Sonatas and Interludes
Das Hotel lag in der Frankfurter Bahnhofsgegend, wo das Museum nicht lag. Das Museum lag in der rekonstruierten Neuen Altstadt, ein weithin gerühmter 150m-Langbau aus den 1980er Jahren, der sich jetzt ein Performance-Festival im ausnahmsweise hellen Galeriesaal gönnt, bevor zu Renovierungs- und Umbauzwecken für zwei, drei Jahre geschlossen wird. Die Eintrittsschlange samstags gegen 13 Uhr reichte ein Stockwerk hinab and then some. Das war schon, äh, interaktiver Teil der Performances, konkret bedingt durch Annika Ströms “Seven Women Standing in the Way”, zu dem es die folgende Anleitung gab:
“They should be above 65 years old.
They should not be dressed too formally. They should be wearing their coats or jackets and appear to be members of the audience.
They should be dressed casually and not be wearing high heels, as they will have to stand most of the time.
Whilst they are standing in the way, they should never appear aggressive, but simply ocivious to the fact that they are standing in the way. They should be completely oblivious to people around them.
They should be preoccupied with each other only, and the conversation they are having with each other.
If people want to pass, they should not give way at first, not until they appear to become aware that someone wants to pass, then they can make way, but they must never be aggressive about it.
They should stand together all the time, chatting and drinking. They can be loud, but they shouldn’t be too noisy, nor should they seek attention.
The performance should be very subtle. They should be standing all the time, but rest if they need to. However, when they do rest, they should all rest together.
If anyone asks them anything they should ignore the question, but if someone insists, they should reveal that they are a part of the show and that they are
The Seven Women Standing in the Way.”
Am schmalen Eingang in die Galerieräumlichkeiten standen also tatsächlich einige weißhaarige Damen, und sie verhielten sich tatsächlich den Richtlinien entsprechend, auf recht ruhige, lächelnde Weise. Die Besucher*innen schlängelten sich recht entspannt und langsam zwischen ihnen durch (wer von ihnen ahnte, wußte?). Erst nachdem ich den Text innen an der Galeriewand entdeckt hatte, formte sich dieses kurze, beiläufige Erlebnis zu einer Kunsterfahrung.
Ähnlich im Ansatz auch Alija Wysockas Performance “Hide and Seek” etwas später. Hier spielte eine Gruppe fröhlicher, bunt gekleideter Frauen aus der Ukraine, mittleren und höheren Alters, im Ausstellungsareal inmitten der anwachsenden Besucher*innenschar Verstecken. Sie liefen hin und her, versteckten sich hinter Menschen, Mauerwerk und Türen, und wenn die Suchende das Leo — ein an die Wand gekritzeltes Kreuz — verlassen hatte, rannten die Versteckten darauf zu und tappten dort jauchzend ab. Auch das ein Spiel mit Frauenkörpern, die etwas Gesellschaftliches, etwas Politisches, etwas Geopolitisches, wofür sie standen, in ein Raumszenario übersetzt darstellten, dadurch die anderen Anwesenden fordernd, in deren Rolle als Betrachter und Kontext zugleich.
Rundherum bewegten sich Personen in weißen Schutzanzügen, die als Teil von Norma Jeanes “Antibodies” in der Galerie überall Staub aufkehrten und aufsammelten. Dies taten sie nicht nur aktuell, denn da lag bereits ein offenbar über Monate hinweg gesammelter, recht beeindruckender Wollmäusehaufen von skulpturaler Anmutung (die Schirn hat im übrigen sehr schöne Holzbesen und -bartwische, auf denen groß “SCHIRN” steht). Man konnte sich fast als Virus fühlen, auf das die kehrenden Antikörper angesetzt wurden (der Staub ist ja schließlich auch Besucherstaub), als kleines bewegliches Störelement in einem multisystemischen Organismus.
In Ana Prvačkis “Tent, Quartet, Bows and Elbows” (Link mit Video), das bereits 2007 aufgeführt worden war, spielte ein Streichquartett prononciert Atonales in einem geschlossenen weißen Zelt inmitten des Galerieraums. Die Zuschauer*innen hatten sich vor Beginn auf bereitgestellten Papphockern um das Zelt gruppiert, dahinter standen gedrängt die, die keine Hocker mehr ergattert hatten. Eine Museumsmitarbeiterin brach die Konstellation geschickt auf, indem sie erstens darauf hinwies, dass dies eine zu ergehende, zu umgehende architektonische Performance sei, und dies zweitens gleich selbst zu performieren begann. Bald umrundeten mehrere das Zelt. Und immer, wenn eine länger stehenblieb, um einen Ellenbogen oder einen Instrumententeil, der gerade besonders rhythmisch herausragte, zu filmen, lief die Museumsmitarbeiterin stracks durch Bild und verdarb klug das Aufnehmen, das lähmend wirkte. Viele schätzten vor allem die an einer Ecke durch den Stoff sichtbare rechte Schulter einer Streicherin, über die konturierend schwarzes langes Haar fiel. Das ruckartige Spiel der Ellbogen an den Bögen sorgte für schön anzusehende Ausbuchtungen, das Zelt zuckte und wogte. Es muß da drin recht heiß geworden sein. Begeisterter, lachender Applaus am Ende.
