Lebensräume
Im Forschneritschpark, einem Beserlpark von recht überschaubarer Größe, steht an diesem Samstag die Bezirks-ÖVP. Sie steht da mit einem alten VW-Bus, der zum Retro-Verbrennerfetisch der Partei passt. Der VW-Bus ist türkis, auch die T-Shirts der Handvoll Parteimänner und -frauen sind türkis, auch der Eisstand ist türkis, mit dem man Seelen anlocken möchte. Die Chancen, dass Seelen dieses Bezirks tatsächlich bei der Nationalratswahl im Herbst wählen, sind freilich nicht allzu groß. Im 15. Bezirk verfügen 44% der Bevölkerung im wahlfähigen Alter über kein Wahlrecht (Stand 2023), da sie keine österreichischen Staatsbürger sind; 19,2% davon sind EU-Bürger und dürfen auf Bezirksbene wählen.
Ein wohlgenährt wirkender Austrotürke, definitiv noch nicht im Wahlalter, nutzt seine Chance und holt sich ein Eis, das wohl gratis ausgegeben wird. Vielleicht ist auch das türkis. Ich überprüfe es nicht, denn mich hält eine unsichtbare Bannmeile von ÖVP-Ständen fern, ebenso wie von den FPÖ-Ständen, die gelegentlich in der Halle des Meiselmarkts auftauchen; da sieht man immer Menschen — nie viele —, denen man ohne weiteres Bluthochdruck und Alkoholprobleme zutrauen würde, und dass sie nach spätestens drei Sätzen irgendwelche Ungeheuerlichkeiten sagen. Eine junge Frau nähert sich ebenfalls dem ÖVP-Eisstand, sonst ist da niemand, weit und breit, denn es ist August und Samstag Vormittag. Die meisten Leute sind weg und die, die da sind, sind am Meiselmarkt ein Stück weiter den Hügel hinan einkaufen. Wer immer von den türkisen Bazis die Idee hatte, den Stand im Forschneritschpark aufzustellen, war schlecht beraten, wenigstens für diese Uhrzeit.
Im Bezirk neuerdings auch mehr Tourist*innen. So kommt es mir vor; auf meinen rekonvaleszenzbedingt bezirksbeschränkten Spaziergängen sehe ich immer wieder Menschen mit Rucksäcken, Rollkoffern, Menschen, die jetzt nicht gerade wie Ansässige beim Abreisen aussehen. In der Apotheke unlängst ein Paar mittleren Alters aus einem skandinavischen Land; er sprach deutsch und übernahm die Konversation. Was mit Abführmitteln, sie wurden fachkundig beraten. In der Bäckerei, die übrigens im Ruf steht, einem der FPÖ nicht abgeneigten Herrn zu gehören, der diese nun aber an einen Türken verkauft haben soll, wobei er, der Meisterbäcker, aber noch weiter bäckt, hervorragendes Brot übrigens, wo aber immer schon Chinesinnen oder Türkinnen hinter der Budel standen, weisst noch, die Hantige da, die war dann aber irgendwann nicht mehr da. Die andere, die Freundliche und G’schwinde, aber auch nicht.
Also jedenfalls: In dieser Bäckerei, die ihr Sortiment aus verschiedenen Kornbroten und -weckerln und sogar veganen süßen Backwaren zunächst beibehalten hat und jetzt nicht sofort, wie manche befürchteten, auf Baklava umgeschwenkt ist, von dem’s eh schon so viel gibt in der Gegend — also in dieser Bäckerei geraten wir an diesem Samstag in einen offenbar schon etwas länger andauernden, gelegentlich eruptierenden Disput zwischen der austrotürkischen oder -balkanesischen Verkäuferin und einer spanischen Touristin. Die Spanierin, eine sehr fein zurechtgemachte Dame, sitzt mit zwei jungen, auch sorgfältig zurechtgemachten Mädels, bei Café con leche (Melange) im Bäckereigastgarten vor der Tür. Gerade, als wir eintreffen, springt sie plötzlich auf und trägt einen Schoko-Topfen-Muffin (ausgezeichnet, übrigens) zur Budel, hält ihn der Verkäuferin vor, bis fast unter die Nase, entrüstet. Es gäbe halt Bienen im Garten, sagt die Verkäuferin in einer offensichtlich bereits seit längerem eingenommenen Pose der Patzigkeit, da könne man doch nichts dafür.
Daraus schließe ich, dass der Muffin und die Spanierinnen von Wespen belästigt wurden — es ist ja die Saison — und die Spanierinnen dies als Beschwerdegrund behandelten, eine Sicht der Dinge, die die Verkäuferin nicht teilte. Die Spanierin zog sich dann gleich wieder zurück zu den Mädels; ein paar Minuten später kam sie wieder und ließ ihre Google-Translator-App in perfektem Deutsch fragen, “was kostet der Milchkaffee?”. Sie schien die Antwort (“vier Euro”), die ihr mit Fingern, sowie zusätzlich auf Englisch und auf Spanisch vermittelt wurde, nicht zufriedenstellend zu finden und zog sich wortlos, jedoch weiterhin indigniert, erneut zurück zu den Mädels. Eine nächste Eruption schien unvermeidlich. Wir entkamen ihr durch raschen Broterwerb.
