Erstversorgungstage
Jetzt also wieder Schwimmen auch im Freien, erstmals an diesem Donnerstag, einem dieser wochenverkürzenden katholischen Feiertage in Mai und Juni, zwischen zwei Fahrten in die Notaufnahme. Das Wasser wohltemperiert, die Luft noch nicht brennend, danke, nur ein, zwei andere Menschen in der Bahn, es flutscht, und dann setzt du dich, wie immer, oben auf die Betonstufen, schaust anderen zu, wie sie durch die Bahnen ziehen, hörst den Wind durch die riesigen Bäume rauschen und findest dich in der Gesellschaft von Krähen, die so tun, als könnten sie kein Wässerchen trüben, während sie mit überspielter Aufmerksamkeit die abgelegten Badetaschen der Schwimmenden durchsuchen und, so sie irgendwer dann doch vertreiben möchte, höchstens drei müde Hupfer auf die Seite machen.
Es gibt Erledigungen, Telefonate an dem Tag nach dem Feiertag, an dem Vieles stillsteht, auch Lokale gern geschlossen, weil eh so viele weg sind an so einem Fenstertag, Brückentag, man sagt ja beides. Wenn eine*r von zweien im Krankenhaus ist, steht auch deshalb Vieles still. Tagesrhythmen geraten aus dem Takt, der oder die andere regelt Dinge drumherum und macht auch noch eigenes Leben. So, denke ich immer wieder, fällt es denen, die nicht die Patienten sind, dann doch schwieriger, vielleicht, denn die Patienten sind, wenn sie einmal im Krankenhaus sind, einfach nur das: Patienten, sie warten auf Untersuchungen oder Operationen oder liegen herum, Schmerzen gemanagt, wenn’s gut geht, Flüssigkeiten fließen durch ihre Adern. Die anderen leiden mit, haben aber daneben noch Leben zu leben. Einkäufe, Abläufe, Gespräche, Denkaufgaben, Recherchen, Ereignisse. Tröstungen, Beruhigungen. Es ist nichts Gefährliches.
Zu den Akusmatikern wollte ich an jedenfalls zwei von den insgesamt drei Abenden dieses kleinen, feinen Festivals, aber dann war halt Notaufnahme, und als ich am dritten Abend, wo klar ist, also, nein, wirklich nichts Gefährliches, dann doch da sitze und aus vielen Lautsprechern montierte Klänge unterschiedlichster Provenienz höre, die einen behende daher- und wieder weggeregelt, die anderen vor sich hin dräuend ohne Reglerintervention, also da drängen sich die Zusammenhänge auf, weil das menschliche Gehirn, wie ich bei Thomas Metzinger gerade las, so ist: Synthese, Sinnstiftung, alles narrative Selbsttäuschung (sehr buddhistisch übrigens).
Das Piepsen irgendwelcher Geräte in der Notaufnahme, du findest nie heraus, woher es kommt und welchen Zweck es verfolgt, die zusammengewürfelte Zuhörerschaft beim Experimentalkonzert, diesmal doch recht anders als zu anderen Gelegenheiten am gleichen Ort, du findest nie heraus, was genau sie an diesen Ort führt, vielleicht auch eine Art Notfall und Transformationsbedürfnis — von Heilung will ich nicht reden —, und an dieser Station gibt es dann halt auch nur eine Art ästhetische Erstversorgung, die dann nachwirkt, so, wie die Notaufnahme nur für die Erstversorgung da ist.
Bei den Akusmatikern bist du da, um zu hören, heisst es. Die Darreichungsform des Sounds durch zahlreiche verteilte Lautsprecher (ohne Instrumente, voraufgezeichnetes Material, Elektroakustisches) diene dazu, den Schwerpunkt auf das Hören zu verlegen, so, wie Pythagoras, auf den man sich gelegentlich beruft, seine Schüler von hinter einem Vorhang belehrt haben soll, damit seine körperliche Anwesenheit sie nicht vom Inhalt des Vorgetragenen ablenken möge. In der Notaufnahme sind Prozesse und Strukturen verborgen; das Manifeste, das, worauf die Wahrnehmung der Patient*innen und Begleiter*innen gerichtet wird, sind standardisierte Kommunikationsprotokolle (wenn sie dich nicht einmal, sondern wiederholt zu Symptomen ausfragen, wenn sie dich mehrmals ums Geburtsdatum bitten, um den kognitiven Status zu überprüfen), Untersuchungsschritte, gestaffelt und ergebnissensitiv (Blut, Harn, Blutdruck, EKG, Röntgen, CT), erste Linderungsmaßnahmen (Schmerzmittelinfusionen, Elektrolytinfusionen, Muskelentkrampfungsinfusionen).
Da ist aber eben auch noch vieles anderes. “Hören” ist bei Sound eine Chiffre für ein vielgestaltiges Wahrnehmen und Empfinden, dem Richtungen vorgegeben werden können, das aber nicht gesteuert werden kann. Zwischen den manifesten Schritten in der Notaufnahme, den wahrnehmbaren Kontaktpunkten und Ereignissen, liegt Zeit, liegen Sitzen, Stehen, Herumgehen und Warten — Warten, eine Chiffre für einen Zustand der Ungewissheit, in den sich das Wahrnehmen und Empfinden drängen. Die Beobachtung der Handwerker, die Deckenpaneele austauschen und Behandlungsräume ausmalen, das Mitansehen, wie die ausgenüchterten Obdachlosen vom Tropf genommen und rausgeschickt werden, mit einem freundlichen, doch resignativen “bis heut am Abend, Duschan!” der Pflegerin; die Securities stehen bei Fuß, falls einer nicht gehen will. Blicke durch unversehens offen gebliebene Behandlungsraumtüren, auf den einen Arzt, der Befunde eintippt, Mikroentscheidungen am laufenden Band trifft, über Milligramm hier und Mittelchen dort. Die professionell-solidarischen Umgangsweisen der verschiedenen Gruppen von Krankenhauspersonal und der Rettungsleute, die neue Notfälle bringen und erledigte Notfälle abholen. Die herzlichen Scherze eines älteren Paars zueinander. Das müde Mitgefühl des jungen Afghanen oder Syrers, der neben der Liege seines schlafenden Kumpels oder Verwandten steht. Die Angst in den Augen der weißhaarigen fragilen Dame, die wegen einer Ohnmacht eingeliefert wurde und eine auffällig gut gebügelte weiße Baumwollstoffdecke von zu Hause über ihren Beinen hat.
Es ist dann natürlich doch wieder auch nicht ganz richtig, dass du es als Begleitperson schwieriger hast als ein Patient, es ist halt nur anders schwierig. Du kannst dir da draußen ja deinen Ausgleich suchen, deine Ablenkung, das kann der Patient im Krankenzimmer schlechter. Du kannst, wenn du um halb eins in der Nacht aus dem Klinikareal trittst, während im Krankenhaus noch operiert wird, die laue Nacht wahrnehmen und dich entscheiden, statt eines Taxis einen Leih-E-Scooter zu nehmen, weil du den Wind auf deiner Haut spüren willst. Du kannst die Krähen im Stadionbad besuchen. Du kannst mit den Akusmatiker*innen und deren Publikum abhängen, über Musik und Verwandtes plaudern, auch über Konzerte, die schon länger her sind (die Nachwirkungen vergangener ästhetischer Erstversorgung) und um Mitternacht mit einer, die du gar nicht kennst, ihren 40. Geburtstag begehen, vielleicht sogar mit “happy birthday” auf Japanisch, während andere, hier und dort, liegen und atmen.