Beijing in Bildern: aus der Kleeblattkreuzung
Abends versuchte ich immer, noch spazieren zu gehen. Wir aßen meist recht früh zu Abend, in der Kantine des Forschungszentrums, die mittags gut gefüllt war, abends dagegen nur von uns drei bis fünf Europafuzzis in Gegenwart einer Mitarbeiterin. Wir hatten dann den ganzen Tag über, mit Ausnahme der Mittagspause, über Kopien von Handschriften gesessen, die wahrscheinlich seit gut Tausend Jahren niemand mehr genau gelesen hatte. Das war und ist etwas Besonderes, doch das Besondere rückte in die Ferne unserer Aufmerksamkeit, als wir versuchten, in der für uns begrenzten Zeit so viel wie möglich zu entziffern, herauszufinden, zu erkennen, mit Müdigkeit kämpfend hier, Rhythmen zur effizienten Muskelentspannung findend dort.
Wenn die Kopien dann eingesammelt waren, glitten wir langsam aus der konzentrierten Stille solitärer Gebeugtheit in raunendes Plaudern, die Muskeln bewegten und entspannten sich, bis irgend jemand lachte, dann lachten bald alle. Das war meistens noch, bevor wir in den Aufzug stiegen. Das Abendessen dann in der bis auf die gerne lachende Kantinenfrau und gelegentlich ein paar Männer, deren Hierseinsgrund ich nie verstand (es schien nicht nur die Kantinenfrau zu sein), leeren Kantine. Es war dann noch möglich, in die Abenddämmerung hinein spazieren zu gehen, gerade noch, denn es wurde früh dunkel.
Ich gewann keinen Sinn für den Rhythmus der Stadt. Rush hour schien immer zu sein, jedenfalls immer, wenn wir irgendwohin gingen oder fuhren, zu der einen Universität, zu der anderen Sehenswürdigkeit. Es waren jedenfalls in den Abenddämmerungen viele Leute unterwegs, wenn ich die mehrspurige Stadtautobahn entlang nach Westen ging, die sich bald mit der anderen Stadtautobahn nach Norden kreuzte, in einer Kleeblattkreuzung. Stadtautobahn, Bundesstraße, was immer, kein Sinn für Dimensionen; mehrspurig jedenfalls und breit.
Ich blieb da, in der Kleeblattkreuzung, gerne stehen, orientierungslos zwischen Grünflächen und jenen Fahrbahnen, die die Kleblattränder markierten. Sah zu, wie andere Fußgänger*innen genauso wie ich die Ränder überquerten. Sie schienen mir alle zu spazieren, zu schlendern, so mit Hände hinterm Rücken, Taschen baumelnd irgendwo vom Körper. Männer in T-Shirt und Hose, auch ganz ohne Tasche, gepäcklose Menschen mitten in der Stadt ohne erkennbaren Aufenthaltszweck, da, in der Kleeblattschlinge in der Dämmerung. Am Rande der Fahrbahn ein recht breiter Zweiradstreifen, wie fast überall, der von Fahrrädern und Motorrädern benützt wurde. Kleine Leihfahrräder in knallgelb und knallblau, Legobikes, Mountainbikes, urbane Klappräder à la Brompton. Viele E-Motorroller, Erwachsene mit Kindern drauf, nicht diese Nepal- oder Vietnam-Bilder mit den ganzen Familien auf einem Roller, nicht diese Wien-Bilder mit der einen Person pro Fahrgerät. Manchmal fuhr jemand gegen die vorgesehene Richtung, da, auf der Zweiradspur, aber das schien niemanden zu stören. Es schien überhaupt ein Raum zu sein, da, zwischen den Spuren, wo niemanden etwas störte an der Bewegung der anderen, man bewegte sich einfach, ohne sich an etwas zu stören, ohne etwas zu genießen. Ich bemerkte dort keine Überwachungskameras, aber es kann sein, dass ich sie einfach nicht mehr sah; es gab ja so viele in der Stadt, dass sie zu bemerken nicht mehr angemessen zu sein schien.