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- 4 06 2023 - 12:01 - katatonik

Umgeknickt

Wie schnell sich die Dinge lange her anfühlen können. Erst vor knapp zwei Wochen umgeknickt, eine Treppenstufe am Flughafen Toronto dumm genommen, hingeknallt, polierter Steinboden, schnell viele Helfende, are you ok, dann immer der Drang zu beschwichtigen, I’m ok, thanks, auch wenn man das nicht weiß, oder ahnt, dass es jetzt einfach gehen muss, auch wenn es eigentlich nicht geht, mit diesem linken Knöchel, da ist was. Auftreten ging noch, geistesgegenwärtig sofort zur nächsten Bar gehumpelt, des Eises wegen, es war noch etwas Zeit.

Umgeknickt, dann, der ganze Alltag, aus dem Tritt, die schiefen Fußmetaphern fallen ohne Ende, haha. Umknicken, das ist eine plötzliche Bewegung von etwas, das unauffällig das Leben vor sich hin tragen soll, in die falsche Richtung. Nicht, bis etwas bricht, das nicht, aber eine Havarie, trotzdem. Das richtet sich wieder, aber der Schaden ist da und will bemerkt und behandelt werden, no shit. Akuttermin beim Orthopäden um die Ecke, ja, danke, höchstwahrscheinlich kein Bruch, Orthese tragen für sechs Wochen reicht. Aber fahren’S in die Unfallambulanz zum Röntgen zur Sicherheit und zur Kontrolle. Da ist jetzt eh wenig los, kann ich Ihnen versprechen, ich kenn mich da aus, noch ist’s nicht so spät, dass die privaten Krankenhäuser alle ihre Ambulanzen zusperren, die hören ja früh auf zum Arbeiten da, und dann schicken’s alle Unfallpatienten in die öffentlichen, und da staut sich’s dann. Aber erst in einer Stunde, jetzt kommen’S da in einer halben Stunde durch. Ich will ihm ja glauben, dem Orthopäden, aber das System ist nicht so, ich ahne es.

In der Ambulanz trennen sich die Drama Queens von den Pragmatikern. Die Drama Queens glauben, dass man nur mit ordentlich Schmerztrara und Hochjazzen des erlittenen Kleinunglücks zum absolut sofort zu behandelnden Notfall unter drei Stunden wieder rauskommt. Die Pragmatiker wissen, dass das bei sowas wie einem wahrscheinlich gezerrten oder gerissenen Bandl, oder einem von einem schwerkraftbeschleunigten Baum angeknacksten Fuß (Leiden meines Sitznachbarn im Warteraum), überhaupt nix bringt. Die Ambulanz ist abgebrüht. Sie weiß, was ein Notfall ist, und sowas, geh bitte, hinten anstellen, warten. Ein Umknickereignis, also wirklich nicht. Die Pragmatiker sind ruhig und fügen sich wartend in ihr Schicksal, es sei denn, sie haben ein kleines Kind, das mit drei Stunden Warten halt einfach nicht so gut zurechtkommt und irgendwann einen Schreikrampf hinlegt, beachtlich, hat unsereins früher eigentlich auch so schreien können? Wo kommt diese wahnsinnige Schreikraft her?

Die Pragmatiker, das sind in dem Fall junge Männer, an Beinen verunfallt, und Eltern mit beim Sport oder mit dem Motorrad verunfallten Teenagern, alle total ruhig und geduldig. Die Drama Queens, das sind die Pensis, die zur Kontrolle da sind und jetzt nicht unbedingt nach blutspritzendem Notfall aussehen und, sorry, eh viel Zeit haben, und der Baumtyp; die sind’s, die sich immer wieder aufregen und der Ambulanz unterstellen, da würde nicht gearbeitet, nur, weil hier nichts sichtbar weitergeht. Wie stark der Mensch daran festhält, dass, wo etwas nicht gesehen wird, es deshalb auch nicht ist, als müsste man es nicht besser wissen. Es würde reichen, ein paar Schritte nach hinten zum Röntgenraum zu gehen, Verzeihung: zu humpeln, da, wo die Betten mit den von den Stationen herbeigeführten tatsächlich Verunfallten stehen, zumeist Menschen höheren Alters mit Gips- und Verbandakkumulationen ganz anderer Art. Aber der leicht verunfallte Mensch ist eben speziell, will Aufmerksamkeit und Empathie, kann man schon verstehen, will ich auch gern, und sei’s auch nur, um betont cool zu sagen, is eh ok, geht scho. Die Atmosphäre in Unfallambulanzen würde deutlich entspannter, beschäftigte man eigene Empathiker, die von Patient zu Patient gehen, sich Geschichten anhören, nicken, “oh, das ist ja furchtbar” sagen und Zuckerl verteilen (was mit Baldrian und Hopfen drin am besten).

