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- 26 10 2023 - 16:40 - katatonik

Brian Eno, Baltic Sea Philharmonic und andere (Konzert, Berlin, 24.10.2023)

Mit einem Stockbus aus Kreuzberg westwärts, im Dunkeln bei Regen. Angelaufene Fenster im nächtlichen Stockbus, auch sowas Berlinerisches. Über den Gang eine junge Frau mit Riesenkopfhörern, wir nicken einander zu, wir Vorne-Oben-Stockbusfahrerinnen, wir steigen beide zugleich aus, wir gehen beide zur im Dunkel strahlenden Philharmonie, wie auch etliche andere aus dem Bus.

Wieso habe ich mich nicht vorher mit Hans Scharouns Philharmoniebau beschäftigt, frage ich mich – wahrscheinlich, weil ich mich mit anderen Dingen beschäftigte und ein Gebäude ja der Beschäftigung nicht davonläuft. Ich würdige das Gebäude durch exzessives Herumlaufen im gegliederten Foyer, auf der Suche nach einer Bar mit möglichst kurzer Schlange, was sich lohnt, denn in einem Eck ganz hinten gibt’s Cremant und es sind zur zwei Paare vor mir, heissa. Es gibt übrigens auch Brezn, go figure.

Im Saal Manöver, denn rechts und links von mir hat ein schwules Paar gebucht („oh, als wir buchen wollten, waren leider keine zwei Plätze nebeneinander mehr frei, Sie müssen ja früh dran gewesen sein“), wir tauschen dann halt. Alle ausgelassen und heiter, man palavert locker mit Gelächter. Das Gespräch bezieht dann auch die zwei jungen Französinnen links neben mir mit ein, als es darum geht zu ermitteln, in welchem Saal wir jetzt eigentlich sitzen. Kammermusiksaal, sagt der junge Mann neben mir, der als eher punkiger Rotzfrecher neben dem hageren grauhaarigen Anzugträger den jungen Part des schwulen Pärchens abgibt. Ich so „also bitte, dieser Riesensaal kann doch kein Kammermusiksaal sein“, der Brahms-Saal im Musikverein in Wien fasst 600 Plätze, ist deutlich kleiner. Dieser hier, so stellen unsere Endgeräte bald fest, fasst 1136 Zuschauer, und es ist tatsächlich der kleinere der beiden Säle (nicht ausverkauft, aber gut gefüllt). Dies sei, so Punky neben mir, die Dönerbude unter den beiden Konzertsälen der Philharmonie, später nennt er ihn auch ein Dixieklo, wahrscheinlich war ich von “Dönerbude” nicht schockiert genug. Punky hat Schnauze. Ich murmele was von Berliner Größenwahn, Punky meint, der Saal wäre aber älter, ich meine, der Berliner Größenwahn sei das auch. Punky nölt, so sagt man hier, glaube ich, weil es schon nach 21:00 ist und die Musiker*innen immer noch nicht auf der Bühne. Er steht dann noch auf, um die Toilette aufzusuchen. Sein Freund beraunt dies als „mutig“ – zurecht, denn Punky wird erst nach dem ersten Stück „The Ship“ wieder reingelassen, das ja ziemlich lang dauert (auf Platte 21:19); das war nicht unbedingt sein smartester Move.

Mit Einsetzen der Musik sind alle still und bleiben es. Das ist bemerkenswert. Die Musiker*innen betreten die Bühne weihevoll und langsam, teils bereits spielend. Ich mag das nicht besonders, es scheint mir irgendwie selbsterfahrungsgruppenmäßig und unangemessen. Das liegt aber an meiner Erwartungshaltung, die ich offenbar korrigieren muss. Ich hatte bei „Eno + Orchester“ erwartet, dass Brian Eno eine Art Kulturdialog mit der klassischen Orchestermusik eingeht. Visuell gesehen so eine Art dezidierte Klassik, wo die in festlichem Schwarz gekleideten Musiker*innen erst unprätenziös und in Alltagsgeschwindigkeit, noch bei Licht, die Bühne betreten, Plätze einnehmen, bissi hüsteln und möglicherweise auch blättern, dann kommt Dirigenty ans Pult, in dem Fall Eno, aber halt: nein, eigentlich ist ja Kristjan Järvi der Dirigent. Und Eno ein Musiker unter anderen, aber eben doch im Zentrum. Sie sehen, das Setup ist komplexer, das ist einfach kein klassisches Orchesterkonzert. Eno hatte nach einem Orchester gesucht, das ohne Noten spielen könne, es ginge darum, mehr Interaktion und Bewegung auf der Bühne zu ermöglichen, damit auch einen anderen Klang, lese ich irgendwo. Das Programm, der Verlauf, sei erst kurz vorher geprobt und festgelegt worden.

