Not ready for Gebrechlichkeit quite yet
Es beginnt mit irgend etwas, das nicht stimmt. Wenn schon wo länger etwas immer wieder nicht stimmt, braucht es eine gewisse Schwelle, die überschritten werden muss, also, es muss etwas wirklich und überdeutlich nicht mehr stimmen. Ein neuer Schmerz in einer eh schon fürs Immerwiederzwacken bekannten Region, ein unerwartetes Ausstrahlen. Etwas, das nicht nur ein, zwei Mal den Griff zu Schmerzmitteln verlangt, die nichts nützen; etwas, das Arztbesuche motiviert. Es gibt bei solchen Dingen Behandlungsprotokolle. Diagnosevorgänge und Behandlungsoptionen werden durchgegangen, Schritt für Schritt, da vielfach erprobt, vielfach bewährt. Von Röntgen über MRT bis zu Schmerzmittelinfusionen, Physiotherapie, Infiltrationen. So ist das Behandlungsprotokoll bei einer Facettengelenkszyste, die das MRT offenbart. Eine Zyste, die sich in diesem Fall im Wirbelgelenk gebildet hat, sich mal mit mehr, mal mit weniger Flüssigkeit füllt und bei stärkerem Füllungsgrad leider auf die Nervenwurzel drückt.
Es gab Fortschritt durch das Behandlungsprotokoll, gewiss. So schien es. Dieser harte, stechende Schmerz, das Messer, das durch den unteren Rücken fuhr, im Oberschenkel unterging und im Unterschenkel wieder zu Tage trat, war nach der ersten bildwandlergeleiteten Infiltration nicht mehr anhaltend. Das Messer schnitt nur noch intermittierend, gelegentlich von einem Kribbeln begleitet, das schon fast herzig war. Bei der bildwandlergeleiteten Infiltration wird die Bewegung der Injektionsnadel, die etwas Betäubungsmittel und hauptsächlich ein Glukocortikoid verspritzt, von einem Röntgengerät begleitet; dadurch wird die Lokalisierung präziser. Doktor F., Meisterin des Verfahrens ebenso wie der Navigation der etwas angespannten Ressourcen und Systeme der Klinik Penzing, meinte angesichts des Fortschritts, sie würde nun nicht noch einmal infiltrieren. Ich solle bis auf Weiteres sehen, wie ich mit Physiotherapie weiterkäme, und, wenn doch wieder stärkere Schmerzen aufträten, mich in der Praxis melden. Operieren würde sie nicht, denn Zysten würden eh wiederkommen, das hätte keinen Sinn. Zysten seien dynamisch, mal größer, mal kleiner, da könne alles Mögliche passieren, sie würden auch spontan verschwinden, das käme vor. MRTs seien immer nur Momentaufnahmen.
Sie sei ein visueller Typ, sagte sie, nebenbei, beim Blick auf ein weiteres, Instabilitäten abklärendes Röntgenbild. Ich sei eher ein analytischer Typ, entgegnete ich, etwas scharf im Ton, gewiss. Eine Krankheit, bei der die Ursache (Zyste) bekannt ist, könne doch im Grunde nur durch die Beseitigung der Ursache angegangen werden. Ihre Resistenz verhieß mir, dass der Kausalzusammenhang ihrer Einschätzung nach komplizierter war. Dass sie die Ursachen der Beschwerden für nicht verlässlich zu entfernen hielt (Degeneration) und ich mich womöglich auf reine Schmerztherapie einstellen sollte. Je nun, I’m not ready for Gebrechlichkeit quite yet. Meine gewiss laienhaften Internetrecherchen ergaben andere Optionen: Bei Facettengelenkszysten sei eine konservative Therapie, wie ich sie erfahren hatte, in vielen Fällen wirkungslos. Zur Operation wurde auf diversen Klinikwebseiten durchwegs geraten. Ich las dies mit Salzstreuer; gewiss dienen generische Therapieempfehlungen immer auch den Eigeninteressen von Kliniken (Ressourcenplanung!), aber Skepsis gegenüber der konservativen Therapie blieb. Einmal, als ich über starke Schmerzen klagte, in der Praxis weinte, wurde Doktor F. dann recht deutlich, von wegen Ressourcenplanung: Einen OP-Termin zu kriegen sei im Grunde chancenlos, solange man so wie ich noch gehen, sogar schwimmen oder radfahren könne. Höllischer Schmerz nachts und beim Sitzen, das war einfach nicht genug. Sie sagte das nicht so, aber in so many words. Die Prämisse wurde nicht ausgesprochen, schien mir aber offensichtlich: not in the public health system, honey. Ressourcen sind beschränkt, und da sind zig andere da, denen es schlechter geht. Ich verstand das, aber es half mir nicht.