Weit weniger verschmitzt Isaac Chong Wais Falling Reversely. Fünf offenbar professionell ausgebildete Tänzer*innen in Straßenkleidung vollführten Bewegungen, in deren Zentrum die Umkehr des Fallens stand, “as a powerful response to institutional violence and assaults against individurals of Asian descent”. Bemerkenswerte Körperstudien über das Fallen und Geworfenwerden, das Aufstehen, Aufspringen und Hochgezogenwerden (von nicht sichbaren Kräften), aber auch das Einander-Halten, -Heben und -Tragen, den Gewinn von Solidarität in einer Situation der Bedrohung.
Der kleine ca. Zweijährige im Skelett-Shirt, der am einen Ende der Performancefläche (viele Zuschauende saßen am Boden) mit einem Schlüsselbund und seinem leeren Trinkbrecher am Boden trommelte, bot der Szene Kontrast, die trotz der vielen Bewegung eine starre Gestimmtheit transportierte, vor allem durch ernsthafte Mienen und starre Blicke (mir kam der Verdacht, dass sehr gute Tänzer*innen nicht eo ipso geeignete Schauspieler*innen wären). Kontrast bot auch das Paar, das mir gegenüber saß: sie, mit braunen langen Haaren und offenem Gesicht am Papphocker mit gespreizten Beinen, er, hoher Haaransatz und fuchsfarbene Bartstoppel, am Boden dazwischen, sie berührten einander immer und immer wieder etwas mehr. Sie flüsterte ihm Dinge ins Ohr, die ihn glücklich lächeln ließen.
Ein Höhepunkt die Performance von Lenio Kaklea, “Sonatas und Interludes”, abends, eine Aufführung von und Auseinandersetzung mit John Cages so benannten Kompositionen. Das Klavier stand bereits den ganzen Tag präpariert in der Gegend herum. Orlando Bass spielte; er zeigte sich als nicht gefälliger, dicklicher Körper, in wohl bewußt zu eng gewählter Kleidung, schwarzer Hose, weißes T-Shirt, weiße Socken, keine Schuhe. Rückenhaar, das sich leicht pelzig über dem Halsausschnitt zeigte, schütteres Haupthaar, Nerdbrille. (Viel ungeglätteter als die Bilder auf seiner Website also.) Lenio Kaklea erschien in einem schwarzen Lederanzug mit Beplattung an Rücken, Ellbogen und Knien, was ihr eine leicht insektenartige Anmutung verlieh. Eine kraftvolle, strenge und grazile Erscheinung.
Die “Sonatas and Interludes” wurden zwischen 1946 und 1948 komponiert, als Ausdruck der rasa der indischen Ästhetik (mit der Cage wohl über die indische Musikerin Gita Sarabhai und das Werk von Ananda Coomaraswamy bekannt wurde; Wikipedia sagt Einiges dazu). Kaklea, so erzählt sie, wäre mit einer Choreografie zu Cages Komposition beauftragt worden, was sie anfänglich abgelehnt hätte, es wäre wirklich nicht ihre Art von Musik gewesen, sagt sie mit “alter weißer Mann”-Vibes in der Stimme.
Dann hätte sie recherchiert und wäre auf Verbindungen der “Sonatas und Interludes” und Cages generell zum Tanz gestoßen. (Zu den Verbindungen zu indischer Ästhetik sagt sie nichts.) Cage hätte immer wieder mit Choreografinnen gearbeitet, zumeist “racial ones” (Syvilla Fort, Pearl Primus, Valerie Bettis, Hanya Holm ). Sein erstes Stück für präpariertes Klavier, Bacchanale, entstand 1938—1940, als ihn die afroamerikanische Choreographin Syvilla Fort (1917—1975) um afrikanisch “inflektierte” Begleitmusik zu einer ihrer Choreographien bat (beide waren an der Cornish School beschäftigt). Die Methode der Präparierung des Klaviers durch Anbringung verschiedener Objekte zwischen den Saiten war den beengten räumlichen Verhältnissen im avisierten Aufführungsraum geschuldet, da Cage ein Stück für ein Perkussionsensemble schreiben wollte, wofür aber schlicht zu wenig Platz war (Quelle). Kaklea, so führt sie aus, wolle die weniger beachtete Dimension von Cage, seine Zusammenarbeit mit afroamerikanischen Choreografinnen, beleuchten, bearbeiten. “John Cage’s music will be in my service today” sagt sie, bestimmt, mit einem Unterton von abschätzigem Zorn. Den Beginn der Choreografie sieht man übrigens hier, aus 2023.
