf und ab, sehr hektisch in sein Telefon sprechend. Ein Tourist? An diesem Samstag stelle ich mir vor, es wäre Shao gewesen. “Shao” ist jener Duolingo-Account, der aktuell in der “Ruby League” einen Platz vor mir liegt. Man steigt in dieser recht geschickt gamifzierten Sprachlern-App ja von einer nach einem Edelstein benannten Liga in die nächste auf, indem man durch Lektionen unterschiedlicher Art (optional unterstützt durch In-App-Käufe) Punkte erwirbt. User*in Shao, mutmaßlich mit einer chinesischen Sprache aufgewachsen (genau weiß man das nicht, der Account ist recht privat), lernt Deutsch, und ich finde das so spontan ziemlich unfair, denn ich lerne Mandarin und vermute, die Punktezahl ist bei Duolingo standardisiert. Mandarin zu lernen muss aber für mich als mit Sprachen mit Alphabetverwendung Aufgewachsene schon wegen des Schriftsystems, wegen der riesigen Anzahl von Schriftzeichen, so viel schwieriger sein als Deutsch für Shao.
Dann erinnere ich mich an die erstaunlichen Fehler, die Japaner*innen in der Verwendung von Alphabeten machen können, wie schwer es für sie sein kann, für Unsereine sehr simple Zeichenketten zu lesen. Der Fremdheitsgrad ist wohl gewaltig; Lernschwellen haben offenbar nicht nur mit Stoffmenge zu tun. Shao ist jedenfalls top, uneinholbar voran. Das spornt mich an, während ich Sätze lese, übersetze und nachspreche, die sowas bedeuten wie “Do your father and you like to buy things?”, “The day after tomorrow, I want to go to the park, but it will be windy” oder “Kevin will go to the Forbidden City to study Chinese history”. Ja, es gibt dort Kevin (“Kaiwen”) und Mary (“Mali”). Ich hätte der Bäckereispanierin ohne weiteres auf Mandarin antworten können, so weit bin ich schon nach einem knapp 30tägigen Streak. Jedenfalls finde ich die Vorstellung, im öffentlichen Raum auf den ersten Blick hektisch und manisch in ihr Telefon Hörende oder Sprechende könnten dies zum Zwecke des Wissenserwerbs tun, sehr ansprechend. Gern auch zur Begehrenspflege, warum auch nicht.
In diesem Beserlpark ist seit der Neugestaltung fast immer irgendwer, und man sieht das auch, da der Park von umgebenden Büschen befreit wurde (was die Spatzenpopulationen weniger gut fanden, sie sind verschwunden) und somit einsichtiger ist, durchlässiger gegenüber der Umgebung. Pensis hocken im Schatten, Jungeltern tun sich mit Kiddies am Spielplatz um, Leute spielen Tischtennis. Im Käfig gibt es ferienzeitlich bedingt mitunter Jonglier-, Balancier- und Ballspieltrainingsangebote für die Kids in der Umgebung, die da auch tatsächlich hingehen. In den Hängematten (aus Seilen) ruhen sich Leute gern aus, die Fitnessgeräte werden von Kids beklettert oder halbherzig von älteren Menschen bewegt, denen man Bluthochdruck oder Alkoholprobleme zutraut, Siewissenschon. Auch hier wären Ungeheuerlichkeiten nach drei Sätzen durchaus im Bereich der Möglichkeit, freilich mit anderem Hintergrund (Balkan).
Manchmal laufen Typen herum, die etwas entrückter wirken, schäbiger gekleidet, dünklere Hautfarbe, da denkst du dann spontan an das, was vom Yppenplatz berichtet wird, mehr Drogenhandel, damit verbundene Brutalitäten, überhaupt, Bandenkriege, Tschetschenen, Syrer. Du fragst dich, ist der Typ da ein Vorbote, kommst dir dann gleich vor wie so ein neighbourhood vigilante, denkst, naja, so ein Blödsinn, er kann doch auch einfach einer sein, dem es ganz ohne Beschaffungskriminalität dreckig geht, gesellschaftsentwicklungsmäßig keineswegs unwahrscheinlich, wäre ich in der Situation, würde ich einen adrett gestalteten Beserlpark mit Öklo auch nicht schlecht finden. Es muss doch nicht gleich.
Not ready for Gebrechlichkeit quite yet
Es beginnt mit irgend etwas, das nicht stimmt. Wenn schon wo länger etwas immer wieder nicht stimmt, braucht es eine gewisse Schwelle, die überschritten werden muss, also, es muss etwas wirklich und überdeutlich nicht mehr stimmen. Ein neuer Schmerz in einer eh schon fürs Immerwiederzwacken bekannten Region, ein unerwartetes Ausstrahlen. Etwas, das nicht nur ein, zwei Mal den Griff zu Schmerzmitteln verlangt, die nichts nützen; etwas, das Arztbesuche motiviert. Es gibt bei solchen Dingen Behandlungsprotokolle. Diagnosevorgänge und Behandlungsoptionen werden durchgegangen, Schritt für Schritt, da vielfach erprobt, vielfach bewährt. Von Röntgen über MRT bis zu Schmerzmittelinfusionen, Physiotherapie, Infiltrationen. So ist das Behandlungsprotokoll bei einer Facettengelenkszyste, die das MRT offenbart. Eine Zyste, die sich in diesem Fall im Wirbelgelenk gebildet hat, sich mal mit mehr, mal mit weniger Flüssigkeit füllt und bei stärkerem Füllungsgrad leider auf die Nervenwurzel drückt.
