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- 28 07 2023 - 14:57 - katatonik

Vom Diesel und dem gekonnten Überhören

DJ DSL, also das DSL steht ja für “Danube Super Leiwand”, aber unsereine hat damals, so 1992, 93, gern einfach liebevoll “der Diesel” gesagt. Das war die Zeit, als raves aufgekommen waren (Erinnerung an rosa Nebelschwaden in einem der damals leeren Gasometer), eine Kultur und Musik, mit der ich wenig anfangen konnte; mit DSL, dem hiphoppigeren und reggaefreundlicheren, aber schon. Eine Zeit, in der DJs an neuen, damals unerwarteten Plätzen aufzulegen begannen (DSL einmal auf der Donauinsel), sich die Stadt gewissermaßen erturntablisierten. DSL in einem Hörsaal, noch mit abgestuften Sitzbänken drin, des bereits abgesiedelten alten Allgemeinen Krankenhauses, noch bevor es zu einem Universitätscampus umgebaut wurde; Baustellencharme. Der Hörsaal war da, wo heute die Aula ist, ohne Sitzbänke. Ich bin oft dort zu Veranstaltungen und denke fast jedes Mal an den Morgen, an dem ich damals hier hinausspazierte. Oft auch im Club Roxy im 4. Bezirk, ein eher kleines, schummriges Barlokal. Der Diesel hatte immer so eine Aura des stillen Grundsympathlers, da hinter seinen Plattentellern, und würdigen tun ihn diverse Leute in diesem TAZ-Artikel sehr gut. “DSL konnte man mit zwei Platten so lange alleine lassen, dass sich ein Frühstück locker ausging und ich mir dann nach einer Stunde die völlig durchgedrehte Crowd wieder abholen musste. Dass er die ganze Zeit denselben Song spielte, checkte keiner”, sagt Peter Kruder da. Die Verläufe, das langsame, Sich-Zurücknehmen und dann wieder Beats aufbauen, das hatte ein musikalisches Geschick, oha. Doppel-Oha, dreifach-Oha.

Gestern beim Popfest Wien, wo man sich am und rund um den Karlsplatz Pop und Verwandtes gratis reinziehen kann, da legte DSL mit anderen im Club U auf. Der Club U ist ein Lokal — für die, die Wien nicht so kennen — in einem von Otto Wagner errichteten Pavillon, einem Stationsgebäude der ehemaligen Stadtbahn, das im Zuge des U-Bahn-Baus seine Funktion verloren hatte. Oben Stationsgebäude, Jugendstil draußen, schwarzweiße Fliesen innen, Stiegen runter in ein schummriges Cafe mit 1980er-Polster-Charme, das von der U-Bahn-Passage aus zugänglich ist. Dort, im Schummerbereich, legen DJs auf, das tun sie jetzt immer noch, offenbar; ich war da schon gut 20 Jahre nicht mehr. Oben im Wagner-Bau eine Cocktailbar mit einem sehr freundlichen, älteren Barmann, der ernsthaft bei der Sache ist und mir noch einen Happy-Hour-Preis auf eine umwerfende Caipirinha gibt, eine umwerfend großzügige Caipirinha, obwohl die Happy Hour technisch gesehen schon fünf Minuten vorbei ist, danke, sehr nett.

Unten ist’s gut voll, ich treffe den Zeitpunkt gut, da der Diesel gerade anfängt, so gegen elf. Es dauert maximal fünf weitere Minuten, bis ich total begeistert bin. Die Fußverletzung gestattet nicht, dass ich tanze, und ich befolge brav die Warnung des Physioknechts, der meinte, ich wäre in einer kritischen Heilungsphase, in der man sich gerne überfordert, und dann komme man aber aus dem Scheiss einfach nicht mehr raus, das könne böse enden mit chronischem, längerfristigen Zeug. Also nicht übertreiben. Ich wippe also vor mich hin, man kann ja eigentlich nicht anders beim Diesel. Das Publikum sehr gemischt, an Alter, Gender, Kleidungsfarben, Hautfreilegungsgraden und ablesbaren Ethnizitäten. Ebenfalls schwarz gekleidete Frauen ähnlicher Altersstufe lächeln mir zu, wippend, ich lächle zurück, auch wippend.

Als der Diesel dann wieder an einen anderen DJ übergibt, mache ich mich allmählich auf; ich habe am nächsten Tag noch was vor mit meinem Hirn. Oben, draußen stehe ich kurz zwischen zwei Sonnensegeln, von der Caipirinha leicht benebelt, besprüht von zartem Nieselregen, oder war’s eine Nebeldusche? Da kommt ein Typ auf mich zu und sagt, “gekonnt überhört”. Mein Gesicht sagt “hä?”, er sagt, ich hätte vorhin auf den Stufen gekonnt überhört, wie er zu mir gesagt hätte “ich hab auf deinen Arsch geschaut”.

