Körperbilder und Befürchtungen
Diesmal habe ich Atemzüge gezählt. Ich begann bei 100 und zählte abwärts, das fordert mehr Konzentration, als von eins aufwärts zu zählen. Es ging um Ablenkung. Ich habe keine Klaustrophobie in der Röhre, gottseidank, schließe aber dennoch die Augen und versuche mich davon abzulenken, in der Röhre zu sein. Die Ablenkung galt eher der Befürchtung, es würde mich irgendwo unangenehm zu jucken beginnen, wo ich diese fünfzehn Minuten lang doch keine Möglichkeit hätte, mich zu kratzen. Ohne Ablenkung konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf jede noch so kleine Empfindungsirritation der Gesichtshaut, da ist dann das eine zarte Gefühl einer plötzlichen Leichtigkeit über der linken Augenbraue, oder die andere Ahnung von aufziehendem Juckreiz in der Nähe des rechten Wangenknochens. Man kann zur Ablenkung natürlich auch versuchen, an etwas ganz anderes zu denken, aber ich befürchte dann immer, unwillkürliche Bewegungen durchzuführen, vor allem mit der Zunge und den Lippen, in Selbstgespräche zu verfallen, still, die von Bewegung begleitet werden. Ich befürchte überhaupt immer ziemlich viel in der Röhre, zumindest zu Beginn.
Die ersten zwanzig Atemzüge erschienen angespannt, doch dann stellte sich ein Gefühl der Leichtigkeit ein, sogar der Entspanntheit. Ich fand einen Atemrhythmus, der nicht zu langsam war, denn das hätte meiner Nervosität nicht entsprochen, aber auch nicht zu schnell, denn das hätte sie noch weiter verstärkt. Ich wurde nicht an bestimmten Stellen ermahnt, das Schlucken bleiben zu lassen; das war vor einigen Jahren noch erfolgt, bei einem älteren Gerät. Ich vermute, neuere Geräte können gegebenenfalls Schluckartefakte rausrechnen. Dennoch habe ich die Angewohnheit nur dann zu schlucken, wenn das Gerät still ist, es ist eine Marotte, eine MRT-Marotte, wenn man so will. Das Gerät ist manchmal still, es arbeitet ja in Strophen mit unterschiedlichen Tonarten und Rhythmen, in denen es sich akustisch durch den Körper fräst. Es ist laut, natürlich, man trägt ja zum Schutz Kopfhörer, aber der Lärm macht mir nichts, Jahrzehnte unkonventionellen Musikgeschmacks machen sich auf unerwartete Weise bezahlt.
Als ich bei 40 war, wurde ich aus der Röhre gefahren; es kam die Nadel in den Arm mit dem Kontrastmittel. Es gab kurz Gelegenheit zu husten, zu räuspern, eventuell kleine Bewegungen auszuführen, die der Körper verlangte. Ich blieb zurückhaltend, denn dann musste wieder still gelegen werden; ich befürchtete, dass ein Zuviel der Bewegung zu viel Bewegungsnachhall produzieren würde, unangenehme Empfindungen. Ich widerstand dem Reflex, mir ins Gesicht zu fassen. Zurück in der Röhre begann ich noch einmal die Atemzüge zu zählen, diesmal von eins aufwärts, um mehr Aufmerksamkeit zu binden; ich kam nur bis 20.
Ich bekomme sonst immer Ausdrucke und eine CD mit, auf der die Bilder in einem proprietären Format gespeichert sind; der Arzt hat die entsprechende Software. Diesmal — andere Praxis — bekam ich per SMS einen Link, über den ich (mit einer TAN gesichert) die Bilder auch als JPGs herunterladen konnte. Es sind 339 Aufnahmen. Ich kann sie zusammensetzen zu einem kleinen Film, der 14 Sekunden dauert, zwei Atemzüge lang. Man kann die verschiedenen Schnittebenen darin gewissermaßen als unterschiedliche Kameraperspektiven erkennen. Man könnte sich einen Gestaltungswillen vorstellen in diesem kleinen Filmchen, vielleicht etwas Musik dazu basteln; die Grauschattierungen, die Flächen, die scheinbar pulsieren, sie würden sich für etwas nach Art von Burial eignen. Haunting, das auf jeden Fall.
Jedes Mal nehme ich mir vor, mich eingehender mit der Methodik und den wissenschaftlichen Grundlagen des Verfahrens der Magnetresonanztomografie zu befassen; jedes Mal gelingt es mir nicht, aus einer gewissen Scheu und Ablehnung heraus. Der Vorgang ist mir unheimlich, er ist auf eine nicht manifeste Weise Tage davor und Tage danach belastend, auch wenn bislang das Ergebnis immer erfreulich war: nicht nachweisbar. Es muss noch zwei Jahre so bleiben, dann ist statistisch gesehen ein Zustand des Geheiltseins erreicht.
Erfreuliches Ergebnis. Sehr schön. Ich bekomme immer eine CD mit den Bildern und einer Software, mit der ich dann Reisen durch meinen Kopf machen kann. Leider sind auch hier die Bilder in einem proprietären Format. Der Vorgang ist ein merkwürdiges Eindringen, ein Blick hinter den Vorhang, ins Verborgene. Ins Geisterhafte, wie Sie schon sagen. Sind das noch Selfies?
Ah, Sie auch im Klub? Hoffentlich auch konstant erfreulich im Ergebnis … Das Geisterhafte liegt ja auch am Skelettösen; toll finde ich da die Aufnahmen, wo die Augen als zwei weiße Kugeln strahlen. Selfies stellen eine*n ja unter anderem an einem bestimmten Ort dar, diese Bilder hier sind aber völlig ort- und kontextlos. Das macht womöglich auch etwas an ihrer Geisterhaftigkeit aus, neben dem Skelettösen.
Große Erleichterung über Ergebnis.
Als Freundin abseitiger Musik wissen Sie das vielleicht sogar: Hat echt ehrlich noch niemand diesen doch so ganz eigenen Sound künstlerisch verarbeitet? (schnarrrrr pulspulspuls)
kaltmamsell (Sept 10, 08:17 am) #
Anscheinend schon, eine Suche nach “MRI sounds music artists” gibt so Einiges aus, unter anderem einen Hinweis auf Nummern von Charlotte Gainsburg, aber der Link zu einer relevanten Nummer drin ist leider tot. Ich werde dran bleiben.
[Ich erzähle übrigens auch gern und zu oft die Anekdote, wie ich mich nach meinem ersten MRT, schon länger her, enthusiastisch für die gute Begleitmusik bedankte, und die MRT-Fachkraft so: “Was für Musik?”]