Es gab Fortschritt durch das Behandlungsprotokoll, gewiss. So schien es. Dieser harte, stechende Schmerz, das Messer, das durch den unteren Rücken fuhr, im Oberschenkel unterging und im Unterschenkel wieder zu Tage trat, war nach der ersten bildwandlergeleiteten Infiltration nicht mehr anhaltend. Das Messer schnitt nur noch intermittierend, gelegentlich von einem Kribbeln begleitet, das schon fast herzig war. Bei der bildwandlergeleiteten Infiltration wird die Bewegung der Injektionsnadel, die etwas Betäubungsmittel und hauptsächlich ein Glukocortikoid verspritzt, von einem Röntgengerät begleitet; dadurch wird die Lokalisierung präziser. Doktor F., Meisterin des Verfahrens ebenso wie der Navigation der etwas angespannten Ressourcen und Systeme der Klinik Penzing, meinte angesichts des Fortschritts, sie würde nun nicht noch einmal infiltrieren. Ich solle bis auf Weiteres sehen, wie ich mit Physiotherapie weiterkäme, und, wenn doch wieder stärkere Schmerzen aufträten, mich in der Praxis melden. Operieren würde sie nicht, denn Zysten würden eh wiederkommen, das hätte keinen Sinn. Zysten seien dynamisch, mal größer, mal kleiner, da könne alles Mögliche passieren, sie würden auch spontan verschwinden, das käme vor. MRTs seien immer nur Momentaufnahmen.
Sie sei ein visueller Typ, sagte sie, nebenbei, beim Blick auf ein weiteres, Instabilitäten abklärendes Röntgenbild. Ich sei eher ein analytischer Typ, entgegnete ich, etwas scharf im Ton, gewiss. Eine Krankheit, bei der die Ursache (Zyste) bekannt ist, könne doch im Grunde nur durch die Beseitigung der Ursache angegangen werden. Ihre Resistenz verhieß mir, dass der Kausalzusammenhang ihrer Einschätzung nach komplizierter war. Dass sie die Ursachen der Beschwerden für nicht verlässlich zu entfernen hielt (Degeneration) und ich mich womöglich auf reine Schmerztherapie einstellen sollte. Je nun, I’m not ready for Gebrechlichkeit quite yet. Meine gewiss laienhaften Internetrecherchen ergaben andere Optionen: Bei Facettengelenkszysten sei eine konservative Therapie, wie ich sie erfahren hatte, in vielen Fällen wirkungslos. Zur Operation wurde auf diversen Klinikwebseiten durchwegs geraten. Ich las dies mit Salzstreuer; gewiss dienen generische Therapieempfehlungen immer auch den Eigeninteressen von Kliniken (Ressourcenplanung!), aber Skepsis gegenüber der konservativen Therapie blieb. Einmal, als ich über starke Schmerzen klagte, in der Praxis weinte, wurde Doktor F. dann recht deutlich, von wegen Ressourcenplanung: Einen OP-Termin zu kriegen sei im Grunde chancenlos, solange man so wie ich noch gehen, sogar schwimmen oder radfahren könne. Höllischer Schmerz nachts und beim Sitzen, das war einfach nicht genug. Sie sagte das nicht so, aber in so many words. Die Prämisse wurde nicht ausgesprochen, schien mir aber offensichtlich: not in the public health system, honey. Ressourcen sind beschränkt, und da sind zig andere da, denen es schlechter geht. Ich verstand das, aber es half mir nicht.
Die Ursachenanalyse musste geschärft werden. Ein Termin in einer Wirbelsäulensprechstunde, die eine Neurochirurgin und ein Neurologe gemeinsam abhalten. Blick auf die Bilder: Die Zyste sei riesig, die müsse weg, sagt die Chirurgin unverzüglich. Das war wenig überraschend, denn Chirurg*innen lösen Probleme nun einmal durch Schneiden. Es war dennoch erleichternd, weil ein Ausweg sichtbar wurde. Es wurde vorsorglich noch eine weitere bildwandlergestützte Infiltration gemacht, und zwar zwei Tage später. Welcome to the private health care system. Wenn diese Infiltration nichts brächte, solle ich sie am Sonntag anrufen, sagte die Chirurgin, dann könne man am Dienstag gleich operieren. Die Rezidivwahrscheinlichkeit liege übrigens unter 4 Prozent, sicher sehr niedrig, da auch keine Anzeichen von Instabilität der Wirbelsäule. Was sollte ich von der Infiltration erwarten? Eine 80prozentige Verbesserung sollte schon drin sein, sagt die Chirurgin. Sie sollten einen Zustand erreichen, mit dem Sie sich vorstellen können, auf längere Zeit leben zu können. Das ist bei jedem Patienten subjektiv. — Ich erreiche den Zustand nicht und begebe mich Dienstags um 08:00 nach Döbling.
