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- 16 03 2024 - 16:57 - katatonik

Desolate (San Francisco, Februar/März 2024)

Ein Hotel in Nob Hill; ein altes, knarzendes Gebäude mit einem Lift mit innerer Faltmetalltür. Ein faux fireplace, der eine Gasheizung ist, mit einem Schalter aktivierbar. Eine Tischlampe mit Elefant als Fuß. Elefantenförmige Griffe am knarzenden Holzschrank. Schlecht schließende Fenster. Über dem Bett, hinter Glas und gerahmt, ein paar Zeilen von Kerouac in Courier gesetzt, auf bräunlichem Papier (Schreibmaschinenanmutung, Vergilbtheitsanmutung). Über dem Klo, auch hinter Glas und gerahmt, das Foto von Veruschka mit Gepardin. Verneigungen vor der Architektur des sehr frühen und der Kultur des etwas späteren 20. Jahrhunderts, alles leicht desolat. Wine hour ab 17 Uhr vor einem anderen faux fireplace, geschliffene Freundlichkeit des Kellners (Familie aus Mexiko), Vorabendplaudern mit anderen Gästen. Die Dame aus Norwegen, mit ihrer Tochter hier, beide, um einen Marathon zu laufen. Sie ist Ärztin auf einer Ölplattform, da hätte es unlängst einen Unfall des Transporthelikopters gegeben, alle sehr beunruhigt, schließlich ist der Transporthelikopter die life line jeder Bohrinsel. Reisesplitter, von den Massai, vom underground tunnel des Zenkōji-Tempels in Nagano, aus Guatemala.

Portsmouth Square, Chinatown, ein kleiner Park. Spielgeräte für Kinder, an denen ältere Leute, alle mit surgical masks, langsam Kraftübungen vollführen, Rücken aushängen. Ein Denkmal für die erste publicly funded school Kaliforniens. Eine Statue einer Frauenfigur, die “Statue of Democracy”. Eine ältere Dame mit Einkaufstaschen und einem Transistorradio (chinesische Lieder, Frauenstimme, schrill) möchte eine Tasche mit Blumen partout an den Sockel der Statue lehnen, doch der Wind weht sie immer wieder um. Das passt ihr gar nicht. Sie unternimmt mehrere Anläufe, selbst ein Denkmal des Starrsinns, bis sie dann doch die vom Wind abgewandte Seite findet und wählt. Ein Mann mittleren Alters, caucasian, Rucksack am Rücken, geht hin und her durch den Park. Er spricht laut in Rechtsdokumentssprache, als würde er Vorschriften für den supreme court (das Wort fiel mehrmals) rezitieren. Unter einer Pergola Obdachlose, aufgetürmte Besitztümer. Eine Gruppe Menschen am anderen Ende des Parks, gemischte Ethnien und Altersgruppen, versammelt um einen, der doziert. Es geht um irgendeine Vereinigung, der man nicht einfach beitreten könne, da müsse man schon Besonderes leisten, um aufgenommen zu werden. Es scheint nicht, als würde er Reiseführer sein; er klingt nach Seelenfänger. Eine Sekte vielleicht. Der Rechtsdokumentrezitator geht an der Gruppe vorbei. Seine Rezitation überschneidet sich mit der Seelenfängerei.

Abends dann die falsche Bahn erwischt, Metro statt BART, daher drei Kilometer entfernt von der Gray Area an die Oberfläche gekommen, von jenem Theater- oder Kinobau, wo an diesem Abend Actress und drei andere Acts auftreten. Noch Zeit genug, zu Fuß zu gehen. In den USA zerdehnt sich das immer, ich lese, es ist irgendwohin drei Kilometer und denke dann, ach, das geht doch locker zu Fuß. Dunkelheit, leichter Regen, wenige Menschen, Häuserblöcke, Palmen. Eine episcopal church, aus deren Innerem hartes Schlagzeug tönt. Dann die Mission Street, breit, Lokale, Shops, abgefuckt, temporäre food stalls am breiten, desolaten Gehsteig (mittel- und südamerikanisch), mehr Menschen, Taco shops, Gestalten, die ihren Körper schlecht oder nicht unter Kontrolle haben, stärkerer Regen.

