Go to content Go to navigation Go to search

- 24 10 2023 - 16:36 - katatonik

Wechselseitiges Auftauchen, erinnert (oder auch nicht)

Als M., der ab so 1991 über etwas länger als ein Jahrzehnt mein go to -Gastgeber in Berlin war, noch in Kreuzberg wohnte, das war in einer Seitengasse der Reichenberger, oder war es so ein zurückgesetzter Block, schon ein gutes Stück vom Kottbusser Tor entfernt. Finde ich aber nicht mehr, als ich da zufällig durchspaziere, sieht zu anders aus. Die Ankerklause am Landwerkanal, saß ich da mit M. und den diversen Kumpels und Kumpelinen, deren Gesichter in meiner Erinnerung verblasst sind, oder dann mehr als zehn Jahre später mit G. und J. und Ph.? Kilometer laufen in Berlin, Stunden herumsitzen in Berlin, gefühlt endlos lange, ein Artefakt der gefühlten Beschleunigung. Wahrscheinlich saßen wir damals halt zwei Stunden statt einer herum, während wir heute so tun, als würden wir nirgends herumsitzen, weil man geschäftig zu erscheinen hat.

Etwas weiter komme ich an so einem spitz zulaufenden Block mit Lokal im Spitz vorbei, da gab’s anno dazumals, also so 1991, eine alte Kneipe mit beachtlichem und beachtlich wohlfeilem Frühstücksbuffet am Sonntag. Ich kannte sowas in Wien nicht, daher die Einfräsung ins Gedächtnis. Auch das ein Raum des gefühlt endlosen Hockens. Aber war es dieser Block oder einer ein paar Blocks weiter auch mit Lokal im Spitz, an der Ohlauer, wo heute eine Pizzeria mit angepriesenem Supersauerteig ist? (Das ist wohl ein Ding hier mit dem Supersauerteig, die geben ihren Pizzateigen bald noch Namen.) Doch eher der Pizzeriaspitz, denn dort in der Nähe ist dann die Schinkestraße, und als ich das Straßenschild lese, fällt mir ein, dass ich dort auch ein paar Tage lang war. Eine siedelte damals ja gern zwischen Wohnungen hin und her als Besucherin, da gab’s immer wen, der ankam und abreiste und man machte hier Platz und übernahm da Platz von anderen. Rosa Tapete mit Rissen, arschkalt, Winter, ich las Gadamer, an einen glucksenden Riesenheizkörper gekuschelt, mit viel Dreck unter den Fingernägeln, denn in Berlin legte sich damals immer sofort so eine Dreckschicht unter die Fingernägel. Heute muss ich für so eine Dreckschicht mehr als vier Tage warten.

So 1991 (oder war’s 1992), das war das erste Mal, als ich nach Berlin flog; der Flug kam in Tempelhof an. Ich bringe das immer mit einem anderen Berlinbesuch durcheinander, der etwas später gewesen sein muss, da fuhr M. Kunst von Wien über Zürich und Wuppertal nach Berlin, in einem klapprigen Riesenlieferwagen, und ich fuhr mit. Es war Winter, und ich, verfroren am Beifahrersitz, hielt mit einem Seil die Hintertür des Autos fest, damit die Kunst nicht rausfiel, vor allem an der Schweizer Grenze. Aber das ist eine andere Geschichte.

Also 1991 (oder 1992), da hatte M. schon mit anderen die Galerie Unwahr, klein und abgerockt, in der Kleinen Hamburger Straße, nicht weit vom Tacheles, und irgendwo war da wohl auch noch eine Wohnung in Friedrichshain. Es sprachen viele von Wohnungen im Osten der Stadt, übernommen, recherchiert, legalisiert oder auch dann nicht. M. hatte immer viel Kontakt mit Künstler*innen in Polen, Roman Opałka war glaube ich dabei, oder jedenfalls im Umkreis, mit seinen Zahlenreihen. Auf Archive.org gibt es eine 2021 digitalisierte VHS aus 1992, a video-magazine style reel of installations, videos, and short films presented as part of the Unwahre Galerie’s 1992 program.

Irgendeiner der Polen hat M. für seine Galeriedienste einmal in Kaviar bezahlt. M. tauchte zu Silvester in Wien auf, es war ja nicht so, dass ich nur in Berlin auftauchte; es gab vielmehr eine Kultur des wechselseitigen Auftauchens. Wir saßen dann in meiner abgerockten Wohnung am Gürtel, die etwas besser beheizt war als Berlin, aber auch sehr abgerockt und mit total authentischem Straßenlärm-Grind, aber mit erstaunlicherweise sehr viel weniger Fingernageldreck. Wir aßen Kaviar mit frischem Brot vom Brunnenmarkt-Türken, mit Butter und Zitrone, und es war auch Krimsekt mit im Spiel, gefühlt endlos, Siewissenschon.

Später hatten M. und die anderen die Galerie nicht mehr, dafür hatte M. aber gemeinsam mit wieder anderen ein Haus nahe Rosenthaler Platz gekauft; es war ein intensiver Prozess mit viel Verhandeln und Renovieren, so 2001 muss das gewesen sein. Ich war dann unterkunftsmäßig eben eher in Mitte und Prenzlauer Berg unterwegs, das war kurz bevor sich alle über Prenzlauer-Berg-Muttis lustig zu machen begannen. Irgendwann verlief sich das mit dem wechselseitigen Auftauchen, es kam, wohl auf allen Seiten, zu anderen Formen der Bewegung in Städte, in andere Städte.

  Textile help