Die Operation ist in einer dieser Wiener Kliniken mit Pavillon-Architektur angesetzt. Medizin und Krieg, darauf stößt man in Krankenhäusern mit längerer Geschichte ja andauernd; hier spricht die Gründungslegende davon, dass der Gründerarzt, um der im Feldzug von 1866 (Schlacht bei Königgrätz) als mangelhaft erkannten Wartung (!) der Verwundeten entgegenzuwirken, einen Verein gegründet hätte, der dann in den 1885 bezogenen Gebäuden eine nichtgeistliche Ausbildungsstätte für Krankenpflegerinnen und ein Spital ins Leben rief. Kronprinz Rudolf war Schirmherr, somit Rudolfinerverein. Theodor Billroth, Begründer der gerühmten Wiener Schule der Chirurgie, war auch dabei. In den Gängen der Pavillons überall historische Fotos, die meisten davon aus Kriegsjahren, Zwischenkriegsjahren, Vorkriegsjahren; keines nach 1939. Eindeutige Hierarchien und Funktionszuschreibungen: männliche Ärzte als Figuren der Autorität, denen die Schwestern untergeordnet sind. Schwestern als Bilder mütterlicher Sorge.
Nach dem “Anschluss” Österreichs 1938 wurde das Krankenhaus dem Deutschen Roten Kreuz unterstellt. Nach dem Krieg kamen Durststrecken, Neubauten, Abteilungserweiterungen, Ausbauten in den 1990er Jahren; die Krankenpflegeschule gibt es auch heute noch. Man erwirbt hier, am Campus Rudolfinerhaus, einen “Bachelor of Science in Health Studies”; die Pflegeschülerin, die gelegentlich meine Infusionen wechselt, ist von der Notwendigkeit eines Bachelors für den Beruf nicht so ganz überzeugt; ich versuche ihr zu erklären, wie sie davon profitieren würde. Von dem Fach verstehe ich ja nichts, aber in Österreich ist es immer besser, einen Abschluss mit Titel zu haben als keinen, und so ein Abschluss eröffne für zukünftige neue Berufsorientierungen, von denen sie jetzt vielleicht noch gar nichts ahnen würde, doch bestimmt neue Möglichkeiten. Das sei ja ein dynamisches Feld, da tue sich viel, und da würden gute junge Leute gebraucht. Denke ich mir da halt so, belehrend am Venentropf. Die junge Dame lauscht höflich und lächelt.
Die letzte Erweiterung des Gebäudes erfolgte 2018-2020; ich bin in einem der Pavillons untergebracht, der da recht frisch erbaut wurde, so als Green Building mit Bauteilkühlung und so (“Lassen’S die Balkontür lieber zu, die Kühlung ist recht schwach, und die Hitze kriegen’S nimmer raus aus’m Zimmer.”). Das Rudolfinerhaus ist eine Privatklinik. Alles ist sehr entspannt, die Pfleger*innen loben die Arbeitsbedingungen, ohne dass ich sie danach frage. Gut, es ist auch alles langsamer, manches wirkt wenig geölt und effizient, aber ich bin ja da, ich warte auf die abendliche Operation; ob der Internist nun um 14:00 oder um 15:00 vorbeikommt, ist eigentlich egal. Geschwindigkeit und präzise Zeitorganisation sind auch eine Reaktion auf Ressourcenknappheit. Damit kämpft man hier offenbar nicht, zumindest nicht für mich erkennbar.
Das Pflegeteam hier gleichermaßen wie in den öffentlichen Kliniken, die ich kenne, sehr multi, mit Männern und Frauen aus Kerala und Polen, Kärnten und Simmering; auch hier unter den jungen Pflegerinnen der Trend zum pink oder lila gefärbten Haupthaar. Das Kommunikationsklima subdued; man kriegt weniger Klatsch mit, es gibt weniger solidarisches Augenrollen unter Pfleger*innen, wie ich es in den Kliniken des Wiener Gesundheitsverbundes angesichts nicht erwartungskonformen Verhaltens gewisser Ärzte (waren immer Männer) erlebte. Es ist auch eine recht kleine Klinik im Vergleich: 156 Betten; das Wiener AKH hat 1.706, die Klinik Ottakring etwa 800. Die Einschleusung zur OP geht hier ratzfatz, es gibt keine Gelegenheit zur Systembeobachtung in riesigen Niemandsräumen wie im AKH. Es gibt auch nicht die beliebte Rudelvisite mit eifrigen Jungärzt*innen (und augenrollenden Pfleger*innen).