Die Choreografie zu den von Bass sehr souverän, aber auch eigenwillig gespielten “Sonatas and Interludes” (die Fünfer, die ich besonders gerne mag, erkannte ich kaum wieder) verhält sich dann zur Komposition auch immer wieder leicht bis offensiv mokierend, trotzig und rotzig. Dabei ist es, denke ich, schwierig, sich diese Art von Musik als Tänzerin zur Begleitung zu machen, weil sie sich mit ihrer besonderen Tonalität so in den Vordergrund drängt, dass Bewegungen, zumal so phrasierte, abgehackte wie jene Kakleas, umgekehrt leicht zur Begleitung der Komposition werden und ihr gegenüber untergeordnet wirken — wogegen Kaklea ja gerade rebelliert. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich fast, sie hat auch mit dieser Unmöglichkeit gespielt, wollte sie zeigen, ein Ringen der Bewegung mit der Musik vorführen. Dazu passt auch der Insektenkörper.
Trotzig und rotzig: Sie kriecht auf eine Videokamera zu, die an einer Ecke der Aufführungsfläche am Boden positioniert ist, schaltet sie ein, ihr Gesicht erscheint groß auf die Wand projiziert. Sie schneidet Grimassen, ein freches fuck you der Musik gegenüber aus jeder ihrer riesig sichtbaren Schweißperlen.
Ihr Körper spielt sich dort dann ganz in den Vordergrund, wo er sich auf Motive der Präsenz weiblicher Körper in Kultur, Tanz und Film generell bezieht: das Ballett, in Figuren noch im ledrigen Insektenkampfanzer stets eckig geratend, der Striptease, der Stück für Stück verteilt über das ganze Stück stattfindet. Sie ist dabei sehr spielerisch, läßt unter den schwarzen Lederteilen den knallroten Leotard aufblitzen, zieht die gern verrutschende Lederhose trotzig über ihr rot glänzendes Gesäß wieder hoch, bevor sie sie irgendwann ganz abstößt.
Auch mit Orlando Bass wird gespielt. Kaklea zieht an Schnüren die Videokamera vom Rand in die Mitte, hin zum Klavier, bis ein Bild seiner weißen Socken (auf den Klavierpedalen) riesengroß an der Wand erscheint und den Rest der Performance begleitet. Die zunehmende Nacktheit der Frau zu den riesigen weißen Socken des weißen Pianisten, das ist stimmig. Noch im Leotard mit schwarzen Schienbeinschützern legt sie sich auf den Rücken unter die Klavierbank, ihren Blick ruhig und unverwandt dorthin gerichtet, wo man das Gemächt des Pianisten vermuten darf, durch die Sitzfläche ihrem Blick verborgen. Das Spiel läuft eine Zeit vom Band weiter, beide stehen auf, es folgen gemeinsame Bewegungen, bei denen sie seine Kreise stört, der weiche Körper des Pianisten und der muskulöse Körper der Tänzerin, sie stellen etwas dar und sind gleichzeitig, das spürt man, miteinander als Künstler*innen vertraut.
Dann, später, zieht sie auch den Leotard noch aus. Erst zeigt sie uns mit einer Geste des Stolzes und der Anklage zugleich ihre nackten Brüste (eine Aufforderung hinzusehen bei gleichzeitiger Gnackwatsche für unseren Voyeurismus). Dann ist sie nur noch mit einer glänzenden hautfarbenen Strumpfhose bekleidet, unter der sich in ihrem Schritt der dunkle Schatten von Schamhaaren zeigt, den sie diskret durch gekreuzte Beine verbirgt, sich im Zustand der fast vollkommenen Nacktheit gegenüber dem Publikum auf eine berührende Verletzlichkeit zurückziehend. Ich mochte, wie sie es zustande brachte, in ein- und derselben Geste, Position oder Bewegung mehrere Impulse auszudrücken, das schien mir zu den Sonatas and Interludes denn auch sehr passend. Es kam dann noch zu einem Negroni Sbagliato und, irgendwo in der Frankfurter Innenstadt, dem besten Ayran meines bisherigen Lebens.
Bei den seven women muss ich an einen geplanten Gegenpol denken. Männer sind daran gewöhnt, sich Raum zu nehmen und den Raumanspruch anderer zu ignorieren. Sie reflektieren diesen automatisierten Machtanspruch nicht… Quelle: https://www.fes.de/wissen/gender-glossar/manspreading#:~:text=Was%20bedeutet%20Manspreading?,mehr%20Raum%20als%20ihnen%20zusteht.