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- 9 12 2023 - 07:57 - katatonik

In der Dunkelzeit

Der Anfang der Dunkelzeit, ein anhaltendes Eintauchen in etwas, aus dem du nur kurz wieder auftauchst, nur punktuell. Licht als künstlich hergestellte Ausnahmesituation. Dunkelheit zu Zeiten, wo vor wenigen Wochen noch keine war. Aufwachen in die Dunkelheit hinein, Gehen durch die Dunkelheit in der Stadt, nur kurz durch Aufenthalte in helleren Innenräumen unterbrochen. Nach dem Seminar verschwinden alle in der Finsternis; man könnte ihnen nicht mehr lange nachblicken, wenn man das wollte. In Bologna in der Woche davor, als wir über Theorien aus der indischen Philosophie über die Erkenntnis des Nichtvorhandenseins diskutierten, kam ebenfalls das Thema Dunkelheit auf; es gibt da Denker, die die Dunkelheit als eigene Substanz ansetzen, als ein Objekt der Sehwahrnehmung ebenso wie Farben und Formen. Andere dagegen begreifen sie einfach als die Abwesenheit von Licht, was zur Konsequenz hat, dass man sie nicht sehen kann. Sie gewinnt einen anderen epistemischen Status.

Kälte, Schnee, einpacken, einhüllen, vorsichtig auftreten, Blick mehr nach unten richten. Schneehaufen überall, eingeschneite Reste von Gehsteig-Gastgärten, zugeschneite Fahrräder. Tagsüber dieses weiße Blenden, eine ganz andere Welt, etwas Unnatürliches, dieses Licht. Stürzende Menschen, gestürzte Menschen. Die Frau im Pelzmantel, ich halte ihre Hand, damit sie sich hochziehen kann. Das reicht aber nicht, zu tief kniet sie im Schnee; es kommen noch zwei Schnauzbarttypen dazu, die sie wesentlich ungenierter packen, als ich das wagen würde, aber so kommt sie immerhin hoch. Sie freut sich und ist dankbar.

Zu einem Konzert, das in einem ebenerdig gelegenen Lokal in einem Innenhof stattfinden sollte, ein Kulturraum von schäbiger Eleganz. Es wurde dann aber in den großen Saal des Odeon-Theaters verlegt, zu dem der Kulturraum, genannt “Spitzer”, ebenfalls gehört; es gab ein Koordinationsproblem. Der Weg in den Saal führt durch nun schon matschige Hinterhöfe, vorbei an einem riesigen alten Verbrenner, der aussieht wie ein Monument. Ein nüchternes graues Treppenhaus nach oben, dann in den Saal, hinter der Tribüne, wenig Licht, viel schwarzer Stoff. Der Saal, lange mit monumentalen Säulenreihen an den Seiten, prunkvoll schnörkelig, wird seit 1980 als Theater genutzt. Du weisst, du bist in einem monumentalen späthistoristischen Gebäude, und du hast kein Gespür für die Dimension des Baukörpers; es ist ja finster.

Dimensionen: Das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Börse für landwirtschaftliche Produkte errichtet, die Architektur einer römischen Markthalle nachempfunden. Die “Produktenbörse” – die wichtigste landwirtschaftliche Börse der Monarchie. Der Architekt, Karl König, hatte übrigens als ersten Bau seiner Karriere die Synagoge in der Turnergasse gestaltet, die 1938 während der Novemberpogrome zerstört wurde. Die Börse wurde während des Nationalsozialismus bedeutungslos, auch in der Nachkriegszeit wurden landwirtschaftliche Preise anders bestimmt. Seit Österreichs EU-Beitritt dient sie wieder als Ort der Richtpreisfindung durch die wichtigsten Marktteilnehmer. Offenbar nach wie vor in diesem Gebäude. Das Serapionstheater hat den großen Saal in den 1980er Jahren für den Theaterbetrieb adaptiert und konnte nach und nach im Gebäude weitere Räumlichkeiten belegen. Heute also: Koexistenz von Weizenpreisfestlegung und Theaterbetrieb.

Der Gitarrist Eric Arn hat schon zu spielen begonnen, als ich mich durch die schwarz verhängten Rückbereiche in den Saal taste. Er spielt alleine, spielt eine Stimmung in die Dunkelheit, die mir fremd ist. “Besinnlich” fällt mir dazu ein. “Verspielt” auch. Wenn Gitarren perlen, nun ja; ich hab’s einfach eher mit den Flächen (die kann und macht er auch, übrigens). Es sind nicht besonders viele Leute hier, 30, 40 vielleicht; das Konzert war ja auch für einen viel kleineren Raum geplant gewesen. Der Saal fühlt sich einfach an. Ein dunkler Raum, in dem ein Mann Gitarre spielt, die Rückwand heimelig rot bestrahlt.

Wenn sich Menschen durch den Saal bewegen, wird er größer. In der Pause trappeln die Leute wieder nach unten; die Getränke gibt’s in der schäbigen Eleganz. Dann Lea Bertucci. dense masses of sustained dissonance, das liegt mir; an diesem Abend bestehend aus Saxophon und Elektronik. Je länger sie spielt, desto mehr fühlt sich der Saal an, als wäre sonst niemand da. Erst später, als ich die paar Fotos ansehe, die ich gemacht habe, fällt mir auf, dass die Beleuchtung während ihres Auftritts dünkler gestaltet war.

Am Rückweg über die Schwedenbrücke über den Donaukanal. In Metallplatten am Geländer eingefräste Wörter, die sich beim Gehen als Teile von Sätzen herausstellen. Die Erklärtafel am anderen Ufer teilt mit, dass hier die Schriftstellerin Ilse Aichinger zusah, wie ihre Großmutter, Tante und Onkel 1942 mit einem offenen Lastwagen zum Aspangbahnhof gebracht wurden. Von dort kamen sie in das Lager Maly Trostenez bei Minsk, wo sie ermordet wurden. Aichinger war damals 21. Anlässlich von Aichingers 100. Geburtstag im Jahr 2021 wurde dieser Gedenkort von Elisabeth Eich gestaltet. Er heisst “Winterantwort”, nach Aichingers Gedicht im Brückengeländer. Ist es nicht ein finsterer Wald, in den wir gerieten?

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