Der viel gefiederte Muskel
Der Physioknecht hatte das ganze Übungsprogramm noch einmal mit mir duchgesprochen; es war unser letzter Termin. Die Symptomatik, die ich ihm schildertee, würde eindeutig auf Instabilitäten hinweisen, die man nur bedingt, aber doch bis zu einem gewissen Grad in den Griff kriegen könne, durch Alltagsanpassung, Kraft-Ausdauertraining und verbesserte Koordination. Der Musculus multifidus, der viel gefiederte Muskel, zum Beispiel, wäre für die Stabilität der Wirbelsäule außerordentlich wichtig; er zieht sich tief drin an der Wirbelsäule entlang. Man müsse ihn trainieren, das könne man aber nicht direkt, sondern nur indirekt durch Koordinations- und Balanceübungen. Tandemstand, zum Beispiel, und wenn du den einigermaßen kannst, dann verschärfen, zum Beispiel durch Drehen und Wenden des Kopfes, und wenn du das draufhast, mach’s mit geschlossenen Augen. Ich bräuchte viel Geduld und Durchhaltevermögen, meinte der Physioknecht, aber ich wäre am richtigen Weg.
Die MS Vindobona ist ein Ausflugsschiff der DDSG Blue Danube, seit 1995 die Nachfolgegesellschaft der Ersten Donau Dampfschifffahrts Gesellschaft in der Personenschifffahrt. Das Schiff wird auf deren Website für seine außergewöhnliche Innenausstattung im Hundertwasser-Design angepriesen. Man kann sich dort auch ein 360°-Panorama reinziehen. Das Design hat eine recht angenehme Retro-Anmutung, eine Zeitkapsel, inklusive Zigarettenautomat mit Schillingpreisen.
Die Internetplattform Klingt.org für experimentelle Musik und Kunst hatte die geniale Idee, den ersten Teil der Feier ihres 25jährigen Bestehens auf der MS Vindobona abzuhalten. Also, wahrscheinlich gebührt die Ehre für die geniale Idee genau genommen Dieter Kovačič (dieb13), der Klingt.org initiierte und betreibt (den mit dem Wienerischen nicht Vertrauten sei noch erklärt, dass “org” auf Wienerisch “arg” heißt, hier eher im Sinne von “merkwürdig, verrückt, außergewöhnlich”, sagen wir einfach: weird).
Über knapp drei Stunden sollte die MS Vindobona von der Anlegestelle Reichsbrücke aus erst südwärts zum Kraftwerk Freudenau schippern, dann nordwärts bis nach Nußdorf und von dort wieder südwärts zur Reichsbrücke. Es gab zur Einstimmung am Achterdeck (so sagt man, glaube ich) eine klangliche Intervention von Beauchamp & Geissler, begleitet von eisigem Winterwind, dem Rauschen der graubraunen Donauwellen am Schiff und aufgeregtem Ausflugsgeplappere der vielen Gäste, eine schöne Menge an halb Bekannten und anderen freundlichen Wesen verschiedenster Altersstufen; manche hatten auch Kinder dabei. Im Vorfeld war klargestellt worden, es würde für die drei Stunden kein Essenscatering an Bord geben, nur Getränke (von ausnehmend aufmerksamen Ausflugsschiffkellnern an die Tische serviert). An den Tischen in Ober- und Unterdeck saßen dann die Kids, malten und zeichneten und spielten und knabberten Zeug aus mitgebrachten Tupperwaredosen. Ein Bub, geschätzt unter fünf, trug einen sehr kleidsamen türkisen Gehörschutz mit Elefantenlogo drauf (Schallwerk), während er — da spielten dann Bulbul ordentlich auf, am Bug des Unterdecks, innen — energisch mit seinen Farbstiften rote Flächen schraffierte.
Als wir also südwärts schipperten, mit Tee und Kaffee, Bier und Wein versorgt, begann Susanna Gartmayer mit ihrer Bassklarinette durch den Gang am Oberdeck zu gehen, das Instrument dröhnend, schmeichelnd, vibrierend, eskalierend, klappernd. Auf und ab ging sie, langsam und konzentriert, manchmal blieb sie stehen, und wenn so eine Bassklarinette direkt vor dir steht und energisch geblasen wird, da fährt dir das aber mindestens bis in den Musculus multifidus, ehrlich, sowas wirkt ungemein stabilisierend. Die Menschen waren recht still und hörten zu und schauten hin. Ich tue mir ja immer schwer so nahe heranspazierende Musiker*innen anzusehen, ihnen unverwandt zuzusehen, es fühlt sich auf unangenehme Weise distanzlos und aufdringlich an. (Und um ehrlich zu sein, es hätte auch eine Kontraaltklarinette sein können, die Gartmayer dem Vernehmen nach auch spielt; ich kenn’ mich da nicht so aus.) Jedenfalls: einen Klangraum so zu erleben, auf einem Schiff, mit Blicken auf ein vorbeiziehendes Draußen, das allmählich dunkler wird, das ist schon sehr speziell.