Recht gebügelter Veranstaltungsort für “antidisciplinary collaboration … towards a more equitable and regenerative future”, der kritischen Auseinandersetzung mit Technologie und Kultur verschrieben. Angenehme Mezcal-Cocktails an der Bar, ausgesuchte Freundlichkeit allerorten. Die Konzerte im Rahmen des Noise Pop Festivals 2024. Der Sound passend zur Gegend: glänzende Dunkelheit, verborgene Dimensionen, Rohes und Desolates, aufblitzende Wärmemomente, überraschende Wendungen.

Erst Eileen Sho Ji, ein Ambient Set, sehr unterstützende Fanbase im Publikum. Dann alles Einpersonenshows. mars kumari, eine recht düstere Elektronikerin aus Oakland (Album I Thought I Lost You, hauntologisch verbrämt). Chuquimamani-Condori, bolivianisch-kalifornisch, mit Cowboyhut, lässt südamerikanische Musikelemente in brachial-tänzerische Elektronik hineinschmelzen (Album DJ E). Die alle führen vortrefflich hin zu Actress (Darren Cunningham, das ist gut hinzuzufügen, falls jemand Suchmaschinen betätigen möchte). Räume aus Sound gebaut, Skulpturen aus Sound ziseliert, visuelle Strecken, die sehr eigene Galaxien entwerfen. Live lohnt sich, der Mann kann Dramaturgie, oh, und wie (letztes Album LXVIII). Die Trackstruktur der Alben ist das eine, die Dramaturgie seines Live-Sets das andere. Mir kommt vor, man erkennt sein handwerkliches Geschick daran, dass er live zwar mit von den Alben erkennbarem Material arbeitet, aber dann doch einen sehr eigenen, neuen Klangstrom generiert. Ich bin hin und weg. Gleich nach dem Konzert strömt das Publikum unverzüglich nach draußen, viele in die nahegelegenen Taco shops, alles verläuft sich. Durch stärkeren Regen zur Metro-Station, etwas verirrt dabei. Die Station recht leer, erst später lese ich, dass sie nachts als gefährlich gilt. Ich spürte keine Gefahr.

Im Nordwesten der Stadt am Strand die Ruinen der Sutro Baths, benannt nach Adolph Sutro, in Aachen 1930 geboren, mit der Familie im Alter von 20 in die USA emigriert, vom Goldrausch nach San Francisco gespült, reich geworden, 1894 bis 1898 Bürgermeister von San Francisco. Die Baths: 1894 errichtete, luxuriöse Badeanlagen, bis zu 10.000 Menschen Fassungskapazität, in einer Bucht, die heute “Naiad Cove” heißt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts geschlossen, umgebaut, teils abgerissen, abgebrannt. 1897 klagte John Harris erfolgreich gegen die “whites only”-Policy in den Sutro Baths. Er erhielt eine recht geringe Kompensationssumme, von der er jedoch die Gerichtskosten bezahlen musste; praktisch dürfte der rechtliche Sieg dann auch wenig geändert haben. Ein Wasserbecken ist noch da, Reste von Steinmauern. Wenige Spaziergänger*innen, die sich gegen den an diesem Tag sehr starken Wind stemmen. Einige Wasservögel planschen; ich kann sie mit meinem Feldstecher nicht identifizieren. Der Wind ist so stark, dass es mir nicht gelingt, die Hände ruhig zu halten. Am Hang oben das “Cliff House”. Sutro hatte hier ein achtstöckiges viktorianisches Gebäude errichten lassen, das zwar nicht im Zuge des San Franciscoer Erdbebens, doch bald danach abbrannte. Weiter Blick über die Westküste. Mit den Wellen laufende Limikolen, im Sand laufende Menschen, kleine Striche.

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