Der Anästhesist macht seine Arbeit formidabel, ich bin sofort weg und erwache dann euphorisch gestimmt zu einer recht plastischen Wiedergabe der sehr eingängigen K-Pop-Nummer “Smart” der Girl-Group Le Sserafim in meinem Hirn irgendwo am Strand, tanzend (YouTube Link). (Ich tanzte in meinem Leben nie an Stränden, übrigens.) Da ist die Chirurgin, die, noch am Strand erscheinend, sagt “alles gut verlaufen, alles draußen”, die dann auch noch persönlich den besorgt zu Hause sitzenden G. anruft. Da ist eine Pflegerin, die oft freundlich vorbeikommt, Vitalzeichen prüft, da ist die Blutdruckmanschette, die immer wieder von selbst anspringt. Und da ist das Papierhandtuch, das die Pflegerin an die Halteschlaufe über dem Bett hängt. Man würde danach neigen, nach Operationen flach zu atmen. Ich solle doch immer wieder versuchen, tief Luft zu holen und das Blatt zum Wehen zu bringen, das würde der Lunge guttun und den Brustraum öffnen. Ich lasse das Blatt die restlichen zweieinhalb Tage meines Aufenthalts hängen und blase es immer wieder an, auch, als ich es wahrscheinlich nicht mehr brauchen würde.
Es ist 23:00, als ich nach der OP aufs Zimmer gebracht werde, und ich habe wahnsinnigen Hunger, Narkose hin oder her; ich durfte ja außer Frühstück nichts. Vorausschauenderweise hatte Frau Isabella vom Hotelservice, so nennt sich das Essensservice hier, bei der Vorbesprechung meines Speiseplans für die nächsten Tage auch auf einem Abendessen für den Operationstag beharrt. “Wenn’s an Hunger ham, soit scho wos do sei.” So steht also ein Tablett mit verschiedenen Arten Hummus, Brot, Avocados und Tomaten im Zimmer bereit, und ich komme mir vor wie so ein durchpsychedelisierter Drogenhippie, der sich gegen Mitternacht im Rausch grinsend den Bauch vollschlägt, in der Küche der Döblinger Villa, die den reichen Eltern seines Kumpels gehört. Ich pflege meine Spleens und habe meine Utensilien zur Zubereitung des habituellen Matcha Latte dabei, ich brauch nur heißes Wasser und ein Kännchen Milch — oh, Sie können die auch warm machen? Aber gerne! Die Pflegerinnen aus Kärnten und Polen fragen interessiert nach, es folgen volksbildnerische Unterweisungen zum Thema Matcha und Mate, da gibt es Verwechslungsmöglichkeiten. Zeit zum Plaudern, auch das eine Ressource.
Die Entscheidung für die Operation, sie hatte auch einen Erfahrungshintergrund. Ich habe in den letzten Jahren mehrmals eine diagnostische Funktion der Chirurgie, nun ja, erlebt, die mir zuvor nicht so bewusst war: Beim Aufschneiden sehen Chirurg*innen Dinge, Gewächse im Körper, Ausmaße von Wucherungen, die die bildgebenden Verfahren trotz ihrer fantastischen Möglichkeiten nicht zeigen. So war es auch hier. Denn die Zyste hatte sich nicht nur weit enger an den Nerv geschmiegt und mit ihm verbunden, als man am MRT gesehen hatte (was die Wirksamkeit der konservativen Therapie stark einschränkte); unter ihr verbarg sich auch noch ein, wie die Chirurgin (Eltern aus Südindien, Kärntner Dialekt) charmant formulierte, “zerbröselter Bandscheibenvorfall”, dessen Reste sie einfach aufsaugen konnte. Auch deshalb: Eine Fortführung der konservativen Therapie wäre wirkungslos gewesen. Ich hätte die OP dann halt später gebraucht, nach weiteren starken Schmerzperioden. Im Übrigen stelle ich einen Zusammenhang zwischen dem “zerbröselten” Bandscheibenvorfall — von dem die Chirurgin sicherlich auch während der OP sprach, möglicherweise auch im Aufwachraum — und meinen Strandhalluzinationen her; ich kenne mein Unterbewusstsein. Chirurg*innen freuen sich übrigens so süß, wenn sie etwas Unerwartetes vorfinden, das sie dann — sogar noch innerhalb der geplanten Zeit, es hat gar nicht länger gedauert! — auch noch entfernen können, sie sind Enthusiast*innen des Wegschnipselns, Resektierens, Heraussaugens. Auch meine Erfahrung: Es kommt sehr gut, wenn du als Patientin die Ärzte epistemisch erfreust, das erhöht Stimmung und Behandlungsqualität ungemein. Sei am besten ein medizinisch interessanter Fall mit Überraschungspotenzial. (Das scheint mir erstaunlich oft zu gelingen. Nun ja.)