Ich empfinde fortgeschrittene Situationskomik. Mein 23jähriges Ich hätte wahrscheinlich gesagt “und, was hast g’seh’n: lächelnden Buddha, das Gesicht unseres Heilands oder die vier Arme des Shiva?” oder sonst sowas Dadaistisches, das leichten Wahnsinn ausstrahlt. Dadaistische Nachtkommunikation schätzte ich damals sehr; es war in den frühen 90ern für mich ein steter Quell des Ärgernisses, wenn Leute Unterhaltungen so langweilig mit Verortungsgesprächen begannen (“und, was machst du so?”), statt sich aus der Situation ergebenden Flachsinn fantasievoll voranzutreiben. Man sollte sich halt am Diesel ein Beispiel nehmen, so, wie er die Plattenspieler betätigt, sollte man Gespräche dazu angehen, irgendwie musikalisch. Jedenfalls hätte dadaistischer Wahnsinn den Burschi, der eigentlich kein Burschi war (Typ sportlich-drahtiger, sonnengebräunter Cruiser, bissi schmächtig, um die Vierzig, kein nennenswerter Arsch, übrigens), sofort in die Flucht geschlagen, Arsch hin oder her. Heute reicht freilich von meiner Seite ein leicht zugespitzter Blickstrahl über den Brillenrand hinweg, und er ist gone, da brauche ich meinen Wahnsinn gar nicht zu bemühen, er wär’ eh verschenkt.

Machen Typen das heute, also ihren sexualisierten Blick auf Frauen im Nachtleben ausdrücken, zur Sprache bringen? “Ich hab auf deinen Arsch geschaut”, “meine Blicke streiften gerade deine Brüste”, sowas in der Art? Ist das ein Ding? Wenn ja, wohin soll das führen? Was erwarten sich die? Kommen die damit dorthin, wo sie vermutlich hin wollen? Nicht, dass ich grundlegende Einwände gegen sexualisierte Blicke im Nachtleben hätte, aber diese Art der sprachlichen Verbrämung, na, I brauch’s net.

In Komödien würde dann eventuell sowas passieren wie: Ich sitze einige Tage später im Business-Outfit, taubenblauer Hosenanzug, in einem Meeting, in dem ich, sagen wir, als Vertreterin einer wissenschaftlichen Einrichtung mit Herren von der Bundesimmobiliengesellschaft über Lärmschutzmaßnahmen in einem neu besiedelten Institutsgebäude verhandle (das ist nur zum Teil weit hergeholt). Da wäre dann zufällig der Burschi, nicht als direktes Gegenüber auf gleicher Hierarchieebene; dieses Zniachtl kann bestenfalls den Adlatus eines Oberbosses geben, der das Gespräch mit der taubenblauen Repräsentantin führt. Und die stellt mit sich kühl steigernder Rhetorik die Problematik zu dünner Trennwände vor, es geht um Arbeitsrecht hin oder her, und da kommt dann irgendwann auf, dass die Mitarbeiter:innen sich ja bemühen würden “gekonnt” die Telefongespräche zwei Räume weiter “zu überhören”, aber dafür wären die Wände einfach zu dünn, nichts mit “gekonnt überhören”, diese Anspielung würde im Komödienskript ausgereizt bis zum Gehtnichtmehr, und das Burschi würde langsam verschrumpeln in seiner sonnengebräunten Zniachtligkeit.

Im “gekonnt Überhören” war übrigens damals, in den frühen 1990ern, M. die Spezialistin; sie war auch Expertin im gekonnten Übersehen. Denn man muss natürlich bei aller Begeisterung für den Diesel sagen, es waren ausreichend, verzeihen Sie mir den Ausdruck, übergriffige Sautrotteln unterwegs in diesen Nächten, die junge Frauen deppert anschauten, deppert angingen. When we were young, life wasn’t always beautiful. M., mit der ich oft unterwegs war, war häufig Objekt solcher Blicke und Ansagen. Ich glaube nicht, dass ich jemals jemanden kennengelernt habe, der so elegant bewusst Menschen ignorieren konnte.

Ich, ich habe gestern übrigens den Sager vom Burschi nicht gekonnt überhört, sondern einfach gar nicht gehört. Wenn eine älter wird, erspart sie sich mit gewissen Gebrechlichkeiten dann doch so Einiges.

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