Markieren, Pflegen, Bannen
Lebensabschnitte markieren, eingrenzen, als vergangen festhalten, Gefahren, die mit ihnen verbunden waren, bannen. Diese mittlerweile recht groß gewordene Avocadopflanze, die sich schlecht fotografieren lässt, heisst unspektakulär “Kerni”. Der Salbei am Balkon trägt den Namen “Erwin”, da haben wir uns Mühe mit der Individualisierung gegeben; bei der Avocadopflanze reichte der Verweis auf ihren eigentümlichen Ursprung. Gut, Erwin ist eigentlich Erwin IV, da Erwin I-III nicht überlebten, aber so genau nehmen wir das nicht mit der Individualität.
Kerni steht in zeitlich ungefährem Zusammenhang zur Diagnose einer sehr seltenen Art von Oberkiefertumor vor etwa zwei Jahren. Genau genommen steht die Pflanze in keinem Zusammenhang, sondern in zufälliger Fast-Koinzidenz. Der Avocadokern war bereits eingewässert, als kleines Alltagsexperiment, als eine Reihe von Untersuchungen — durch eine zweimonatige Lockdownphase zu Beginn der SARS-CoV2-Pandemie in Europa unterbrochen — zu besagter Diagnose führte. Schon eine Woche nach Diagnose wurde operiert; dann kamen Untersuchungen, die sehr bald zeigten, dass da nichts mehr war. Nein, man muss das schon in der korrekten Befundsprache sagen, denn dass man keinen Krebs mehr hat, das sagt keiner, denn das geben die Verfahren nicht her, mit denen man den Körper durchleuchtet, durchstrahlt, durchmisst. Es heisst: nichts nachweisbar.
Das heisst es jetzt seit zwei Jahren. Kontrolluntersuchungen sind über einen Zeitraum von insgesamt fünf Jahren vorgesehen, da dieses Ding so selten ist. Es gibt keine Anhaltspunkte für Rezidiv-Wahrscheinlichkeiten, daher muss recht häufig kontrolliert werden. Verläufe sind schleichend, Grenzen unklar. Gesundheit ist ein Zustand, dem man sich nur mit epistemischen Negationen annähern kann. Nicht nachweisbar. Wenn das Ding wiederkommen sollte, so heisst es, würde es dank engmaschiger Kontrollen entdeckt und operiert werden können. Es ist eine sehr langsam wachsende Art von Tumor. Es ist fies, aber faul, übersetze ich das für mich. Es gab keine Streuung, und es wurden Vorkehrungen getroffen, damit es auch in Zukunft keine geben kann. Daran werde ich nicht sterben, übersetze ich das für mich und die, die mir nahestehen.
Ich relativiere dann auch gerne. Wenn man an einer Krankheit laboriert, konzentriert man sich darauf; der Zustand, von dieser Krankheit frei zu sein, wird zum Ziel. Das ist Psychologie. Aber es gibt daneben auch andere Krankheiten und lebensbedrohende Ereignisse, jetzt gibt es sie vielleicht schon in einer drin oder es wird sie in Zukunft geben, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle oft, zumindest zunächst. Die eigene Sterblichkeit bleibt ein Faktum, auch wenn eine bestimmte Erkrankung verschwinden sollte. Es gibt ja auch noch Klimakatastrophe, Hitze, Dürren, Kriege, Nazis. Auch wenn man Krebs hat, kann man an etwas anderem sterben, sagte ich einmal zur Zahnärztin, der ich die Entdeckung dessen verdanke, was dann als Tumor identifiziert wurde; das Ding war symptomfrei und deutete sich nur als Schatten auf einem Röntgenbild an. Als ich das zu ihr sagte, wusste ich noch nicht, dass ihr Großvater dieselbe Art von Tumor hatte und dann tatsächlich an etwas anderem verstorben war; der Satz war mir im nachhinein unangenehm.
Es gab einen Kollateralschaden der Tumor-Operation, eine winzige Perforation am Gaumen, sagen wir’s deutlich: ein Loch. Es brauchte mehrere Operationen mit kunstvoll von Gaumen und Wange herbeigesäbelten Lappenplastiken; es gab Gelegenheit zu vielfältigen Beobachtungen im Krankenhaus ( 1 | 2) und auch während eines Reha-Aufenthalts, alles unter von der SARS-CoV2-Pandemie gesetzten Rahmenbedingungen. Erst Anfang dieses Jahres war die Kieferhöhle dann wieder dauerhaft verschlossen. Die Stelle war schwierig zu reparieren; Operationen erforderten immer Vollnarkose. Onkel Chirurg war frustriert. Dazwischen monatelanges Warten auf Abheilen und Hoffen auf Verschluss, Enttäuschung, temporäre Lösungen, Prothesen, flüssig-breiige Ernährung, Wiederaufbau des Kreislaufs, Selbstüberwindung, Muskelaufbau, alles in Maßen mühevoll und im Grunde genommen vergleichsweise harmlos — und erstaunlich schmerzfrei —, aber doch langwierig und aufgrund der Ungewissheit belastend. Ein Schritt vor, zwei zurück, drei zur Seite.
