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- 24 11 2022 - 11:36 - katatonik

Zwischenräume und Bahnhöfe

Jedes halbe Jahr Kontrolle durch MRT, seit zweieinhalb Jahren. Es ist vorgesehen, dass das noch drei Jahre so weitergeht, denn es könnte sich etwas neu bilden, wo etwas operativ entfernt wurde, damals, und diese Art von Bildung ist dermaßen selten, dass zeitlich engmaschige Beobachtung mit bildgebenden Verfahren angebracht ist. Sie würde ihre potenziell tödliche Wirkung freilich sehr langsam entfalten; selbst, wenn eine neue Bildung entdeckt würde, wäre das bestenfalls Grund für ernste Besorgnis, aber kein Todesurteil. Gefordert wäre dann zunächst chirurgische Kreativität. Erwartbar wären handhabbare Beeinträchtigungen; kaum Schmerzen. Konjunktive sind übrigens wichtig.

Die Winterkontrollen sind schwerer zu verkraften als die Sommerkontrollen; es ist düster, kalt und feucht, da schleicht sich Todesangst leichter in die Knochen – die, wie ich anlässlich der Erstdiagnose befand, eigentlich keine Todesangst ist, sondern aus Endlichkeitsangst und Hinterlassensangst besteht. Angst davor, zu wenig Zeit zu haben für das Viele, das ich doch noch gerne, Angst davor, Menschen zu hinterlassen, für die ich nicht mehr da sein kann, und die meinetwegen leiden würden, was ich zutiefst unpassend fände (und mir schon beim Gedanken daran das Herz bricht, es gibt keinen anderen Ausdruck dafür, es ist einfach so).

Das sind die Schleifen, die ich damals durchlief, im Kopf, und es war leichter, als ich zu einer Beschreibung dieser Angst gelangt war. Der Schlaf kam wieder, als ich die Angst beschreiben konnte. Es gibt keinen objektiven Grund, diese Angst jetzt wieder zu empfinden, kein Anzeichen dafür, dass sie notwendig oder angebracht wäre. Es kann bei dieser potenziellen Neubildung auch kein Anzeichen geben, denn man bemerkt sie sehr lange nicht, die malignen Zellen. Schon beim ersten Mal blieben sie jahrelang unbemerkt und fraßen einen Knochen auf, der jetzt, nach ihrer Entfernung, sehr, sehr langsam nachwächst (die etwas tiefere Wangengrube, die bislang noch niemand bemerkt hat, ohne darauf hingewiesen worden zu sein). Es gab keine Symptome. Die Zellen schafften den Weg ins Lymphsystem nicht, kamen gewissermaßen nicht bis zum Bahnhof für den Transport hin zu anderen Organen. Man hat den Bahnhof (in der Nähe befindliche Lymphknoten) chirurgisch dann vorsorglich entfernt. Falls sich neue Zellen bilden sollten, würden sie im entlegenen Dorf jenes Gewebes gefangen bleiben, das von der letzten Operation noch etwas nervenarm langsam nachwächst. So long, (hopefully nonexistent) suckers.

So ist das: dieses Unsichtbare, das da sein könnte, über dessen potenzielles Dasein keine Wahrscheinlichkeiten Auskunft geben können, da es dafür zu selten auftritt, das aber jedenfalls von mir nicht bemerkt und empfunden würde, wenn es denn da wäre. Ich sehe mir die Bilder an, die ich gestern vom MRT gleich mitbekam, das geht ja immer verdammt schnell. Ich vergleiche sie mit den Bildern von vor einem halben Jahr. Das ist sinnlos, denn das potenziell Bemerkenswerte kann mein ungeschultes Auge gar nicht bemerken.

Aber es kann etwas getan werden. Angesichts unsichtbarer Bedrohungen kann Sinnloses immerhin getan werden und muss nicht ungetan bleiben. Und es beruhigt, weil es in erleichternde Bahnen führt: Solange das Tun von Sinnlosem möglich ist, kann sich das spöttische Ich daran festhalten und in Gelächter über eine selbst verfallen. Das ist nun jedenfalls ein Bahnhof, der noch da ist. Abfahrt. [Wir bleiben übrigens im Konjunktiv; der Befund erhielt auch diesmal die Worte maximaler Erleichterung: “kein Nachweis”. Darauf einen Luftsprung.]

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