Verstrickungen, Befreiungen und Netzwerke (Berlin)
Beim Schlesischen Tor zu Abend gegessen, auf den Eventkalender von Echtzeitmusik gestoßen, gerade noch rechtzeitig spontan zu einem Konzert in Hošek Contemporary aufgebrochen, einem Kunst- und Experimentalmusikort auf einem vor der Fischerinsel an der Spree vertäuten Schiff. Trotz Dunkelheit schnell gefunden, begeistert von nächtlicher Berliner Wasseratmosphäre zwischen Wildromantik und Hafenrobustheit. Zwei Sets mit Pause, Grgur Savic/Tony Elieh/Steve Heather und Liz Allbee/Matthias Koole/Zsolt Sőrés. Bullernder Ofen im Schiffsbauch, sympathische bärtige Betreiber, diverses Publikum. Differenziertes Improvisationsgefrickel, besonders beeindruckt hat mich die Trompeterin Liz Allbee. In einer Konzertpause über das Dach eines Kahns zu spazieren, am dunklen Wasser, das hat was.
Schwimmen in der „Schwimm- und Sprunghalle im Europasportpark“ (SSE), Straßenbahnfahrt vom Alex ostwärts, zwei Blöcke mit mehreren Anlagen auch für Profisport in einen Parkhügel hineingebaut. Man kann von oben mit einem Aufzug nach unten auf Eingangsniveau fahren. Die Bahnen vormittags, wenn ich komme, angenehm spärlich beschwommen, gegen Mittag wird’s unangenehmer, weil die breit Brustschwimmenden mehr werden und auch die Gruppen junger Männer (es sind leider immer die jungen Männer), die nicht checken, dass es auch andere in der Bahn gibt, die eventuell sogar schneller schwimmen als sie. Gerade der männliche Teenie hat Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass eine Frau ihn sogar überholen könnte (und ich bin wirklich nicht schnell, Teenie, geh in dich und lerne besser Schwimmen). Als ich gehe, füttert ein junger Mann oben auf der Parkwiese im Nieselregen Nebelkrähen. Es wirkt, als würde er das häufiger tun, denn sie folgen ihm. Eine S-Bahn-Station umgeben von wahllos hingestreuten Büroblocks. Zwei Häuserblocks weiter im Friedrichshain – von dem ich dann doch wieder lerne, dass man durchaus auch „in“ Friedrichshain sagen kann, während „der Wedding“ wirklich unumstößlich „der Wedding“ sei – kuschelige Cafés mit Laptopstudis und Matcha Latte.
I’m set free to find a new illusion.
Der Text der Nummer „I’m Set Free“ (hier), geschrieben von Lou Reed, von Brian Eno als Teil seines Albums „The Ship“ (2016) aufgenommen und 2023 auf der „Ships“-Tour jetzt auch live aufgeführt, greift religiös-spirituelle Befreiungsrhetorik auf, verbindet sie aber mit Elementen, die ihr widerstreben. Schon die erste Zeile „I’ve been set free“ wird mit „and I’ve been bound“ vervollständigt; es gibt also von Anfang an keine klare Erlösungsproklamation. Es geht dann gleich weiter mit „To the memories of yesterday’s clouds“, sodass die eingeführte Dialektik aus Befreiung und Verstrickung aufgebrochen wird, weil die Verstrickung eine Wendung ins Konkrete erfährt. Ähnlich geht es weiter, der Refrain „I’m set free to find a new illusion“ trifft während der Performance der Nummer beim Eno-Konzert vor einigen Tagen einen Nerv in einer recht komplexen Gefühlslage, mit der ich gerade hadere. Ich schätze daran das Signal einer Befreiung, das nicht überhöht wird, sondern in eine realistische, nüchterne Perspektive auf die fortdauernde Illusionsgenerierung der menschlichen Psyche eingebettet. Ein move, der auch in der buddhistischen Daseinsanalyse verankert ist (und dem ich Einiges abgewinnen kann). Karma and Desire.
Abende in Neukölln. Ins Neues-Off-Kino zu Scorseses „Killers of the Flower Moon“, am Weg ins Kino etwas mehr Zeit, also die Sonnenallee entlang rauf und die Karl-Marx-Straße wieder runter. Gekleidet wie die meisten Menschen um mich, dunkle Jacke, dunkle Wollmütze, aber die meisten Menschen um mich kommen sichtlich aus dem Nahen und Mittleren Osten, die meisten davon sind Männer, in Gruppen, einige Frauengruppen, lachende junge Frauen mit sehr eleganten Kopftüchern, ruhige ältere Frauen mit freundlichen Blicken. Arabische Aufschriften auf Läden, gut gefüllte Kebap- und Hühner-Fastfood-Läden, Zuckerkoma verheißende Konditoreien. Ich höre Musik, die nicht aus diesem kulturellen Kontext stammt, aber doch aus dieser Stadt.