Es betreten also 36 Musiker*innen langsam die Bühne, verteilen sich im Raum, wenn sie nicht schon durch den Charakter ihres Instruments an einen festen Ort gebunden sind. Eno in der Mitte, etwas erhöht im Verhältnis zur Harfenistin, etwas niedriger vor den Perkussionisten, dem Gitarristen Leo Abrahams, dem Programmierer / Keyboarder Peter Chilvers und den Vokalist*innen Peter Serafinowicz und Melanie Pappenheim, aber mitten drin in der Truppe, das ist Programm. Bei aller Offenheit des kreativen Prozesses werden aber eben doch Kompositionen von Eno aufgeführt: Stücke des Albums „The Ship“ (2016), auch das darauf enthaltene Cover der Velvet-Unterground-Nummer „I’m Set Free“, dann „Who Gives A Thought“ und „Making Gardens Out of Silence“ (glaube ich) von FOREVERANDEVERNOMORE (2022), letzteres in etwas stärker transformierter Form, und „By This River“ von „Before And After Science“ (1977). Angelehnt an Eno, umgesetzt auf Basis seiner Kompositionen und Alben, also erkennbar, aber doch anders, da eben live und orchestral.

Das bringt klanglich dichte und umwerfende Momente, wenn das Orchester zueinander findet (die Bläserstellen von “Fickle Sun (i)”, oha!). Meinem Gespür nach glückt das aber nicht so oft, mag es an der Tagesverfassung liegen oder auch daran, dass eine orchestrale Umsetzung elektronischer Kompositionen etwas mehr bräuchte, mehr an Zeit, mehr an Konzeption, eine andere Art von Prozess der Übertragung von einer Art der Klangerzeugung in die andere. Ich kann das schwer einschätzen. Die Nummer „By This River“ mag ich in der Konserve außerordentlich gern, da fand ich den ersten Teil im Konzert völlig mißglückt. Die einzelnen Linien der Komposition zerliefen, der Rhythmus verschleppt, erst nach und nach fanden die Musiker*innen rein. Generell fand ich den Sound sehr, wie soll ich sagen, suppig, den einzelnen Instrumenten hätte mehr Konturierung besser getan, das wäre, denke ich, mit dem Anspruch von Flächigkeit immer noch vereinbar gewesen. Es gab ja auch Elektronik dazu, und ich hatte mitunter den Eindruck, die Instrumente würden in der Elektronik absaufen, zumindest leicht hilflos paddeln. Aber, hey, das Konzert endet mit dem Sommergesang einer Goldammer, sowas versöhnt.

Herr Eno litt an einer Erkältung, was seine Stimme beeinträchtigte, aber weniger stark, als er befürchtete. Er hielt durch und war überhaupt ein total unprätenziöser Grundsympathler. Das Publikum wollte sich einfach nicht von ihm trennen (ich auch nicht). Die Umsetzung des Konzepts hat mich nicht begeistert, aber Eno ist Eno, und ich glaube, von ihm würde ich sogar eine Umsetzung der größten Hits der Sulmtaler Dirndl’n hören wollen, so ist das einfach. Zudem hat Eno eine weit zurückreichende Geschichte mit Berlin, sowas finde ich bewegend. Das Publikum war begeistert, die jungen Französinnen neben mir konnten sich gar nicht mehr einkriegen, sogar der habitusmäßig nölende und persistent nicht applaudierende Punky stand dann zu den Standing Ovations doch noch auf, und, ja, wir wären glaube ich alle noch mit Eno sehr gern in einen finnischen Klub gegangen.


danke für die interessanten eindrücke. ich frage mich jetzt wirklich wo der große saal ist. im keller? ich war in block d (oben) und mit der akustik bzw. dem klang auch nicht so richtig zufrieden. dass die musiker keine noten hatten, hat mir gefallen. das hauptstück war schon ernst genug. und dass die orchestermitglieder die score komplett im gedächtnis haben wie es im prospekt steht, halte ich eher für unwahrscheinlich. wieviele weblogger da wohl im publikum waren? sicher eine zweistellige zahl. es ist zwar shameless self-promotion, aber egal: https://www.manafonistas.de/2023/10/25/positiv-ueberrascht/

alex (Oct 27, 09:17 pm) #


Philharmonie und Kammermusiksaal sind zwei unabhängige, verbundene Gebäudekörper, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Philharmonie#/media/Datei:Philharmonie_und_Kammermusiksaal_Berlin_-_von_oben_2023-1797.jpg (Wikipedia-Bild, ich muss die Verlinkungsgeschichte hier einmal reparieren). Ich war in Block A, direkt vor der Bühne, laut war’s genug, aber eben so wie beschrieben unzufriedenstellend. Danke für den Link.

katatonik (Oct 27, 10:42 pm) #

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