Es ging dann weiter, so ausflugsfahrtmäßig mit Geplapper und Gelächter, Herumstehen, Herumsitzen und immer wieder zwischendurch raus aufs Achterdeck, zu Wind, Wasserrauschen und Ausblick — die vertäuten Fischerboote an der dunklen Küste der Donauinsel, die sleeken neuen Hochaustürme am südlichen Westufer der Stadt, die Hotels der Marina. Wien ist ja bekannt dafür, dass die Stadt der Donau kein Gesicht zeigt, sondern eher den, äh, Rücken.
Bulbul spielten, wie gesagt, am unteren Deck, in gewohnt lauter und trockener und präziser Manier; es wurde dann recht heiß und, ehrlich gesagt, Bulbul schön und gut, aber das Achterdeck, die Stadt in der Nacht vorbeiziehen sehen, das hast du nicht so oft, also lieber wieder raus: vorbei an den jetzt in der Dunkelheit erleuchteten Neubauten, Hochhäusern, Türmen, an den angestrahlten Monumenten der Kaiserzeit und ihrer Ingenieurskunst (die Schemerlbrücke von Otto Wagner). Der Fluss, der auch bei einem beängstigenden Hochwasser die Stadt nicht mehr komplett überfluten kann, weil die Ingenieurskunst das Wasser mithilfe der künstlich angelegten Donauinsel, mit klug gebauten Entlastungsgerinnen und Wehren regulieren kann; Regionalzüge und U-Bahnen, die sich als Leuchtbänder am Ufer entlang und über Donaubrücken ziehen. Aus dem Dunkel taucht ein Lastkahn auf, der Kohle schippert, Autobahnbrücken, aber du hörst nichts, denn das Wasserrauschen und Bulbul übertönen viel.
Am Ende läuft dann noch Mats Gustafsson mit seinem Saxophon durch den Gang am Oberdeck, gewissermaßen auf Susanna Gartmayers Spuren. Dort entwickelt sich ein reizender Dialog zwischen den Geräuschen, die er seinem Instrument entlockt, entbläst, entkitzelt, und dem Kichern, Glucksen und Kreischen einiger Kinder an einem Tisch. Gustafsson, im kurzärmligen T-Shirt, spaziert dann tatsächlich noch heroisch aufs Achterdeck und bespielt die kalte Kulisse der dunklen Stadt an der Donau; ein ganz besonderer Moment.
S. sagt später, beim zweiten Teil der Feier in einem innenstädtischen Kellertheater, es wäre eine Utopie gewesen, da, am Schiff, mit all diesen Menschen und diesen Klängen. Ein utopischer Ort, der sich an der Stadt vorbeibewegte; ich denke an die stabilisierenden Muskeln, die du nicht direkt antrainieren kannst. Das Schiff nähert sich der Anlegestelle nach einer Wende von Süden her. Durch die angelaufenen Scheiben zeigt sich die angestrahlte Kirche am Mexikoplatz. Der Platz erhielt seinen Namen in Gedenken daran, dass Mexiko im März 1938 das einzige Land war, das vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte.
Danke für diesen Bericht, der mich an einen wunderbaren Sonntag erinnerte wo eine Bassklarinette in unserem Wohnzimmer das Innerste vibrieren ließ:
http://meinzuhausemeinblog.blogspot.com/2014/04/plumes-karlsruhe-230314.html
Gudrun Thäter (Jan 13, 09:44 am) #
Auch wenn mir klar ist, dass Vindobona die lateinische Bezeichnung für Wien ist, bleibt es für mich die Bezeichnung des Zuges, die mich schon einige Mal von meiner Heimatstadt Dresden nach Wien brachte. Wenn man auf dem Rückweg die sächsische Aussprache der Zugführer im Ohr hat, wusste ich, dass ich wieder zurück bin …
amberlight (Jan 13, 04:46 pm) #