Ich fühle mich einerseits wohl in diesen verschiedenen verschwimmenden Fremdheitszonen, dann aber auch wieder unwohl: Die sichtbare Segregierung von Geschlechtern, die nicht sein müsste, aber offenbar sein muss, verstört mich, die Dominanz von Männern in Gruppen stößt mich ab (obwohl ich mich zu keinem Zeitpunkt unsicher fühle). Eberhard Seidels TAZ-Artikel über Menschen mit palästinensisch-libanesischem Hintergrund in Berlin wird gerade vielfach geteilt; eine traurige, beschämende, verärgernde Geschichte einer Politik der Marginalisierung (die noch trauriger und beschämender und ärgerlicher wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass gerade an ihrer Fortschreibung gearbeitet wird). Ein paar Tage später nochmals nach Neukölln, eine Cocktailbar aufsuchend, und auch, um meinen ersten Eindruck noch einmal zu überprüfen.
Treffen mit Menschen aus dem Jetzt, die ich auch in sozialen Netzwerken immer wieder gerne lese, manche schon sehr lange, manche erst seit kürzerer Zeit, mit denen ich mich auf unterschiedlichste Weise immer gerne austausche: Holger Schulze, Hanna Engelmeier, Ekkehard Knörer. Treffen an verschiedenen Orten, ein Abendessen mit asiatischem Fusion-Street-Food am Schlesischen Tor, Tee und Kuchen in der Weinerei in Mitte (ein feiner und wohlfeiler Ort, den man in dieser Gegend nicht erwartet), Tee und Kuchen in einem Café in Charlottenburg, wo unsereine den Altersschnitt der Gäste doch noch beträchtlich senken. Neugiergetriebene Gespräche mit wachen, empathischen Menschen, und gerade jetzt, da sich rundherum Besorgnis erregende Entwicklungen in einem Ausmaß beschleunigen und verdichten, das einer die Luft abschnüren kann: Es macht so etwas wie Hoffnung, dass es solche Gespräche geben kann.
Am Rande dann auch das Thema soziale Netzwerke. Komischerweise war es genau die Performance von „I’m Set Free“, die mich die paar Zentimeter weiterbrachte, die ich brauchte, um X, vormals Twitter, zu verlassen. It’s complicated, weil es da doch noch viele Accounts gab, die mir viel gaben, auch wenn sie das nicht wussten oder vielleicht auch gar nicht wollten; die Verhältnisse sind vielschichtig und mehrdeutig. Aber am Ende des Tages ist es eine Plattform in der Kontrolle eines durchgeknallten gefährlichen Wahnsinnigen, der auch keine Hemmungen hat, sie zu einer Plattform für durchgeknallte gefährliche Wahnsinnige zu machen. Ich habe da nichts mehr zu suchen.
Also lade ich Luka Hammers Browser-Skript tweetXer herunter, das (mit einem heruntergeladenen Tweet-Archiv als Voraussetzung) alle Tweets löscht (mit Dank an G. für den Hinweis). Es sind 33.854 Tweets. Der Laptop läuft im Hotel weiter, während ich zu Tee und Kuchen durch die Stadt fahre, ich schaue gelegentlich am Handy vorbei und registriere, wie viele meiner Tweets noch da sind. Am Ende bleiben 178 Posts übrig, ich weiß nicht, warum, es macht auch nichts mehr. Musk kann auch gerne meine 28.311 Favs behalten. Am späten Nachmittag kehre ich noch einmal in die Weinerei zurück, um auch den Wein zu probieren, dort deaktiviere ich meinen Twitter-Account. Ich entziehe damit einen Teil meiner Vergangenheit der Sichtbarkeit, das ist ambivalent, aber Vergänglichkeit ist nun mal genauso eine Realität wie Illusionsproduktion. Ich nehme mir damit die Möglichkeit, gewisse Formen von Kontakt zu pflegen, das ist in einigen Fällen bedauerlich, in manchen schmerzt es auch sehr, aber vielleicht finden die Betreffenden ja auch noch woandershin. Ich würde es mir wünschen.