Die Seriösen
Ich stelle mir die, denen ich online nicht begegne, immer furchtbar seriös vor, um mich dadurch zu beruhigen, dass es noch die Seriösen gibt. Also Leute, die nicht ihre Abende in sozialen Netzwerken verbringen, um Kalauer auszutauschen, Katzenvideos zu finden oder abseitige Musik zu suchen, die keine Meinungen posten oder sich in Debatten verstricken, die kein Mensch in 240 Zeichen sinnvoll führen kann, auch nicht in 500, und schon gar nicht mit Bildern von Selbstgekochtem.
Leute, die statt dessen befreit vom Zugriff diverser Internetprotokolle unter energiesparenden LED-Lampen Bücher lesen, zum Beispiel, stundenlang am Stück, von einer Seite zur nächsten blätternd, manchmal auch zurück, um etwas wiederaufzugreifen, vor allem bei Sachbüchern, die sie auch lesen; es kann und muss ja nicht immer Belletristik sein. Da muss ja viel verarbeitet werden, und wenn etwas im Gedächtnis hängenbleiben soll, da muss es schon vorwärts und rückwärts gewälzt werden. Sie blättern also so, und lesen so, ohne auch nur einen Gedanken an etwas anderes zu verwenden als an die Zeilen, denen ihre Blicke und ihre Aufmerksamkeit folgen. Es juckt sie nichts, es kratzt sie nichts. Wenn sie Bedürfnisse verspüren, nach einer Tasse Tee oder einem Glas Wasser, dann schließen sie die Bücher, nicht, ohne zuvor noch ein Lesezeichen einzulegen. Sie tragen Brillen, selbstredend, und sofern sie Familienmitglieder oder andere Mitbewohner*innen haben sollten, die gelegentlich etwas von ihnen wollen, während sie so lesen, dann blicken sie über den oberen Brillenrand hinweg, erst, schenken den Wollenden dann aber ihre ganze Aufmerksamkeit, ihren ganzen Blick, das ist seriös so. Sie lächeln und haben dabei Augenfältchen, kratzen sich am Kinn vor lauter Aufmerksamkeit, das je nach Geschlecht über Bart verfügt oder auch nicht.
Ihre Konzentration ist ungebrochen, und zwar nicht nur abends, wenn sie lesen, was sie nicht jeden Abend tun; manchmal hören sie auch Musik, wobei sie sitzen, einfach nur sitzen, den Kopf etwas schräg halten, in die eine oder andere Richtung, woher immer auch die Musik ihnen besser zu ertönen scheint, das wechselt auch, von Takt zu Takt, also ja, sowas machen die auch abends, manchmal. Sie gehen auch ins Theater, wo ihre Blicke nicht hin- und herzucken, sondern auf dem ruhen, was sie sehen. Meistens bewegen sich ihre Blicke nur mit dem Kopf, denn sie wenden sich etwas zu, und zwar ganz, ohne wenn und aber, also nichts mit furtive glances, hastigen Seitenblicken, huschenden Blickscheinwerfern, dieses ganze Zeug, nein, das machen die Seriösen nicht.
Ungebrochen ist ihre Konzentration, tagsüber, wenn sie ihren beruflichen Tätigkeiten nachgehen, mit einer ganz und gar planvollen Geschäftigkeit, stets höflich im Umgang mit Menschen im Dienstleistungsgewerbe, leutselig, durchaus, immer einen kleinen Witz auf den Lippen, der das Gegenüber entspannt und für sie einnimmt, ihm aber nicht zu nahe tritt und auf keinen Fall unter die Gürtellinie greift. Wenn sie über die Straße gehen, tun sie das schon auch bei Rot, so sind sie nicht, aber immer nur dann, wenn es geboten ist. Sie wissen genau, wann sie ihre Mobiltelefone auf unhörbar stellen und vergessen auch nie, diesen Zustand wieder zu beenden. Sie telefonieren leise im öffentlichen Raum, nur das Notwendigste im ÖPNV, denn sie stören niemanden. Sie machen nichts, was man nicht macht, außer, wenn es geboten ist. Über ihr Privatleben, ihr Liebesleben gar, da weiß ich nichts, denn die Seriösen sind diskret. Sie lassen nichts durchscheinen. Es entgleist ihnen nichts, es entgleitet ihnen nichts. Vielleicht weinen sie nachts am WC, schlagen ihre Köpfe vor Ohnmacht und Hilflosigkeit gegen die Tür oder die Wand, wahrscheinlich letzteres, das ist rücksichtsvoller — aber auch davon weiß ich, ganz ehrlich gesagt, nichts. Ich muß das auch nicht wissen; es genügt mir zu wissen, dass es sie geben könnte, die Seriösen, das beruhigt mich ganz ungemein.
Ja, ich kenne einige Leute, die gut und gerne ohne Internet leben. Sie sind so wenig Klischee wie diejenigen, die das Netz in unterschiedlicher Weise nützen. Ich empfinde die Schreibe dieses Artikels als unangenehm süffisant. Es zeigt für mich, daß jemand, der im Internet unterwegs ist, nicht unbedingt mit größerer Offenheit ausgestattet sein muß.
Ich finde, für einen zappligen Onlinemenschen hat das Autory uns Seriösen (die wir zuweilen – dann zehren und erzählen wir aber auch lange davon – Ausflüge ins Netz unternehmen, um uns danach rasch wieder in die Leseecke zu flüchten) in unserem Wesen ganz gut erfasst. Und dass es zum Köpfe-gegen-Wände-Hauen genügend Gründe innerhalb und außerhalb unseres eigenen Seins gibt, wissen die Katzenvideolurker ebenso wie die Seriösen.