Phänomenologien und Epistemologien. Ich bin nach der OP schmerzfrei. Der fiese Messerstecherschmerz ist ganz weg, sofort, was nicht verwunderlich ist, die Ursache(n) wurde(n) ja entfernt. Der Wundschmerz wird brav weginfusioniert; postoperative Behandlungsprotkolle werden abgespult. Ich kann (und muss) am Tag nach der OP bereits aufstehen, darf an G.s Arm einen Spaziergang durch den Klinikgarten machen, mit den Büsten vergangener Würdenträger, die sich um die Klinik verdient gemacht haben. Rudolf der Protektor! Aber auch ein schwarzer Block, ein Denkmal für Menschen, die bei einem Bombenangriff am 15.3.1945 ums Leben kamen, da sie versuchten, andere zu retten: die Pflegenden Hildegard Lehnen und Imma Loebenstein, der Sanitäter Ferdinand Benda und der belgische Kriegsgefangene Gaston de la Motte, sowie Therese Görz aus der Wäscherei und Gertrude Weissberger (Schwester Rudolfine).
Ich bekomme täglich Besuch des Physiotherapeuten, der mit mir auch Stiegen steigt und Hinweise für Alltagsbewegungen gibt. Die Chirurgin kommt täglich vorbei. Meine Phänomenologie sagt: Tatendrang und Bewegung. Mich faszinieren und energetisieren die biochemisch unterstützten Selbstheilungsfähigkeiten des Körpers jedes Mal aufs Neue enorm. Sie schnipseln an deiner Wirbelsäule herum und am nächsten Tag gehst spazieren? Die Chirurgin sagt: ja, eh super, aber Schonung. Sie haben da eine Wunde, die 8 cm tief ist. Ja, ich weiß eh, ich hab mir diese Art von OP vorher auf YouTube angeschaut, es gibt ja eine breite Palette von OP-Trainingsvideos für Studis da, kennen Sie sicher, Frau Doktor! Die Haut wächst schnell zu, aber bis das Gewebe nahe an der und um die Wirbelsäule wieder verwachsen ist, dauert das mehrere Wochen. Das Pflegeteam nimmt das Motiv schnell auf: Frau K. ist eine Patientin, die man bremsen muss. “Sie öffnen die schwere Balkontür aber nicht selber!” “Sie melden sich aber bitte, wenn Sie Hilfe brauchen!” Jo, eh.
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Nachnotizen (Prag, München)
Igor Grubic, East Side Story, 2006-2008. Eine Video-Installation auf zwei Kanälen, Projektion auf zwei Wände im rechten Winkel zueinander, schwarz, dunkel. Der linke Kanal zeigt Aufnahmen der Gay Pride in Zagreb und Belgrad 2001 und 2002: Die Konfrontation der Parade mit einem wütenden und gewalttätigen Mob, aufbrausende Massen jungen Männern, die Hassparolen skandieren, Omas, die Schwule und Lesben in die Hölle der Verdammnis brüllen. Dazwischen Polizisten, die tatsächlich die Parade beschützen, dafür ihrerseits angegriffen und blutig geschlagen werden. Schwer auszuhaltende Aufnahmen. Männer treten einen, der am Boden liegt, unablässig. (Er hat überlebt.) Der rechte Kanal zeigt Tänzer*innen an den gleichen Orten, die die Bewegungen der Akteur*innen am linken Kanal aufnehmen, reproduzieren, variieren, konterkarieren, kommentieren, zerlegen, analysieren. Kurz der Gedanke, mit dieser Performance von Körpern, die sich vereinzelt unerwartet in den Straßen an den Stätten von Gewalt bewegenden Körpern würde auch vermittelt, wie diese Gewalt in der Stadt bleibt, da, immer latent da ist, immer wieder kommen kann.
Danica Dakić, Isola Bella, Videoarbeit 2007—2008. 1947 wurde in Pazarić, einer Stadt in der Nähe von Sarajewo, ein Heim für Waisen und geistig und körperlich behinderte Kinder gegründet. Einige der dort Aufgenommenen verließen das Heim seit ihrer Aufnahme nicht. Ein vergessener Ort, ein immer weiter existierender Ort, im Schatten, neben den Geschehnissen, parallel zur Welt. Dakić entwickelte mit den Bewohner*innen Darbietungen auf einer Theaterbühne, in denen sie Episoden aus ihrem Leben erzählen, zu Musik tanzen, sich bewegen, einander zusehen, dabei stets Masken aus dem viktorianischen Großbritannien tragend, die die obere Hälfte des Gesichts verdecken. Wie nahtlos die Masken den Gesichtern anliegen, wie man sich die Körper und Gesichter gar nicht anders vorzustellen vermag als mit diesen oft über die Köpfe hinausragenden Masken.
Slawomir Elsner: die Zufallsentdeckung, fast schon am Verlassen der Pinakothek der Moderne in München, dann doch noch in diese Galerie im Erdgeschoß. Case Studies on Rubens. “Rubens und Isabella Brant in der Geißblattlaube”, um 1609 entstanden, mit zeichnerisch-malerischen Verfahren zerlegt, abstrahiert, gedeutet. Unglaubliche Dichte. Das Original hängt schräg gegenüber in der Alten Pinakothek. Die Vorstufe mit den Händen noch eine der unauffälligeren Analysen, nichtdestotrotz die, die bei mir den stärksten Eindruck hinterlässt.
