Vom Stock
Auf den ersten längeren Ausgang — er sollte immerhin sechs Stunden dauern — nahm ich einen der Nordic-Walking-Stöcke mit. Der Stock ist schwarz und aus Leichtmetall. Der Name der Herstellerfirma und des Modells sind an der Stange in grellem Weiß und Gelbgrün aufgedruckt. Auch der Griff ist gelbgrün, mit Korkeinlagen an jenen Stellen, an denen die Hände Halt brauchen. Es gibt eine Handschlaufe mit Klettverschluß, in die sich die Hand so einfädeln kann, dass der Stock auch ohne Zugriff fest mit dem Handgelenk verbunden bleibt und an ihm baumeln kann. Der Stock hat nicht zufällig die Anmutung eines Skistockes, der Sport hat sich ja in Zusammenhang mit Skisport entwickelt. Der Nordic-Walking-Stock hat auch eine Metallspitze, auf die nun ein schräg gebogener Gummipuffer gesteckt war, wie es beim Walken auf Asphalt generell empfohlen wird.
Ich nahm den Stock hauptsächlich aus psychologischen Gründen mit. Ohne Stock gibt es nichts an diesem Körper, das anderen vermitteln würde, dass da an einer für die Körperstabilität recht heiklen Stelle Fremdkörper einheilen und gerade diese Stelle bitte nicht durch plötzliche Bewegungen des Ausweichenmüssens irritiert werden sollte. Die Stelle ist durch Kleidung, Haut und Muskelschichten gut verborgen. Der Stock erweist sich in dieser Lage als magischer Gegenstand, der Menschen, die mir sonst zu nahe kämen, etwas weiter weghält und mir jene Art von bedachtsamer Bewegung ermöglicht, die zum Schutz der vor sich gehenden Einheilung gerade angebracht ist. Im Lauf dieses ersten Ausgangs, der ersten Abendveranstaltung nach dem Eingriff, erlebte ich, wie das spielerische Sich-Stützen auf den Stock, in dem ich mich dann doch immer wieder versuchte — der Stock war ja da, also warum nicht —, den Rücken tatsächlich massiv entlastete. Schau einer an. Es war dies immerhin meine erste Stock-Erfahrung nach dem Schienbeinbruch (beim Skifahren) im Alter von vermutlich sieben Jahren. Ich weiß es nicht mehr genau und möchte nicht nachforschen.
Es gibt die Formulierung “am Stock gehen”. Wenn ich sie höre, denke ich an gebeugte ältere Menschen mit einem Stock aus Holz, poliert, mit einem gebogenen Griff. Oder an ältere Menschen, die auf Bankerln vor Bauernhäusern sitzen, die Stöcke vor sich gestellt, die Arme darauf gestützt, manchmal auch das Kinn darauf abgelegt. Mein nächster Gedanke, schon konkreter, gilt einem älteren Verwandten, der gerne durch die Wälder seiner Wohngegend streift, mit einem spitzen Stock aus poliertem Holz. Er geht langsam, er spricht dabei und weist mit der Spitze andere immer wieder auf besondere Pflanzen oder Pilze im Waldboden hin, auf Veränderungen oder Phänomene. Wo früher Wasser geflossen ist. Wo sie einen Baum gefällt haben, sie, die anonymen, nicht genau bekannten Besitzer und Behandler des Waldes. Die Spitze des Stockes ist ihm, dem älteren Verwandten, zu einem Zeigegerät geworden, auch zu einem Sondierungsinstrument, einem Werkzeug der Entdeckung.
“Ob beim Theaterbesuch oder beim Stadtbummel: moderne Materialien wie Aluminium oder Carbon kombiniert mit modischen Farben machen den Gehstock für Senioren als Gehhilfe zu einem eleganten Hilfsmittel, das seinen Träger schmückt und für den sicheren Gang unterwegs sorgt.”
Das Zitat findet sich auf mehreren Websites von Sanitätshäusern; ein generischer Werbetext. Der Gehstock ist dank seiner Sichtbarkeit auch Objekt der Gestaltung, er kann und soll etwas hergeben. Der Stockshop, er greift (!) weiter aus und wartet mit einer großen Vielfalt an Stöcken unterschiedlicher Funktion und Getaltung auf. Da sind kunstvoll angefertigte Stöcke (polierte Hölzer) mit Knäufen. In Gedanken sehe ich wohlgenährte Herren mit Zylindern und wehenden Wollmänteln im nebligen London über nass glänzendes Kopfsteinpflaster eilen, die Stöcke fliegen lassend. Sie brauchen ihre Stöcke nicht, aber diese sind ihnen auch nicht einfach modisches Accessoire. In ihren Gesten, darin, wie sie mit den Stöcken hantieren, finden sich Spuren der Handhabung von Zeptern.