Die Ursachenanalyse musste geschärft werden. Ein Termin in einer Wirbelsäulensprechstunde, die eine Neurochirurgin und ein Neurologe gemeinsam abhalten. Blick auf die Bilder: Die Zyste sei riesig, die müsse weg, sagt die Chirurgin unverzüglich. Das war wenig überraschend, denn Chirurg*innen lösen Probleme nun einmal durch Schneiden. Es war dennoch erleichternd, weil ein Ausweg sichtbar wurde. Es wurde vorsorglich noch eine weitere bildwandlergestützte Infiltration gemacht, und zwar zwei Tage später. Welcome to the private health care system. Wenn diese Infiltration nichts brächte, solle ich sie am Sonntag anrufen, sagte die Chirurgin, dann könne man am Dienstag gleich operieren. Die Rezidivwahrscheinlichkeit liege übrigens unter 4 Prozent, sicher sehr niedrig, da auch keine Anzeichen von Instabilität der Wirbelsäule. Was sollte ich von der Infiltration erwarten? Eine 80prozentige Verbesserung sollte schon drin sein, sagt die Chirurgin. Sie sollten einen Zustand erreichen, mit dem Sie sich vorstellen können, auf längere Zeit leben zu können. Das ist bei jedem Patienten subjektiv. — Ich erreiche den Zustand nicht und begebe mich Dienstags um 08:00 nach Döbling.
Die Operation ist in einer dieser Wiener Kliniken mit Pavillon-Architektur angesetzt. Medizin und Krieg, darauf stößt man in Krankenhäusern mit längerer Geschichte ja andauernd; hier spricht die Gründungslegende davon, dass der Gründerarzt, um der im Feldzug von 1866 (Schlacht bei Königgrätz) als mangelhaft erkannten Wartung (!) der Verwundeten entgegenzuwirken, einen Verein gegründet hätte, der dann in den 1885 bezogenen Gebäuden eine nichtgeistliche Ausbildungsstätte für Krankenpflegerinnen und ein Spital ins Leben rief. Kronprinz Rudolf war Schirmherr, somit Rudolfinerverein. Theodor Billroth, Begründer der gerühmten Wiener Schule der Chirurgie, war auch dabei. In den Gängen der Pavillons überall historische Fotos, die meisten davon aus Kriegsjahren, Zwischenkriegsjahren, Vorkriegsjahren; keines nach 1939. Eindeutige Hierarchien und Funktionszuschreibungen: männliche Ärzte als Figuren der Autorität, denen die Schwestern untergeordnet sind. Schwestern als Bilder mütterlicher Sorge.
Nach dem “Anschluss” Österreichs 1938 wurde das Krankenhaus dem Deutschen Roten Kreuz unterstellt. Nach dem Krieg kamen Durststrecken, Neubauten, Abteilungserweiterungen, Ausbauten in den 1990er Jahren; die Krankenpflegeschule gibt es auch heute noch. Man erwirbt hier, am Campus Rudolfinerhaus, einen “Bachelor of Science in Health Studies”; die Pflegeschülerin, die gelegentlich meine Infusionen wechselt, ist von der Notwendigkeit eines Bachelors für den Beruf nicht so ganz überzeugt; ich versuche ihr zu erklären, wie sie davon profitieren würde. Von dem Fach verstehe ich ja nichts, aber in Österreich ist es immer besser, einen Abschluss mit Titel zu haben als keinen, und so ein Abschluss eröffne für zukünftige neue Berufsorientierungen, von denen sie jetzt vielleicht noch gar nichts ahnen würde, doch bestimmt neue Möglichkeiten. Das sei ja ein dynamisches Feld, da tue sich viel, und da würden gute junge Leute gebraucht. Denke ich mir da halt so, belehrend am Venentropf. Die junge Dame lauscht höflich und lächelt.