K.R.H. Sonderborg, 1921—2008: eigentlich geboren als Kurt Hoffman, aufgewachsen in Hamburg, in die Swing Kids-Szene involviert, aufgrund “undeutscher Umtriebe” kurzzeitig im KZ Fuhlsbüttel interniert, malte vorwiegend in Hotelzimmern, sehr energetisch ausgeführte abstrakte Malerei (ihm fehlte übrigens der rechte Arm). “Aus fotografischen Privat- und Presseaufnahmen destillierte er Motive, die er so aus ihrem narrativen Zusammenhang isolierte und die ihm als optische Grundstruktur zur Anregung dienten. Dabei blieb er seiner Vorliebe für technische Konstruktionen treu, wobei die graphische Struktur von Autoscheibenwischern und Oberleitungen ihn gleichermaßen inspirierten wie Hafenkräne oder Gastanks.”
Magdalena Jetelovà, Fotografie: ein einzelner weißer Streifen zieht sich durch die dunkle Steinlandschaft Islands. In the 1990s, Magdalena Jetelovà transitioned to the artwork that uses light as a tool to define territories and uncover the secrets that our universe conceals. With a combination of laser use and black & white photography, she revealed how our landscapes communicate.
Needles and pins
Der Übergang vom Leben mit Krankheiten zum Leben mit Gebrechlichkeit ist fließend. Eins kann länger oder kürzer einfach nur gelegentlich krank sein — sofern eins überhaupt das große Glück hat, nicht an schweren und stark lebensverkürzenden Krankheiten zu leiden —, und irgendwann kommt dann etwas Altersbedingtes daher. Es ist von Abnützung und Degeneration die Rede. Gefäße, Organe, Körperteile, Sinne, Gelenke, Skelett, so etwas eben, und das ist dann so, da kann noch dieses oder jenes gelindert, verlangsamt oder aufgehalten werden, mit Mitteln der Medizin in kürzere oder längere Phasen der Unmerklichkeit versetzt werden, aber weg geht das nicht mehr. Memento mor(b)i.
Die erste Reaktion ist vielleicht der Gedanke, alles, was nun noch zu tun wäre, sei nur noch Symptombekämpfung; ein Impuls der Unwilligkeit stellt sich ein, einer dieser Empörungszustände, bei denenst eh schon weißt, sie sind lächerlich, noch während du sie hast. Wahrscheinlich gehört es aber zum Älterwerden, dem Begriff der Symptombekämpfung mehr abgewinnen zu lernen. Ist das Symptom Schmerz, anhaltender, stechender Schmerz, so ist dessen Linderung für einen gewissen Zeitraum jedenfalls verdammt wünschenswert, das wissen Sie sicher. Es ist ja auch nicht so, dass nur die Bekämpfung von Symptomen bleibt. Es kann auch verlangsamt werden. Oder, um es genauer zu sagen: Es kann die Verlangsamung weiterer Degeneration begünstigt werden, indem eins das eine tut und das andere lässt, sich mehr spürt dabei, was das so tut, als Konsequenz. Das ist nicht ausschließlich uncharmant.
Aha, das Sirdalud (Muskelrelaxans) half vor drei Wochen über Nacht, jetzt tut es das nicht mehr. Tramadol in unterschiedlichen Dosierungen lässt den Organismus beglückt einschlafen, aber um zwei Uhr früh ist der Stechschmerz dann wieder da, und der nächste Tag dann ein einziger kognitiver Dämmerzustand, na, prack. Ein 400er Ibu abends ist gut für den Schlaf, gegen den Morgenschmerz ist das Eispack wirkungsvoller, da führt das Ibu zu Müdigkeit, die freilich auch durch etwas anderes herbeigeführt worden sein könnte, who knows. Multikausalität existiert, akzeptieren Sie’s! Schmerzmittelinfusionen in der Orthopädinnenpraxis sind sozial interessant, wenn du dann plötzlich in einer sehr fröhlichen Runde noch älterer Damen sitzt, die, während sie am Tropf hängen, mit dem Infusionsverabreicher über fehlenden Champagner flirten. Aber recht viel mehr als Schmerztabletten bewirken die Infusionen nicht, ob nun die eine oder andere Mischung, du gibst dir ja gern verschiedene Cocktails, der eine bedämmert auch ohne Opioidzusatz, der andere wirkt gut, ist aber halt nicht entzündungslindernd.