Dann war da noch der ältere Herr im Bademantel, klein, dürr, der plötzlich im Wartebereich auftauchte, man wusste dann später nicht mehr, woher und warum. Er ging nacheinander zu allen Wartenden hin, erzählte, er sei in eine dumme Lage geraten, seine Frau sei nicht gekommen, er hätte nun kein Geld und müsse nach Hause, wie käme er denn von da nach Hütteldorf. Und die einen sagen, sie wüssten nichts, die, die in ihrer Verunfalltheit halt grad keine Geduld haben für solche Gespräche, und die anderen geben ihm Auskunft, detailliert, die S-Bahn, Buslinien, alles wird dargelegt. Fünf, zehn Minuten später geht der Herr dann zum Nächsten, zur Nächsten, weil, offenbar, er merkt sich nichts. So geht es dahin, bald wissen alle, er ist dement, was willst machen. Warten, Mitansehen, wie andere aufgerufen werden und hier- oder dorthin gehen, und sich alle paar Minuten mit dem besten öffentlichen Weg nach Hütteldorf beschäftigen.

Ein Glatzkopf mit “Fuck you!”-T-Shirt nimmt sich dann des älteren Herrn rührend an, fragt beim Empfang nach, ob man dem Herrn nicht einen Krankentransport organisieren könne, er müsse offenbar nach Hause, nein, der Herr sei stationär hier, heisst es. Der Glatzkopf nimmt den Herrn mit nach draußen, da gäbe es einen Verkaufsautomaten, da könne man sich einen Kaffee oder eine Schoklad, aber er hätte doch kein Geld, sagt der Herr, aber ich lad Sie ein, sagt der Glatzkopf. Holen’S mich, wenn ich aufg’ruf’n werd, fragt er mich, und aber gern, sag’ ich, bis mir einfällt, dass ich ja nur deppert humpeln kann, aber das macht jetzt auch nichts mehr. Einige Iterationen später sitzt der ältere Herr dann wieder da, man weiß nicht so recht, was mit ihm ist, aber plötzlich kommt tatsächlich ein Krankentransport, und wirklich: Sie sind für ihn da, er soll nach Hause gebracht werden, und vielleicht ist es doch nicht so arg, wie man befürchtet hat, dass er in seiner Demenz nämlich vergessen hat, dass seine Frau verstorben ist, vielleicht wartet sie zu Hause auf ihn, denn der Krankentransport würde ihn nicht nach Hause bringen, wäre da nicht jemand. Auf Wiederschaun, Herr B., machen Sie’s gut. Beim Rausgehen hält mir ein Mann mit Armverletzung die Tür auf, danke sehr, ja, man muss sich halt helfen, ja, das muss man.

In zwei Wochen kann das Immunsystem schon auch ordentlich was. Gut, es kann auch viel Schmerz, verdammt, aber es bringt Schwellungen zum Verschwinden, spielt Farbenklavier mit Blutergüssen, sorgt dafür, dass man plötzlich Treppen wieder flüssig bergab steigen kann, ohne immer nur eine Stufe auf einmal nehmen zu können, und es juckt (beruhigend) herum. Schwimmfreigabe, Schwimmen gut zur Kühlung, aber bitte nur Kraulbeinschlag, keinen seitlichen Druck, nur auf und ab, aber gern. Man behilft sich, jammert gelegentlich übertrieben herum, empathieheischend, fragt sich, wie permanent Gehbehinderte im Alltag so zurechtkommen, es ist ja ein Wahnsinn, welche Stolpersteine einem die Stadt sprichwörtlich in den Weg legt, Barrierefreiheit ein Witz.

Diese sonst gern verfluchten Leih-E-Scooter schon auch praktisch, sündteuer, aber in der Situation geb’ ich auch zwei Euro aus, um ein paar hundert Meter den Hang hinauf zum Markt zu kommen, vorsichtig, langsam, oder auch die eineinhalb Kilometer zum Konzertort, an den mich sonst Straßenbahn und Bus in einer dreiviertel Stund’ bringen würden, liegt halt blöd, und nach einer Woche Couch brauche ich das, Schwellungen im Dasein abbauen, gewissermaßen. Agnes Hvizdalek, Leute! Nach fast zwei Wochen geht dann auch wieder ein Ausflug ins Grüne, ein Essen im Restaurant Bistdenndufertig und eine Geburtstagsfeier der Ü60er-Partie; noch ein paar Takte Techno in einem finstren Lokal. Sogar ein paar Minuten behelfsmäßiger Einbeinstehtanz sind drin, wird scho wieder.


Körper! In wie vielen unscheinbaren Details der sich wichtig machen kann!
(Weiter zügige Heilung bitte.)

kaltmamsell (Jun 5, 06:12 am) #


Ein Wunderweh der Natur.

katatonik (Jun 5, 10:47 am) #

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