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- 11 02 2024 - 12:43 - katatonik

Berlin Intermission

Der oktogonale Bau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche strahlt nach außen bläulich, verbreitet auch im Inneren ein Licht wie ein permanenter Sonnenuntergangszustand an einem bewölkten Tag. Stetes Zwielicht. Das Blau stammt aus Gabriel Loires Glasfenstern, von denen die Kirche (einschließlich des halb zerstörten Altbaus) über insgesamt 22.790 Stück verfügt, jedes davon ein Unikat. Blau, so heisst es, sei Ausdruck des Versöhnungsgedankens. Die blauen Fenster bzw. Glasbausteine sind in zwei Reihen angeordnet; die Beleuchtung erfolgt durch weiße LEDs dazwischen (früher mit großen Glühbirnen).

Konzert. An der Orgel Kali Malone und Stephen O’Malley (ich kann akustisch nicht ausmachen, bei welchen Stücken er beteiligt ist). Ich sehe sie nicht, denn die Orgel befindet sich auf der Empore hinter den Sitzreihen, wie es in Kirchenräumen eben so ist. (Man hat für das Konzert vorne beim Altar einige Reihen mit Blick auf die Empore aufgestellt, was den nicht ganz angenehmen Effekt hat, dass einander Teile des Publikums gegenüber sitzen.) Es gibt ausgewählte Orgelstücke von Malones neuem Album All Life Long, das etwa eine Woche nach dem Konzerttermin erscheinen wird. Der Prozess aufwändig: In diesem Interview beschreibt Malone, dass die Registration einer Pfeifenorgel vor dem Konzert vier bis acht Stunden in Anspruch nähme; die Konzerte selbst wären eine hoch konzentrierte Angelegenheit, aufgrund genau kalkulierter Wiederholungsmuster. Sie spricht dabei von einer Art Athletik.

Das erste Stück eingewöhnend, die verbleibenden verfolgen analoge Kompositionsmuster, ermöglichen damit Aufmerksamkeit für Nuancen. Die Stücke beginnen mit polyphonen (Dis-)Harmonien, die mit einer eine Melodie suggerierenden Struktur stärkere, angedeutet rhythmische Wechsel durchlaufen, wiederholt, transformieren sich langsam zu gehaltenen polyphonen Vibrationsflächen, die ausklingen. Jedes der Stücke evozierte zu Beginn eine Art Unwohlsein, eine Art Schmerz, fast ein Abstoßen, dann aber wirkte ein Magnetismus, der zur Beobachtung der Registerwechsel einlud, am Ende immer das Gefühl eines tief befriedigenden Mitschwingens. Ein erstaunliches Konzert. Vibrationen.

[Ich verstehe zu wenig von Orgeln. Die Orgel der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin, der Prozess der Registration einer Pfeifenorgel.]

Im Hamburger Bahnhof Anri Salas Videoarbeit The Long Sorrow (2005); hineingestolpert ohne Vorinformation. Ein leerer weißer Raum, ein vertikal gekipptes großes Fenster, das die Außenwelt so zerteilt, dass im oberen Teil des Fenstervierecks der hellgraue Himmel eingeschlossen ist, die untere Kante der gekippten Scheibe mit den Dachrändern von Wohnblöcken zusammenfällt. Im unteren, geöffneten Fensterteil ist eine Assemblage aus Blättern und Blüten sichtbar. Erst langsam wird mir klar, dass es sich um den geschmückten Hinterkopf eines Menschen handelt, eines Mannes, eines schwarzen Mannes mit Dreadlocks. Saxophontöne, erst suchende Melodien, dann härtere, weniger harmonische Phrasen, gelegentlich durchbrochen von Vokalisierungen, die Schmerz anzeigen. Schnitt nach außen: Erst der ganze Kopf, dann in Großaufnahme im Profil das Gesicht des Free-Jazz-Saxophonisten Jemeel Moondoc (1945—2021), der sich für diese Performance im 18. Stockwerk eines Berliner Hochhauses (es wird wohl von den Bewohner*innen der Anlage “long sorrow” genannt, daher der Titel ) außerhalb dieses Fensters aufhielt. Wo und wie genau er stand, bleibt unklar, doch er muss gestanden haben, das erweist sich im Lauf der Performance aus seinen Bewegungen.

Die Kamera bleibt fragmentarisch an seinem Oberkörper, immer wieder Großaufnahmen. Die Blüten und Blätter in seinem Haarschmuck, teils frisch wirkend, teils verdorrt. Ihr Übergang zur Filzstruktur seiner Haarmatten, seine verschwitzte Gesichtshaut, ihre Unebenheiten, ihre Poren, die Muskelbewegungen seines Gesichtes, Runzeln und Entspannung seiner Stirn. Die Kamera wendet sich aus dem Fenster schräg nach unten. Grüne Bäume, fahrende Autos, dazwischen der Blütenschmuck in seinem Haar, der sich in der Glasscheibe spiegelt und dann eben doch nicht mit den Bäumen verschmilzt. Am Ende ein scharfer Schnitt auf die oberen drei Stockwerke des Gebäudes, das eine Fenster, vor dem er stand, nun leer, noch von den darüber befestigten Filmscheinwerfern angestrahlt. Wir bekommen kein Bild, das sich ganz anfühlt. Anschnitte von Schmerz, Fremdheit und Kraft.

Durch die Grünfläche vor dem Hamburger Bahnhof lief ein Fuchs, an den Menschenschlangen vorbei, die am Tag der Museen auf den freien Eintritt warteten. Kitsune.

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