I never felt so welcome in a public toilet (Beijing, September 2024)
Am späten Nachmittag dieses einen, langen Gehtages kam ich in Gulou zu einem Café; es lag an etwas, das aussah wie ein Platz, abseits der breiten, geschäftigen Straße von Ost nach West; es war jedenfalls eine rein zufällige Öffnung in den blockartigen Strukturen der Stadt, die keine Plätze vorsieht. Eigentlich suchte ich eine bestimmte Cocktailbar, von der ich auf WeChat gelesen hatte, fand sie aber nicht, weil ihr Straßeneingang noch verschlossen war. Es war ja noch früh. Die Kellnerin des Cafés jedenfalls antwortete auf meine gestisch vorgetragene Frage nach Alkohol mit einer Geste in einen angrenzenden Raum, der wie eine Höhle anmutete. Eine fein polierte Höhle. Eine anheimelnde Höhle. Das war die gesuchte Bar.
Eine Barfrau war bereits aktiv, sie wirkte streng mit sehr glatt zurückgestrichenen Haar. Pferdeschwanz. Der Martini, den ich dann wählte, sei recht stark, warnte die Barfrau. Er war angenehm bitter, bestand aus Martini, Sherry, Gin, Bilouchun (Grüntee) und einem großen Eiswürfel, im Gaiwan serviert. (Monate später lerne ich in einer Bar in Wien, dass die Herstellung dieser Eiswürfel keineswegs trivial sei, man würde sie hier bei einem Speziallieferanten bestellen, weil das Handling sonst zu aufwändig wäre.) Sehr kleine Schlucke, denn das Zeug ist tatsächlich recht stark. Jeder Schluck schmeckt anders, während das Eis langsam in den Cocktail schmilzt. Hinter der Bar treffen vier Leute Vorbereitungen für die Nacht. Sie schneiden und reiben; sie laufen hin und her, und zwar wirklich viel; sie gähnen. Der Alkohol fährt in die Blutbahnen und lässt die Szenerie wie ein Schauspiel wirken.
Als ich das Lokal verlasse, ist es schon dunkel; es wird hier ja schon früh dunkel. Eine öffentliche Toilette, von der es hier viele gibt, vermutlich auch, wie C., die italienische Kollegin meinte, weil es in den Hutongs eben keine privaten gäbe. In der Damentoilette nur dezent abgegrenzte Verschläge, keine Türen. Ich zögere instinktiv kurz, doch dann sagt eine Dame mittleren Alters mit herzlichem Lachen laut “Please come in!”, während sie ihre Hose hochzieht. I never felt so welcome in a public toilet.
Nichts will sich einladend anfühlen, was nach Nacht wirkt, gerade noch aber, was zum Tag gehört. Ich gehe in einen Milch- und Brotladen, weil da alle hineingehen, vor allem Frauen. Es gibt dort Croissants und ähnliches Gebäck, süß oder mit Würsten drin, Durian-Milch-Creme im Kühlregal. Und wenn man um diese Buffets herumgegangen ist, steht man plötzlich vor einem Glasschrank mit sauber gespülten Flaschen, die sich die Frauen herausnehmen, und dann dürfen sie aus einem weiß emaillierten Zapfhahn Milch in die Flaschen füllen, unter Anleitung, so nötig. Spitze Schreie der Begeisterung. Es gibt Gespräche mit weiß gekleideten Milchexpertinnen hinter dem Zapfhahn, Milchgespräche, vermute ich. An der Kasse packen weiß gekleidete Frauen mit Hygieneplastikhäubchen über ihrem schwarzen Haar die Milchflaschen vor den Augen der vergnügt jauchzenden Kundinnen in Kühltaschen. Ich nehme nur eines der dicken “Beijinger Joghurts” (Běijīng suānnǎi) mit den blauen Papierhäubchen, auch Nai lao genannt. Nailao ist eigentlich ein fermentiertes Milchgetränk, aus mit Nüssen, Rosinen, Zucker und Reiswein aufgekochter Milch, kredenzt in Keramikbechern mit blauweißen Papierhäubchen, durch einen Strohhalm getrunken. Es gibt sie überall, die Nailao-Becher. Hier gibt mir die Kassadame für meinen Nailao-Becher an der Kassa extra eine Kühltasche. Ich möchte sie spontan als zu groß gewählt zurückweisen, nehme sie dann aber doch, als Souvenir.