Die letzte Erweiterung des Gebäudes erfolgte 2018-2020; ich bin in einem der Pavillons untergebracht, der da recht frisch erbaut wurde, so als Green Building mit Bauteilkühlung und so (“Lassen’S die Balkontür lieber zu, die Kühlung ist recht schwach, und die Hitze kriegen’S nimmer raus aus’m Zimmer.”). Das Rudolfinerhaus ist eine Privatklinik. Alles ist sehr entspannt, die Pfleger*innen loben die Arbeitsbedingungen, ohne dass ich sie danach frage. Gut, es ist auch alles langsamer, manches wirkt wenig geölt und effizient, aber ich bin ja da, ich warte auf die abendliche Operation; ob der Internist nun um 14:00 oder um 15:00 vorbeikommt, ist eigentlich egal. Geschwindigkeit und präzise Zeitorganisation sind auch eine Reaktion auf Ressourcenknappheit. Damit kämpft man hier offenbar nicht, zumindest nicht für mich erkennbar.
Das Pflegeteam hier gleichermaßen wie in den öffentlichen Kliniken, die ich kenne, sehr multi, mit Männern und Frauen aus Kerala und Polen, Kärnten und Simmering; auch hier unter den jungen Pflegerinnen der Trend zum pink oder lila gefärbten Haupthaar. Das Kommunikationsklima subdued; man kriegt weniger Klatsch mit, es gibt weniger solidarisches Augenrollen unter Pfleger*innen, wie ich es in den Kliniken des Wiener Gesundheitsverbundes angesichts nicht erwartungskonformen Verhaltens gewisser Ärzte (waren immer Männer) erlebte. Es ist auch eine recht kleine Klinik im Vergleich: 156 Betten; das Wiener AKH hat 1.706, die Klinik Ottakring etwa 800. Die Einschleusung zur OP geht hier ratzfatz, es gibt keine Gelegenheit zur Systembeobachtung in riesigen Niemandsräumen wie im AKH. Es gibt auch nicht die beliebte Rudelvisite mit eifrigen Jungärzt*innen (und augenrollenden Pfleger*innen).
Der Anästhesist macht seine Arbeit formidabel, ich bin sofort weg und erwache dann euphorisch gestimmt zu einer recht plastischen Wiedergabe der sehr eingängigen K-Pop-Nummer “Smart” der Girl-Group Le Sserafim in meinem Hirn irgendwo am Strand, tanzend (YouTube Link). (Ich tanzte in meinem Leben nie an Stränden, übrigens.) Da ist die Chirurgin, die, noch am Strand erscheinend, sagt “alles gut verlaufen, alles draußen”, die dann auch noch persönlich den besorgt zu Hause sitzenden G. anruft. Da ist eine Pflegerin, die oft freundlich vorbeikommt, Vitalzeichen prüft, da ist die Blutdruckmanschette, die immer wieder von selbst anspringt. Und da ist das Papierhandtuch, das die Pflegerin an die Halteschlaufe über dem Bett hängt. Man würde danach neigen, nach Operationen flach zu atmen. Ich solle doch immer wieder versuchen, tief Luft zu holen und das Blatt zum Wehen zu bringen, das würde der Lunge guttun und den Brustraum öffnen. Ich lasse das Blatt die restlichen zweieinhalb Tage meines Aufenthalts hängen und blase es immer wieder an, auch, als ich es wahrscheinlich nicht mehr brauchen würde.
Es ist 23:00, als ich nach der OP aufs Zimmer gebracht werde, und ich habe wahnsinnigen Hunger, Narkose hin oder her; ich durfte ja außer Frühstück nichts. Vorausschauenderweise hatte Frau Isabella vom Hotelservice, so nennt sich das Essensservice hier, bei der Vorbesprechung meines Speiseplans für die nächsten Tage auch auf einem Abendessen für den Operationstag beharrt. “Wenn’s an Hunger ham, soit scho wos do sei.” So steht also ein Tablett mit verschiedenen Arten Hummus, Brot, Avocados und Tomaten im Zimmer bereit, und ich komme mir vor wie so ein durchpsychedelisierter Drogenhippie, der sich gegen Mitternacht im Rausch grinsend den Bauch vollschlägt, in der Küche der Döblinger Villa, die den reichen Eltern seines Kumpels gehört. Ich pflege meine Spleens und habe meine Utensilien zur Zubereitung des habituellen Matcha Latte dabei, ich brauch nur heißes Wasser und ein Kännchen Milch — oh, Sie können die auch warm machen? Aber gerne! Die Pflegerinnen aus Kärnten und Polen fragen interessiert nach, es folgen volksbildnerische Unterweisungen zum Thema Matcha und Mate, da gibt es Verwechslungsmöglichkeiten. Zeit zum Plaudern, auch das eine Ressource.
