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- 3 12 2023 - 11:06 - katatonik

Wie geträumt

Es ging alles recht schnell, es war alles so viel, es fühlt sich an wie geträumt. Im Liegewagenabteil nach Bologna mit einer jungen Italienerin, die in Wien als Labortechnikerin mit RNA-Entwicklung befasst ist und auch an der Entwicklung von Covid-Tests mitgearbeitet hat (unsung heroes). Liegewagentipps dieser Liegewagen-Veteranin: Abteiltür immer von innen verschließen nachts, an der Grenze, wo der Zug lange halten würde, würden gelegentlich Typen kommen und checken, wo’s was zu holen gäbe, das wäre ihr jedenfalls mal passiert. (Die Abteiltüren in diesen älteren Waggons haben zwei Verriegelungsmöglichkeiten, einen Schalter innen oben, der die Tür blockiert, wenn sie weiter als eine Handbreit aufgeht, und eine Kette, die man vorlegen kann.) Heizung auf höchster Einstellung lassen, auch wenn man das anfänglich als etwas zu warm empfindet. Denn wenn der Zug steht, geht die Heizung aus. Steht er länger, wie eben gern an der Grenze, wird’s eiskalt, daher lieber wärmer einstellen.

In Bologna aus irgendwelchen Gründen fast zwei Stunden verspätet eingetroffen, daher die Stadt im Morgengrauen erlebt, fast menschenleer, da weiß ich noch gar nicht, wie außergewöhnlich das ist, denn auch Bologna leidet an touristischer Überfüllung. Nachmittags holt mich S., der Organisator des Symposiums, vom Hotel ab. Zwei Stunden lang führt er mich kreuz und quer durch die Altstadt, in das Palazzo Pepoli Campogrande zu den zwei Deckenfresken von Giuseppe Maria Crespi (1665-1747), die den Auftraggebern so überhaupt nicht gefielen, allerlei Seltsamkeiten in Komposition, Szenenwahl, Lichtnuancierung und Naturdarstellung, Unausgeglichenheit, Grotesken, die drei Parzen, deren mittlere einen Lebensfaden durchtrennt und dabei kokett auf die Betrachter herabblickt. (Crespi, der im übrigen mit einer Camera obscura arbeitete.) Im Nebenraum dann ein brav heroisches Deckenfresko mit Alexander dem Großen von Donato Creti, das sich die Pepoli Campogrande zum Ausgleich zulegten, als sich Crespi weigerte, das seinige zu überarbeiten.

Weiter durch Kirchen und Kathedralen, die romanische Schummrigkeit der Basilika San Stefano, der glorifizierende Prunk der Basilika San Domenico (inklusive Grab des Hl. Dominik), hier ein vermeintlich realistisches Portrait von Thomas von Aquin, dort die Kopie eines Raffaels („den echten sehen wir uns am Dienstag in der Pinacoteca Nazionale an“): die heilige Cäcilie in Ekstase; sie lauscht himmlischer Musik, zu ihren Füßen irdische Instrumente, ungespielt, zu Boden gefallen, zerbrochen. S. weiß viel und erzählt es zart. Nun zum Aperitivo, nun zum Abendessen in eine Osteria, dankeschön. Wir sind hier in der Butterregion Italiens, nicht in der Olivenölregion. Oder auch Schmalzregion: Friggione, eine hervorragende Sauce aus Zwiebeln und Tomaten, die mindestens 18 Stunden schmoren muss, erlesene Süße, viele der Rezepte dazu mit ordentlich Schmalz und, wenn weniger Schmalz, dann ordentlich Bauchspeck.

Großzügigkeit im und um das Symposium, überall. Großzügigkeit in der Zeit, eine Stunde für Vortrag und Diskussion pro Kopf, Großzügigkeit in den Räumen, die Fragen und Antworten eröffnen, Großzügigkeit in den Kaffeepausen (mit Prosecco!), Großzügigkeit bei den Mahlzeiten, lange Mittagspausen voller Diskussionen über dies und jenes, mehrgängige Abendessen, zwischendrin Spaziergänge zur Kunst, am Abschluss noch der Besuch in der Pinacoteca Nazionale, S. immer so zart erzählend, bedachtsam, auf Details hinweisend, Bedeutungen herauskitzelnd. Wie voll und großzügig sich so ein paar Tage anfühlen können, doch eigentlich so wenig Zeit.