Dann doch noch, obwohl müde und eh schon leicht angetrunken, in die andere Bar, die namens “FLAVOUR”, von der ich auf WeChat gelesen hatte. Sie lag in einer Nebengasse, etwas abgelegen von anderen Lokalitäten und Geschäften, im Dunkeln. Kühler, unprätentiöser Stil, wie so ein New-Wave-Lokal im Wien der ausgehenden 1980er Jahre. Karierter Boden, Sie wissen schon. Eine junge Frau hinter der Bar, unprätentiös, bei der Cocktailzubereitung sehr konzentriert und sorgfältig. Die Cocktails tragen poetische Namen, ihre Zusammensetzung erzählt von Sorgfalt und Liebe zum selbst Angesetzten. Ich nehme einen “Morning, Beijing” aus mit Sesam-Erdnussbutter-Sauce angesetztem Whisky, Shaoxing-Wein, Walnüssen, Pistazien und Zitrone; später koste ich noch ihren selbst angesetzten Limoncello. Die junge Frau spricht wenig Englisch, ich übe mein Duolingo-Mandarin. Die Screenshots einzelner Sätze aus der Duolingo-App, mit gezeichneten Charakteren, die kulturell mit der erlernten Sprache nichts zu tun haben und einen sehr feinen Verfremdungseffekt erzeugen, sind übrigens total leiwande Conversation Opener. Die Leute lachen sich einen Ast ab und nehmen das tollpatschige Bemühen, sich ihrer Sprache anzunähern, erfreut zur Kenntnis. Die Barkeeperin und ich, wir behelfen uns dann auch noch mit unseren jeweiligen Übersetzungs-Apps.
Auf diese Weise erkenne ich allmählich, dass alle Cocktails nach Filmen benannt sind, deren Titel sich mir aus dem Mandarin nicht unmittelbar erschließen. Aber man findet sowas ja mit seinem Endgerät. Eric Rohmers “Le rayon vert”, Ingmar Bergmans “Wilde Erdbeeren”. Der “Morning, Beijing” bezieht sich auf “Beijing ni zao” (1990, Regie Nuanxing Zhang), den ich nicht kenne; IMDB gibt als Inhalt an “A female bus conductor falls into confusion of career and love when getting along with three young men.” Ich nehme noch einen “rayon vert”; er besteht aus Gin, Klebreiswein, Mezcal, Zuckererbsen- und Schraubenpalmenextrakt (Pandanus amaryllifolius) und Zitrone (und einem großen Eiswürfel). Die quadratischen Untersetzer, emailliert, mit modernistischen Bildern bemalt, sind übrigens nach Motiven aus den cocktailnamensgebenden Filmen gestaltet.
Die Barkeeperin, Barbetreiberin war noch nie in Europa, aber in der Türkei. Türkei? Ja, da wären sie hingeflogen, und das, wovon sie mir begeistert erzählen möchte, stellt sich nach einigen Anläufen als Drachenfliegen heraus. Sie wären in die Türkei gereist, weil der Flug dahin billig war, und dort hätten sie Drachenfliegen probiert, das sei toll gewesen. Kulturelle Referenzen, Erfahrungen, Andeutungen; ich erzähle von meiner ersten Chinareise 1989, da war sie natürlich noch nicht geboren, woraus sich natürlich Gesprächswendungen ergeben, die als politische Andeutungen verstanden werden könnten, aber weder sie noch ich folgen den Andeutungen. Es scheint, als wüssten wir beide nur zu gut, worüber wir nicht reden können.