Needles and pins
Der Übergang vom Leben mit Krankheiten zum Leben mit Gebrechlichkeit ist fließend. Eins kann länger oder kürzer einfach nur gelegentlich krank sein — sofern eins überhaupt das große Glück hat, nicht an schweren und stark lebensverkürzenden Krankheiten zu leiden —, und irgendwann kommt dann etwas Altersbedingtes daher. Es ist von Abnützung und Degeneration die Rede. Gefäße, Organe, Körperteile, Sinne, Gelenke, Skelett, so etwas eben, und das ist dann so, da kann noch dieses oder jenes gelindert, verlangsamt oder aufgehalten werden, mit Mitteln der Medizin in kürzere oder längere Phasen der Unmerklichkeit versetzt werden, aber weg geht das nicht mehr. Memento mor(b)i.
Die erste Reaktion ist vielleicht der Gedanke, alles, was nun noch zu tun wäre, sei nur noch Symptombekämpfung; ein Impuls der Unwilligkeit stellt sich ein, einer dieser Empörungszustände, bei denenst eh schon weißt, sie sind lächerlich, noch während du sie hast. Wahrscheinlich gehört es aber zum Älterwerden, dem Begriff der Symptombekämpfung mehr abgewinnen zu lernen. Ist das Symptom Schmerz, anhaltender, stechender Schmerz, so ist dessen Linderung für einen gewissen Zeitraum jedenfalls verdammt wünschenswert, das wissen Sie sicher. Es ist ja auch nicht so, dass nur die Bekämpfung von Symptomen bleibt. Es kann auch verlangsamt werden. Oder, um es genauer zu sagen: Es kann die Verlangsamung weiterer Degeneration begünstigt werden, indem eins das eine tut und das andere lässt, sich mehr spürt dabei, was das so tut, als Konsequenz. Das ist nicht ausschließlich uncharmant.
Aha, das Sirdalud (Muskelrelaxans) half vor drei Wochen über Nacht, jetzt tut es das nicht mehr. Tramadol in unterschiedlichen Dosierungen lässt den Organismus beglückt einschlafen, aber um zwei Uhr früh ist der Stechschmerz dann wieder da, und der nächste Tag dann ein einziger kognitiver Dämmerzustand, na, prack. Ein 400er Ibu abends ist gut für den Schlaf, gegen den Morgenschmerz ist das Eispack wirkungsvoller, da führt das Ibu zu Müdigkeit, die freilich auch durch etwas anderes herbeigeführt worden sein könnte, who knows. Multikausalität existiert, akzeptieren Sie’s! Schmerzmittelinfusionen in der Orthopädinnenpraxis sind sozial interessant, wenn du dann plötzlich in einer sehr fröhlichen Runde noch älterer Damen sitzt, die, während sie am Tropf hängen, mit dem Infusionsverabreicher über fehlenden Champagner flirten. Aber recht viel mehr als Schmerztabletten bewirken die Infusionen nicht, ob nun die eine oder andere Mischung, du gibst dir ja gern verschiedene Cocktails, der eine bedämmert auch ohne Opioidzusatz, der andere wirkt gut, ist aber halt nicht entzündungslindernd.
Dann schon eher Infiltrationen, am liebsten bei Doktor F. Mehr an Unannehmlichkeiten als zarten Einstichschmerz und ein leichtes Druckgefühl bewirkt ihre lange Nadel in den Facettengelenken und an den Nervenwurzeln nicht. Doktor F. ist schmal, sehnig, gewiss sportlich, aber sehr fein dabei, hoch konzentriert, eine Art entspannte Präzision verkörpernd. Einer dieser Menschen, die dir zeigen, dass du nicht angespannt verhärten musst, um konzentriert zu sein. Vielleicht hältst du sie auf den ersten Blick für weich, zu zart für diesen Job, aber das treibt sie dir mit ihrem ersten Blick sofort aus. Als es die Behandlung eine Stufe raufzuschrauben gilt, mit einer CT-gesteuerten Infiltration in der Klinik, wo dir Doktor F. immerhin in drei Wochen einen Termin verschaffen kann (dem Vernehmen nach müsse man sonst Monate warten, Schmerzzustand hin oder her), da rollt sie kurzerhand das CT-Gerät in den OP-Vorraum, damit zwei Patient*innen nicht noch drei Stunden warten müssen, bis der OP verfügbar ist.
Der Prozess dauert eineinhalb Minuten. Stechen, Nadel führen, Schauen, Nadel bewegen, Wirkstoff einspritzen, Schauen, immer wieder Schauen. Also, sie schaut, ich liege flach am Bauch und spüre nur. Angenehm ist das nicht, mehr Druck, mehr Ziehen, mehr Brennen, alles nicht so genau lokalisierbar in diesem diskret anbetäubten Rücken. Aber die Zuflucht zu tiefen Atemzügen hilft, eh immer, vor allem, wenn’s nur eineinhalb Minuten sind. Es könnte sein, dass dann etwas wegsackt, also, das Bein, heißt es, also Vorsicht. Aber es sackt nichts, es kribbelt gelegentlich, so leicht, wie der Blick von Doktor F. über die Körper von zu Behandelnden streift. Es haucht im Nervenkostüm. Irgend etwas Mechanisches ist da, beim Drehen des Beines, eine gewisse Instabilität der Bewegung, wie Eislaufen, nur bist du das Eis, auf erdigem Grund.
Auch der alternde Körper ist ein Experiment; jedenfalls bin ich jetzt da, wo sich diese Sichtweise aufdrängt. Das ist nicht immer angenehm, aber wennst im sechsten Lebensjahrzehnt noch Dinge für uninteressant hältst, nur weil sie unangenehm sind, geh, bitte. Die zwei Pavillons der Orthopädie in der Klink Penzing heißen übrigens Felix und Austria, und mit einem Patienten-Armband kommt eins gratis in die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof. Und im Café Seemann gibt’s auch Eiskaffee.