Wenn die Mundhöhle zur Kieferhöhle hin geöffnet ist, auch nur ein kleines bisschen, ein paar Millimeter nur, dann hat das Konsequenzen von erstaunlicher Tragweite. Man hört seine eigene Stimme ganz anders. Der Atem fließt in und durch Bereiche des Kopfes, wo er sonst nie hinkommt. Man fühlt sich, als könne man schlecht und nur mit hohem Kraftaufwand sprechen, auch wenn sich das für die, die zuhören, gar nicht so stark bemerkbar macht. Eine kleine Veränderung der Stimme, ja, aber die akustische Symmetrieverlagerung im Kopf, die für mich selbst so ungeheuer war, diese Resonanzraumerweiterung auf einer Seite bis unter die Augenhöhle, das Vibrieren an der Nasenflanke beim Sprechen — das bekam niemand mit, der mir zuhörte. Sprechen war anstrengend; ich tat es dann einfach seltener. Vorträge halten was a bitch, auch mit der temporären Prothese, die das Loch abdeckte. Ich begann die Kopfhaltung millimetergenau auszutarieren, damit der Rand der Prothese im Mundraum nicht zu weit nach hinten ragte und mich zum Würgen zwang. Ich entdeckte, dass häufigeres Wassertrinken während eines Vortrags gegen Würgereiz half. Nahrung und Getränke erkundeten jetzt auch Kiefer- und Nasenhöhlen, tja. Mikrobakterielle Zusammensetzungen änderten sich. Das Wort “Entzündungsdynamik” fiel bei Ärzten häufiger.
Hail to the past tense! Jetzt, nach der letzten Operation, zeigt nicht nur die stimmliche Erfahrung sondern auch jede bildgebende Untersuchung stabil: Es ist vollbracht. Lappen sind angewachsen, wo sie anwachsen sollten. Keine Entzündungsindikatoren mehr. Waren es die pflanzlichen Entzündungshemmer, die ich vor der letzten OP wochenlang wie Smarties schluckte? Konnten sie das Klima in der Kieferhöhle so weit stabilisieren, dass dann kein Druck von oben den frisch angenähten Verschluss kurz nach der OP wieder wegdrückte, was zuvor wohl immer passiert war? Oder war das einfach Placebo? (Das Mittel war jedenfalls Angocin, wenn’s jemand wissen will.)
Who knows. Onkel Chirurg ist begeistert vom stabilen Schwarz, das sich auf den MRT-Bildern jetzt auch für die linke Kieferhöhle zeigt. Ich bin begeistert, ohne Prothese sprechen und essen zu können und gewisse neurologische Nebenwirkungen losgeworden zu sein, die Essen in Gesellschaft, nun ja, erschwerten. Ich will das feiern, immer noch, jeden Tag, markieren, Gefahren als gebannt festhalten. Die Verläufe bleiben schleichend. Narbengewebe wird wohl irgendwann noch repariert werden, Nerven müssen sich erst noch regenerieren. Aber nach außen hin sieht man nichts. Fast nichts.
Ich sitze häufig direkt neben Kerni, unter seinen Blättern, beobachte seine Verästelungen. Er hat viel Sonne und wächst gut. Er wurde zwischenzeitlich umgetopft, da er mehr Platz brauchte. Er wächst verschlungen. Er entwickelte Äste an ungünstigen Positionen, also jedenfalls dann, wenn man symmetrisches Wachstum bei einer Pflanze für günstig hält. Ich griff nicht ein; er war ja nicht krank, nicht deswegen. Der Ficus, der neben ihm steht, hat ihm dann wohl irgendwann Woll-Läuse geschenkt. Ich behandle beide dagegen, anscheinend mit Erfolg. Manchmal verdorrt eines von Kernis Blättern, manchmal zeigen sich braune Ränder an mehreren, die dann irgendwann abfallen. Die Pflanze zeigt mir, dass ihr etwas nicht gefällt, dass sie von etwas angegriffen wird, dass sie mit etwas nicht zurechtkommt; ich versuche, daraus zu lernen und gieße oder dünge oder dusche mehr oder weniger, je nach Diagnose. Ich pflege und banne Gefahren. Die Gesetzmäßigkeiten bleiben rätselhaft. Vieles liegt unterhalb meiner Wahrnehmungsschwelle. Das Meiste eigentlich.
Jetzt fügen sich die Brei-Tweets natürlich zu etwas ganz anderem zusammen — ich bin erleichtert, dass es sich erstmal so gut ausging. Ich hoffe sehr, das bleibt überwunden! (Danke für diesen Text!)
Danke für den Kommentar (auch das ein historisches Ereignis)! Ja, ärztliche Aufmerksamkeit und Chirurgie sind schon was Feines …
Herrjeh, welch herbe Zeit. Gerade Ihre ruhige Rückschau lässt mich fast körperlich berührt zurück – und doch zuversichtlich, daß der Großteil der Genesung bereits hinter Ihnen liegt. Auch für den Rest noch alles Gute!