Arkadengänge und Türme, überall, immer, wenn du glaubst, du hast jetzt die Säulengänge durch und die Türme eh schon beim Spaziergang auf den Hügel am Ankunftstag alle von oben gesehen, tut sich noch ein Gang auf, stehst du vor noch einem Turm, beleuchtet, nachts, und es ist jahreszeitenbedingt jetzt ja gerade recht viel Nacht. Irgendwo ragt in dieser Dunkelheit immer was, irgendwo flieht immer was. Die Türme dabei recht uniform, aber die Arkadengänge, sie kommen in vielen Varianten daher, simpel und schmucklos, mit Kreuzgewölben und ausgemalt, im modernistisch-brutalistischen Zitat. Enge Gassen, weite Plätze, riesige, unvollendete Kirchen, in die du den Wiener Stephansdom locker zweimal reinstellen könntest, mindestens. Viele Menschen, sehr viele Menschen, man sitzt draußen im Heizpilzdorado. Ein Weihnachtsmarkt mit Austernbar, das hat was, sieht sympathisch aus, ich liebäugle kurz, aber es geht mir zu langsam. Viele Menschen warten geduldig, das sehe ich hier einige Male, wenn’s um’s Essen und Trinken geht, man scheint Zeit zu haben, man schaukelt sich nicht in ungeduldigen Beschwerderitualen auf, auch das eine Art von Großzügigkeit.

Meine italienischen Kontakte liefen bisher nach Rom und Neapel, der Norden jetzt erstmals am Radar. Ganz andere Nummer, auch smalltalkmäßig, als Ösi ist man da schnell im habsburgischen Kontext drin, Familiengeschichten, Kriegsgeschichten, Ur- und Großväter gekämpft und geschwiegen und gestorben, Faschismus, Alto Adige, alles keine Themen für den Süden. Der Norden reicher, mehrere Universitäten, miteinander verkehrsmäßig gut verbunden, Turin, Venedig, Mailand, Pavia, von dort kommen die Leute her, die sich mit so Dingen beschäftigen wie indischer Mathematik und den Wanderungen ihres Wissens nach Europa, unacknowledged bisher, aber was die für Algorithmen, unglaublich.

Bologna hat mehr Studierende als die Universität Wien, die ja immerhin die größte Hochschule im deutschen Sprachraum ist. In den Universitätsräumlichkeiten wuselt es, in den Bibliotheksräumlichkeiten, wo ein Teil des Symposiums stattfindet, sind immer alle Tische belegt. In der Eingangshalle des Akademie-Gebäudes, wo ein anderer Teil stattfindet, Architekturdetails aus dem Faschismus. Draußen Transparente, was mit Giulio Regeni, dem italienischen Studenten aus Cambridge, der während seiner Recherche zu unabhängigen Gewerkschaften in Ägypten dort 2016 ermordet wurde. Eine junge Frau verkauft die Zeitschrift “Lotta Communista”; “Lotta Communista” eine leninistische Partei, außerparlamentarisch, überzeugt von der Notwendigkeit, den Kommunismus lokal und graswurzelartig zu etablieren, keine Unterstützung von Gewalt als Strategie.

Wenige Gespräche berühren die italienische Politik, man ist sich ja eh einig, dass alles eine Katastrophe ist. Dafür mehr zu Indien, es sind ja auch Leute aus Indien beim Symposium. Berichte über das wachsende Ausmaß politischer Interventionen. Satz: „international cooperation used to be difficult because of bureaucracy, now it’s difficult because of political control“.

Im Schlafwagenabteil zurück, alleine im Zweierabteil, irgend etwas in der kleinen Waschnische quietscht so anhaltend wie eine noch ungemasterte Radian-Nummer. Aufwachen in den schneebedeckten Semmering hinein.

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