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- 28 03 2024 - 17:14 - katatonik

M. (contd.)

Wie bist herkommen, mit dem Bus? Das fragt mich M. fünf Mal in zehn Minuten, und ich sage, jedes Mal, nein, der D., ihr Sohn, hat mich mit dem Auto mitgenommen. Ja, der D., sagt sie dann, ebenfalls jedes Mal, er kümmert sich so gut um sie, sie will keine Belastung für ihn sein, aber. Es gibt eine 24-Stunden-Pflegerin, der D. fährt jetzt nur noch einmal in der Woche hin, die Strecke von gut 120 Kilometern von da, wo er wohnt; woanders. Die Pflegerin, ja, hat sie sie mir schon vorgestellt? Sie ist sehr bedacht auf Höflichkeit, und auch das fragt sie mich mehrere Male. Und auch da, ja, geduldig die Antwort, wir haben einander schon vorgestellt, wir wurden schon. Der D. hat mich vorgestellt, als seine Halbschwester, das ist ein stilles Upgrade, denn eigentlich bin ich seine Stiefschwester, aber wer nimmt das schon so genau, sowas. Jedes Mal, wenn wir einander wieder vorgestellt werden sollen, nicken die Pflegerin und ich freundlich, ich um einen Tick freundlicher als sie, die so etwas den ganzen Tag erlebt und daher weniger frische Geduld aufzuwenden hat.

Die Pflegerin vermittelt von einer Agentur. Sie kommt aus Rumänien, ist dann vier bis sechs Wochen da, das ist schon lang an einem Stück, der D. findet das nicht so gut, denn auch die Pflegerin hat ja Familie und wird spürbar gereizter, je länger sie von der Familie weg ist. Die Pflegerin kümmert sich, sie will perfekt sein, aber M. ist nicht perfekt, und vor allem nicht immer ansprechbar. Sie will ihre Ruhe, vor sich hin sinnieren, nicht immer reden. Smalltalk fand sie immer schon ärgerlich öde. Sie wollte immer etwas lernen, immer etwas wissen. Sie möchte eine um sich, von der sie etwas lernen kann, aber 24-Stunden-Pflegerinnen sind halt nicht so, sie sind Frauen aus Ländern, in denen sich während ihres Lebens alles geändert hat, Frauen, die um ihre Familien kämpfen, von denen wahrscheinlich die Jüngeren irgendwo anders, in Deutschland oder so, alle verstreut, und dort, in Rumänien, Realitäten, die sehr weit weg sind von denen hier.

Die Pflegerin kümmert sich, sie will sich immer kümmern. Wenn M. sich nach vor beugt und etwas vom Couchtisch nehmen möchte, ist die Pflegerin gleich da und will ihr helfen. Das nervt leicht, es ist auch kontraproduktiv, denn M. soll sich ja bewegen und kognitiv so eigenständig wie möglich bleiben. Das muss geübt werden mit 86, wenn man schon dement ist. Sie ist sich ihrer Demenz bewusst, ich bin versucht zu sagen: noch. Sie weiß, dass sie vergisst. Sie ist oft ruhig, und dann glaube ich zu verstehen, dass sie in ihrem Gedächtnis nach etwas fischt und nichts findet. Sie quittiert das mit Humor, macht Witze, manchmal, dann wieder kommt da so eine Traurigkeit in ihre Augen über das, was sie verloren hat, eine Ängstlichkeit über das, was sie im Begriff ist von sich zu verlieren, wovon sie noch nicht wissen kann, dass sie es verlieren wird. Es gab Schwierigkeiten, Andeutungen von Aggressivität, Spannungen. Sie hat nun ein Medikament verschrieben erhalten, das Ausbrüche verhindern soll. Sie wirkt ruhig. Wirkt sie gedämpft? Ich könnte es nicht sagen.

Die Finanzen, das Organisieren, alles macht der D. Der Antrag bei der Krankenversicherung auf Erhöhung der Pflegestufe, Aufteilung der Medikamentenrationen für die nächsten zwei Wochen auf kleine Schächtelchen mit Tagesdosen, Durchsprechen der Medikationsrhythmen mit der Pflegerin, Telefonate mit der Diplompflegerin bei der Agentur, die die Pflegerinnen organisiert. Lebensmitteleinkäufe; die Pflegerin kocht. Aber meistens isst sie eh Chips und Soletti, Chips und Soletti, das macht sie glücklich, das bringe ich ihr also mit. Sie hat ihr Leben nicht mehr in der Hand, wie sie es immer in der Hand hatte, geschult im Buchhalterischen, flink mit den Zahlen. Es scheint ihr recht zu sein, dass der D. das alles macht, sie wirkt dankbar, aber es kann nicht leicht für sie gewesen sein, das Aufgeben, das Abgeben.

Das Wissenwollen will sie noch nicht abgeben. Die Bücher da links, die gehören geordnet, sagt sie, mehrmals. Das hat sie vor. Ich beginne mich daran zu gewöhnen, meine stillen Gedanken auszusprechen, weil ich so viel mit ihr sprechen will, wie ich kann. Es fühlt sich ein bisserl an wie Improvisationskunst. Du legst jemandem etwas vor, ein paar Sätze, dann kommt etwas, in eine oder andere Richtung, und so geht es weiter. Es muss nicht kohärent sein, darauf kommt es nicht mehr an. Es geht nicht mehr um Inhalte, es geht um Gesten. Es muss kein Ratschlag sein, keine Nachfrage, es reicht eine Sprache der zugewandten Beobachtung. Ja, da hast Du ja viele Nachschlagewerke, Brockhaus, Langenscheidt-Wörterbücher, jede Menge. Ja, sagt sie, sie muss viel nachschlagen, das ist ihr am wichtigsten, dass sie nachschlagen kann, wenn sie etwas braucht. Was soll sie machen, mit dem Lernen, fragt sie mich, und ich sage zu ihr, nimm dir was, wovon du eh schon viel weisst, Altgriechisch jetzt, zum Beispiel, das hast du doch immer gern gemacht, schau da doch wieder rein, freu dich, was du kennst, schau, was du da noch Neues lernen kannst. Aber fang lieber nicht was ganz Neues an. Ja, sagt sie mit überraschender Klarheit, was ganz Neues, weisst, das vergess ich dann immer, und dann hör ich auf mich zu interessieren, das geht nimmer, das freut mich nimmer.

Sie ist aus der Welt. Ihr von Israel oder der Klimakrise zu erzählen, das hat keinen Sinn mehr, hat der D. gesagt. Sie vergisst es sofort, oder vielleicht will sie es vergessen, denn, weisst, manchmal vergisst sie halt schon auch einfach nur, wenn ihr etwas nicht passt, wenn sie etwas nicht interessiert. Sie ist in ihrer Welt, sie hat noch eine Welt, die die ihre ist, aber so, wie ich mir das vorstelle, wird diese Welt zusehends verwaschener, ungreifbarer, nicht linear, vielleicht noch nicht linear, in Pulsen, in Wellen.


Danke für diesen einfühlsamen Bericht! Sollte ich mal dement werden, wünsche ich mir genau diese Art: noch Witze machen können und nicht aggressiv werden, weil ich vergesse!

ClaudiaBerlin (Mar 30, 10:29 am) #

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