Dann schon eher Infiltrationen, am liebsten bei Doktor F. Mehr an Unannehmlichkeiten als zarten Einstichschmerz und ein leichtes Druckgefühl bewirkt ihre lange Nadel in den Facettengelenken und an den Nervenwurzeln nicht. Doktor F. ist schmal, sehnig, gewiss sportlich, aber sehr fein dabei, hoch konzentriert, eine Art entspannte Präzision verkörpernd. Einer dieser Menschen, die dir zeigen, dass du nicht angespannt verhärten musst, um konzentriert zu sein. Vielleicht hältst du sie auf den ersten Blick für weich, zu zart für diesen Job, aber das treibt sie dir mit ihrem ersten Blick sofort aus. Als es die Behandlung eine Stufe raufzuschrauben gilt, mit einer CT-gesteuerten Infiltration in der Klinik, wo dir Doktor F. immerhin in drei Wochen einen Termin verschaffen kann (dem Vernehmen nach müsse man sonst Monate warten, Schmerzzustand hin oder her), da rollt sie kurzerhand das CT-Gerät in den OP-Vorraum, damit zwei Patient*innen nicht noch drei Stunden warten müssen, bis der OP verfügbar ist.
Der Prozess dauert eineinhalb Minuten. Stechen, Nadel führen, Schauen, Nadel bewegen, Wirkstoff einspritzen, Schauen, immer wieder Schauen. Also, sie schaut, ich liege flach am Bauch und spüre nur. Angenehm ist das nicht, mehr Druck, mehr Ziehen, mehr Brennen, alles nicht so genau lokalisierbar in diesem diskret anbetäubten Rücken. Aber die Zuflucht zu tiefen Atemzügen hilft, eh immer, vor allem, wenn’s nur eineinhalb Minuten sind. Es könnte sein, dass dann etwas wegsackt, also, das Bein, heißt es, also Vorsicht. Aber es sackt nichts, es kribbelt gelegentlich, so leicht, wie der Blick von Doktor F. über die Körper von zu Behandelnden streift. Es haucht im Nervenkostüm. Irgend etwas Mechanisches ist da, beim Drehen des Beines, eine gewisse Instabilität der Bewegung, wie Eislaufen, nur bist du das Eis, auf erdigem Grund.
Auch der alternde Körper ist ein Experiment; jedenfalls bin ich jetzt da, wo sich diese Sichtweise aufdrängt. Das ist nicht immer angenehm, aber wennst im sechsten Lebensjahrzehnt noch Dinge für uninteressant hältst, nur weil sie unangenehm sind, geh, bitte. Die zwei Pavillons der Orthopädie in der Klink Penzing heißen übrigens Felix und Austria, und mit einem Patienten-Armband kommt eins gratis in die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof. Und im Café Seemann gibt’s auch Eiskaffee.
comment [3]
Erstversorgungstage
Jetzt also wieder Schwimmen auch im Freien, erstmals an diesem Donnerstag, einem dieser wochenverkürzenden katholischen Feiertage in Mai und Juni, zwischen zwei Fahrten in die Notaufnahme. Das Wasser wohltemperiert, die Luft noch nicht brennend, danke, nur ein, zwei andere Menschen in der Bahn, es flutscht, und dann setzt du dich, wie immer, oben auf die Betonstufen, schaust anderen zu, wie sie durch die Bahnen ziehen, hörst den Wind durch die riesigen Bäume rauschen und findest dich in der Gesellschaft von Krähen, die so tun, als könnten sie kein Wässerchen trüben, während sie mit überspielter Aufmerksamkeit die abgelegten Badetaschen der Schwimmenden durchsuchen und, so sie irgendwer dann doch vertreiben möchte, höchstens drei müde Hupfer auf die Seite machen.
Es gibt Erledigungen, Telefonate an dem Tag nach dem Feiertag, an dem Vieles stillsteht, auch Lokale gern geschlossen, weil eh so viele weg sind an so einem Fenstertag, Brückentag, man sagt ja beides. Wenn eine*r von zweien im Krankenhaus ist, steht auch deshalb Vieles still. Tagesrhythmen geraten aus dem Takt, der oder die andere regelt Dinge drumherum und macht auch noch eigenes Leben. So, denke ich immer wieder, fällt es denen, die nicht die Patienten sind, dann doch schwieriger, vielleicht, denn die Patienten sind, wenn sie einmal im Krankenhaus sind, einfach nur das: Patienten, sie warten auf Untersuchungen oder Operationen oder liegen herum, Schmerzen gemanagt, wenn’s gut geht, Flüssigkeiten fließen durch ihre Adern. Die anderen leiden mit, haben aber daneben noch Leben zu leben. Einkäufe, Abläufe, Gespräche, Denkaufgaben, Recherchen, Ereignisse. Tröstungen, Beruhigungen. Es ist nichts Gefährliches.
Zu den Akusmatikern wollte ich an jedenfalls zwei von den insgesamt drei Abenden dieses kleinen, feinen Festivals, aber dann war halt Notaufnahme, und als ich am dritten Abend, wo klar ist, also, nein, wirklich nichts Gefährliches, dann doch da sitze und aus vielen Lautsprechern montierte Klänge unterschiedlichster Provenienz höre, die einen behende daher- und wieder weggeregelt, die anderen vor sich hin dräuend ohne Reglerintervention, also da drängen sich die Zusammenhänge auf, weil das menschliche Gehirn, wie ich bei Thomas Metzinger gerade las, so ist: Synthese, Sinnstiftung, alles narrative Selbsttäuschung (sehr buddhistisch übrigens).
