Diskrepanzen
Krank, viele, die mit den Kindern zu Hause sieht man zurzeit nicht; E-Mails, in denen so Sachen wie “40 Grad Fieber” vorkommen. Nasse Dunkelheit zumeist, windiges Grau tagsüber, warm beleuchtete Innenräume von Lokalen, die man wieder zu meiden beginnt, eh total überfüllt, man kriegt ja nirgends einen Tisch zurzeit, die Leut sind alle wahnsinnig.
Die amerikanische Kollegin, die sich überlegt, nach Wien umzuziehen, weil man hier nicht nur arbeitet, sondern auch lebt. Hier dagegen Kollegen in einer Arbeitsgruppe, die für eine enorm wichtige und zeitkritische gemeinsame Aufgabe nicht bereit sind, einen Besprechungstermin auf einen Samstag zu legen, ausnahmsweise, unter der Woche aber auch nicht, denn da wäre ja ein Geburtstag. Diskrepanzen.
Die US-Kollegin, eine vor Leben sprühende, hochintelligente Frau, die eine Studie über Langzeitmeditierende aus tibetisch-buddhistischen Traditionen leitet; man konzentriert sich derzeit auf die Auswirkungen von Langzeitmeditation auf den körperlichen Verfallsprozess nach dem Ende der Hirnaktivität (also, was die klinische Medizin als Tod definiert). Bemerkenswerte Verzögerung von ansonsten einsetzenden Prozessen, auch bis zu 40 Tage lang.
Und sie steht vor uns und spricht über “biomarkers” und erzählt von der minutiösen Analyse von Mikrobiomen, Körpergerüchen und an verschiedenen Körperstellen messbaren Temperaturen, ein paar Tage bzw. ein paar Wochen nach dem Hirntod, und es ist plötzlich vollkommen stimmig, selbstverständlich und wichtig, dass man sich so mitten im Leben stehend und so voll von Leben mit der biokulturellen Grauzone beschäftigt, wie sich der Weg aus dem Leben hinaus gestaltet, und damit, wie man das zusammenkriegen kann, wie sich verschiedene Wissenssysteme dieser und jener historischer und kultureller Provenienz damit beschäftigen.
Gelernt: In der US-Forensik gelten Mikrobiome zusehends als zuverlässigere und feinere Indikatoren für die Ex-Post-Bestimmung des Todeszeitpunkts als Zustände wie Rigor mortis. Und: Es gibt offenbar auch international tätige Teams, eine Art “Morticians without borders”, die vor allem nach Naturkatastrophen die Körper bzw. körperlichen Überreste von Verstorbenen analysieren, Rückführungen einleiten. “Disaster Mortuary Operational Response Team” (DMORT) nennt man das.
Diskrepanzen. Acht Gänge in einem Lieblingsrestaurant, diesmal mit dem Bruder, begleitend wird Sake verkostet. Der N. hat nach 15 Jahren die B. verlassen, einfach so, sagt ihr das im Auto im Stau auf der Urlaubsrückreise, dass er seit drei Monaten eine Jüngere, wie grausam kann man sein, und er spricht nicht mit ihr, spricht einfach gar nicht mehr mit ihr. Dieser Sake kommt aus Shizuoka, Poliergrad 55, eher fruchtig, danke, oh, vorzüglich! Die P. will sich vom M. trennen, er sagt, soll sie halt gehen, aber er bleibt mit den Kindern im Haus, und dann werden die Geschichten noch dünkler. Dass Anwälte ins Spiel kommen, unvermeidbar, wie’s scheint, aber so überflüssig zugleich, und mit dem Geld könnt man ja auch was Sinnvolles … Auster mit dunklem Miso, in das Foie gras eingearbeitet wurde, danke, Wahnsinn. Hat es geschmeckt, ja, wirklich wunderbar, es tut uns leid, dass wir bei jedem Gang nur “wunderbar” sagen, aber es ist einfach so, man kann nichts anderes sagen. Und die Themen sind vielleicht düster, in Familien ist das halt so, in dieser scheint’s vielleicht noch öfter als in anderen, aber man kann es schon wunderbar finden, wie man sie besprechen kann, wie wir sie besprechen können, immer wieder, mit dieser Mischung aus einem Bewusstsein erlittener (und zugefügter) Verletzungen und ihrer unleugbaren Wirksamkeit, mit trotz allem oder wegen allem bewahrter Lebensfreude, und ausgesuchter Pragmatik. Noch einen japanischen Whisky, bitte.