Die Entscheidung für die Operation, sie hatte auch einen Erfahrungshintergrund. Ich habe in den letzten Jahren mehrmals eine diagnostische Funktion der Chirurgie, nun ja, erlebt, die mir zuvor nicht so bewusst war: Beim Aufschneiden sehen Chirurg*innen Dinge, Gewächse im Körper, Ausmaße von Wucherungen, die die bildgebenden Verfahren trotz ihrer fantastischen Möglichkeiten nicht zeigen. So war es auch hier. Denn die Zyste hatte sich nicht nur weit enger an den Nerv geschmiegt und mit ihm verbunden, als man am MRT gesehen hatte (was die Wirksamkeit der konservativen Therapie stark einschränkte); unter ihr verbarg sich auch noch ein, wie die Chirurgin (Eltern aus Südindien, Kärntner Dialekt) charmant formulierte, “zerbröselter Bandscheibenvorfall”, dessen Reste sie einfach aufsaugen konnte. Auch deshalb: Eine Fortführung der konservativen Therapie wäre wirkungslos gewesen. Ich hätte die OP dann halt später gebraucht, nach weiteren starken Schmerzperioden. Im Übrigen stelle ich einen Zusammenhang zwischen dem “zerbröselten” Bandscheibenvorfall — von dem die Chirurgin sicherlich auch während der OP sprach, möglicherweise auch im Aufwachraum — und meinen Strandhalluzinationen her; ich kenne mein Unterbewusstsein. Chirurg*innen freuen sich übrigens so süß, wenn sie etwas Unerwartetes vorfinden, das sie dann — sogar noch innerhalb der geplanten Zeit, es hat gar nicht länger gedauert! — auch noch entfernen können, sie sind Enthusiast*innen des Wegschnipselns, Resektierens, Heraussaugens. Auch meine Erfahrung: Es kommt sehr gut, wenn du als Patientin die Ärzte epistemisch erfreust, das erhöht Stimmung und Behandlungsqualität ungemein. Sei am besten ein medizinisch interessanter Fall mit Überraschungspotenzial. (Das scheint mir erstaunlich oft zu gelingen. Nun ja.)
Phänomenologien und Epistemologien. Ich bin nach der OP schmerzfrei. Der fiese Messerstecherschmerz ist ganz weg, sofort, was nicht verwunderlich ist, die Ursache(n) wurde(n) ja entfernt. Der Wundschmerz wird brav weginfusioniert; postoperative Behandlungsprotkolle werden abgespult. Ich kann (und muss) am Tag nach der OP bereits aufstehen, darf an G.s Arm einen Spaziergang durch den Klinikgarten machen, mit den Büsten vergangener Würdenträger, die sich um die Klinik verdient gemacht haben. Rudolf der Protektor! Aber auch ein schwarzer Block, ein Denkmal für Menschen, die bei einem Bombenangriff am 15.3.1945 ums Leben kamen, da sie versuchten, andere zu retten: die Pflegenden Hildegard Lehnen und Imma Loebenstein, der Sanitäter Ferdinand Benda und der belgische Kriegsgefangene Gaston de la Motte, sowie Therese Görz aus der Wäscherei und Gertrude Weissberger (Schwester Rudolfine).
Ich bekomme täglich Besuch des Physiotherapeuten, der mit mir auch Stiegen steigt und Hinweise für Alltagsbewegungen gibt. Die Chirurgin kommt täglich vorbei. Meine Phänomenologie sagt: Tatendrang und Bewegung. Mich faszinieren und energetisieren die biochemisch unterstützten Selbstheilungsfähigkeiten des Körpers jedes Mal aufs Neue enorm. Sie schnipseln an deiner Wirbelsäule herum und am nächsten Tag gehst spazieren? Die Chirurgin sagt: ja, eh super, aber Schonung. Sie haben da eine Wunde, die 8 cm tief ist. Ja, ich weiß eh, ich hab mir diese Art von OP vorher auf YouTube angeschaut, es gibt ja eine breite Palette von OP-Trainingsvideos für Studis da, kennen Sie sicher, Frau Doktor! Die Haut wächst schnell zu, aber bis das Gewebe nahe an der und um die Wirbelsäule wieder verwachsen ist, dauert das mehrere Wochen. Das Pflegeteam nimmt das Motiv schnell auf: Frau K. ist eine Patientin, die man bremsen muss. “Sie öffnen die schwere Balkontür aber nicht selber!” “Sie melden sich aber bitte, wenn Sie Hilfe brauchen!” Jo, eh.
Möge die Heilung lange anhalten und das Gesundheitsgeschehen positiv-langweilig bleiben!