Das Piepsen irgendwelcher Geräte in der Notaufnahme, du findest nie heraus, woher es kommt und welchen Zweck es verfolgt, die zusammengewürfelte Zuhörerschaft beim Experimentalkonzert, diesmal doch recht anders als zu anderen Gelegenheiten am gleichen Ort, du findest nie heraus, was genau sie an diesen Ort führt, vielleicht auch eine Art Notfall und Transformationsbedürfnis — von Heilung will ich nicht reden —, und an dieser Station gibt es dann halt auch nur eine Art ästhetische Erstversorgung, die dann nachwirkt, so, wie die Notaufnahme nur für die Erstversorgung da ist.
Bei den Akusmatikern bist du da, um zu hören, heisst es. Die Darreichungsform des Sounds durch zahlreiche verteilte Lautsprecher (ohne Instrumente, voraufgezeichnetes Material, Elektroakustisches) diene dazu, den Schwerpunkt auf das Hören zu verlegen, so, wie Pythagoras, auf den man sich gelegentlich beruft, seine Schüler von hinter einem Vorhang belehrt haben soll, damit seine körperliche Anwesenheit sie nicht vom Inhalt des Vorgetragenen ablenken möge. In der Notaufnahme sind Prozesse und Strukturen verborgen; das Manifeste, das, worauf die Wahrnehmung der Patient*innen und Begleiter*innen gerichtet wird, sind standardisierte Kommunikationsprotokolle (wenn sie dich nicht einmal, sondern wiederholt zu Symptomen ausfragen, wenn sie dich mehrmals ums Geburtsdatum bitten, um den kognitiven Status zu überprüfen), Untersuchungsschritte, gestaffelt und ergebnissensitiv (Blut, Harn, Blutdruck, EKG, Röntgen, CT), erste Linderungsmaßnahmen (Schmerzmittelinfusionen, Elektrolytinfusionen, Muskelentkrampfungsinfusionen).
Da ist aber eben auch noch vieles anderes. “Hören” ist bei Sound eine Chiffre für ein vielgestaltiges Wahrnehmen und Empfinden, dem Richtungen vorgegeben werden können, das aber nicht gesteuert werden kann. Zwischen den manifesten Schritten in der Notaufnahme, den wahrnehmbaren Kontaktpunkten und Ereignissen, liegt Zeit, liegen Sitzen, Stehen, Herumgehen und Warten — Warten, eine Chiffre für einen Zustand der Ungewissheit, in den sich das Wahrnehmen und Empfinden drängen. Die Beobachtung der Handwerker, die Deckenpaneele austauschen und Behandlungsräume ausmalen, das Mitansehen, wie die ausgenüchterten Obdachlosen vom Tropf genommen und rausgeschickt werden, mit einem freundlichen, doch resignativen “bis heut am Abend, Duschan!” der Pflegerin; die Securities stehen bei Fuß, falls einer nicht gehen will. Blicke durch unversehens offen gebliebene Behandlungsraumtüren, auf den einen Arzt, der Befunde eintippt, Mikroentscheidungen am laufenden Band trifft, über Milligramm hier und Mittelchen dort. Die professionell-solidarischen Umgangsweisen der verschiedenen Gruppen von Krankenhauspersonal und der Rettungsleute, die neue Notfälle bringen und erledigte Notfälle abholen. Die herzlichen Scherze eines älteren Paars zueinander. Das müde Mitgefühl des jungen Afghanen oder Syrers, der neben der Liege seines schlafenden Kumpels oder Verwandten steht. Die Angst in den Augen der weißhaarigen fragilen Dame, die wegen einer Ohnmacht eingeliefert wurde und eine auffällig gut gebügelte weiße Baumwollstoffdecke von zu Hause über ihren Beinen hat.
Es ist dann natürlich doch wieder auch nicht ganz richtig, dass du es als Begleitperson schwieriger hast als ein Patient, es ist halt nur anders schwierig. Du kannst dir da draußen ja deinen Ausgleich suchen, deine Ablenkung, das kann der Patient im Krankenzimmer schlechter. Du kannst, wenn du um halb eins in der Nacht aus dem Klinikareal trittst, während im Krankenhaus noch operiert wird, die laue Nacht wahrnehmen und dich entscheiden, statt eines Taxis einen Leih-E-Scooter zu nehmen, weil du den Wind auf deiner Haut spüren willst. Du kannst die Krähen im Stadionbad besuchen. Du kannst mit den Akusmatiker*innen und deren Publikum abhängen, über Musik und Verwandtes plaudern, auch über Konzerte, die schon länger her sind (die Nachwirkungen vergangener ästhetischer Erstversorgung) und um Mitternacht mit einer, die du gar nicht kennst, ihren 40. Geburtstag begehen, vielleicht sogar mit “happy birthday” auf Japanisch, während andere, hier und dort, liegen und atmen.