Ein weiterer Beserlpark in der Gegend wurde aufwändig neugestaltet, inklusive im Vorfeld durchgeführter Umfrage unter den Anrainer*innen. Der Park ist jetzt kleinteiliger, zusätzlich zu Ballspielkäfig (renoviert) und Bankerln (vermehrt) gibt es Tischtennistische, Fitnessgeräte, ein Kinderspielareal mit Rutsche und Schaukeln und weichem Baumrindenboden, Hängematten, Tische mit Bänken. Schläuche für die Baumbewässerung. Es gibt auch ein Öklo, eine ökologische österreichische Toiletteninnovation, die sich in Wiener Parks immer häufiger findet. Ich hätte die ÖVP-Bazis fragen sollen, was sie von Öklos halten. Wahrscheinlich wären sie implodiert, den Konflikt zwischen der Notwendigkeit, sich für ein innovatives österreichisches Unternehmen auszusprechen, dem Hass auf alles Ökologische und auf die Rastalocken des Öklo-Typen, das hätten sie nicht ausgehalten.
Letzte Woche spazierte in diesem Beserlpark zu zwei recht unterschiedlichen Tageszeiten ein Chinese auf und ab, sehr hektisch in sein Telefon sprechend. Ein Tourist? An diesem Samstag stelle ich mir vor, es wäre Shao gewesen. “Shao” ist jener Duolingo-Account, der aktuell in der “Ruby League” einen Platz vor mir liegt. Man steigt in dieser recht geschickt gamifzierten Sprachlern-App ja von einer nach einem Edelstein benannten Liga in die nächste auf, indem man durch Lektionen unterschiedlicher Art (optional unterstützt durch In-App-Käufe) Punkte erwirbt. User*in Shao, mutmaßlich mit einer chinesischen Sprache aufgewachsen (genau weiß man das nicht, der Account ist recht privat), lernt Deutsch, und ich finde das so spontan ziemlich unfair, denn ich lerne Mandarin und vermute, die Punktezahl ist bei Duolingo standardisiert. Mandarin zu lernen muss aber für mich als mit Sprachen mit Alphabetverwendung Aufgewachsene schon wegen des Schriftsystems, wegen der riesigen Anzahl von Schriftzeichen, so viel schwieriger sein als Deutsch für Shao.
Dann erinnere ich mich an die erstaunlichen Fehler, die Japaner*innen in der Verwendung von Alphabeten machen können, wie schwer es für sie sein kann, für Unsereine sehr simple Zeichenketten zu lesen. Der Fremdheitsgrad ist wohl gewaltig; Lernschwellen haben offenbar nicht nur mit Stoffmenge zu tun. Shao ist jedenfalls top, uneinholbar voran. Das spornt mich an, während ich Sätze lese, übersetze und nachspreche, die sowas bedeuten wie “Do your father and you like to buy things?”, “The day after tomorrow, I want to go to the park, but it will be windy” oder “Kevin will go to the Forbidden City to study Chinese history”. Ja, es gibt dort Kevin (“Kaiwen”) und Mary (“Mali”). Ich hätte der Bäckereispanierin ohne weiteres auf Mandarin antworten können, so weit bin ich schon nach einem knapp 30tägigen Streak. Jedenfalls finde ich die Vorstellung, im öffentlichen Raum auf den ersten Blick hektisch und manisch in ihr Telefon Hörende oder Sprechende könnten dies zum Zwecke des Wissenserwerbs tun, sehr ansprechend. Gern auch zur Begehrenspflege, warum auch nicht.
In diesem Beserlpark ist seit der Neugestaltung fast immer irgendwer, und man sieht das auch, da der Park von umgebenden Büschen befreit wurde (was die Spatzenpopulationen weniger gut fanden, sie sind verschwunden) und somit einsichtiger ist, durchlässiger gegenüber der Umgebung. Pensis hocken im Schatten, Jungeltern tun sich mit Kiddies am Spielplatz um, Leute spielen Tischtennis. Im Käfig gibt es ferienzeitlich bedingt mitunter Jonglier-, Balancier- und Ballspieltrainingsangebote für die Kids in der Umgebung, die da auch tatsächlich hingehen. In den Hängematten (aus Seilen) ruhen sich Leute gern aus, die Fitnessgeräte werden von Kids beklettert oder halbherzig von älteren Menschen bewegt, denen man Bluthochdruck oder Alkoholprobleme zutraut, Siewissenschon. Auch hier wären Ungeheuerlichkeiten nach drei Sätzen durchaus im Bereich der Möglichkeit, freilich mit anderem Hintergrund (Balkan).
Manchmal laufen Typen herum, die etwas entrückter wirken, schäbiger gekleidet, dünklere Hautfarbe, da denkst du dann spontan an das, was vom Yppenplatz berichtet wird, mehr Drogenhandel, damit verbundene Brutalitäten, überhaupt, Bandenkriege, Tschetschenen, Syrer. Du fragst dich, ist der Typ da ein Vorbote, kommst dir dann gleich vor wie so ein neighbourhood vigilante, denkst, naja, so ein Blödsinn, er kann doch auch einfach einer sein, dem es ganz ohne Beschaffungskriminalität dreckig geht, gesellschaftsentwicklungsmäßig keineswegs unwahrscheinlich, wäre ich in der Situation, würde ich einen adrett gestalteten Beserlpark mit Öklo auch nicht schlecht finden. Es muss doch nicht gleich.