Im Stockshop gibt es auch bunt bedruckte Designstöcke; ich denke an eine spanische Bekleidungsfirma. Manche der Stöcke sind aus Kunststoff oder Leichtmetall (Aluminium, Carbon) und können zusammengeklappt werden. Es gibt auch Stöcke mit aufklappbaren Sitzflächen. Sitzstöcke. Der Sitzstock “Ascot” vermittelt mit seinem Namen, wofür er gedacht ist. Ich war noch nie bei einem Pferderennen. Aber es gibt dort gewiss eine beschränkte Anzahl von Sitzplätzen, die man sich leisten können muss, zu denen man Zugang erlangen muss. Der Sitzstock “Ascot” evoziert eine Umgebung aus Überfluss und Reichtum, wäre aber im tatsächlichen Einsatz beim Pferderennen doch eher für Personen, die eben gerade keinen Zugang zu festen Sitzplätzen erlangen können, die dort, nun ja, nicht so wirklich hingehören. Das Produkt verspricht den Nimbus von etwas, gehört zu diesem Nimbus aber nicht. Viele der angebotenen Sitzstöcke haben Sitzflächen aus Leder. Die Unterfläche der ledernen Sitzfläche des Stockes “Harris” ist aus echtem Harris-Tweed. Andere Sitzstöcke dienen dem Ausharren während der Jagd (Sitzfläche stabiles Rindsleder), für die übrigens auch Zielstöcke angeboten werden. Wieder andere dienen dem Ausruhen beim Wandern, dem Verweilen in der Natur, etwa bei der Vogelbeobachtung (grüner ABS-Kunststoff mit stabilem Aluminiumrahmen).
Bei meinem Ausgang unlängst nahm ich nur einen der beiden Nordic-Walking-Stöcke mit, da es regnete und ich die andere Hand für den Regenschirm brauchte. Zwei Stöcke würden den Körper beim Gehen gewiß besser und ausgeglichener abgestützt halten, doch das scheint mir mit den Anfordernissen eines Stadtausflugs auch ohne Regen schlechter vereinbar. Es muss doch immer wieder etwas gezogen, gedrückt, gehalten werden, da stört der zweite Stock einfach. Ich fädle die Hand auch nicht in die Schlaufe ein, denn die Hand in der Schlaufe ist, nun ja, gebunden. In der Straßenbahn sitzend würde sich der Stock an die Hand gefesselt anfühlen, und die Hand an den Stock. Das stört, ebenso wie ein zu häufiges Aus- und Wiedereinfädeln der Handschlaufe. Ich könnte die Schlaufe also sogar vom Stock entfernen, das erlaubt dieses Modell immerhin. Ich würde sie dann aber bestimmt an einem Ort lagern, der mir entfiele. Das muß nicht sein.
Bei meinem zweiten Ausgang, untertags, verschafft mir der Stock in einer überfüllten Straßenbahn einen Sitzplatz, weil eine junge Frau, die sich setzen wollte, bei seinem Anblick innehält und mir den Platz überlässt, danke. Mittlerweile verfüge ich über geschärfte Stock- und Stützsensorien und registriere aufmerksam Geh- und Stehhilfen aller Art. Da ist die ältere Dame an der Busstation mit nicht nur einem, sondern zwei Nordic-Walking-Stöcken. Verwendet sie sie wie ich, oder ist sie tatsächlich zu einem Nordic-Walking-Ausflug unterwegs? Wer weiß; ihre Kleidung lässt keine Rückschlüsse zu. Ich sehe nur wenige ältere Menschen mit Gehstöcken, das mag an der Tageszeit liegen, oder ist es einfach generell so? Ist man auf einen Gehstock stark angewiesen, geht man wohl weniger häufig außer Haus. Der Gehstock ist ein Werkzeug, dessen Verwendung sich umgekehrt proportional zu seiner Notwendigkeit verhält.
Die eine oder andere Krücke fällt mir auf, bei jungen Männern mit Orthesen am Bein. Krückenbenützer*innen fallen schneller auf, weil sie sich ruckartiger bewegen. Sie stechen aus Mengen hervor. Eine Frau schleift eine, und wirklich nur eine, Krücke einfach so mit, sie stützt sich gar nicht drauf, was macht sie nur mit dem Ding, und warum? Ein älterer Herr verwendet seinen Regenschirm wie einen Gehstock, eine geschickte Funktionsfusion, die die Stockindustrie gewiss vergrämt. Im Bus stützt sich eine ältere Dame auf ihren Einkaufswagen. Als ich dann mit meinem zum Stützstock entfremdeten Sportgerät von der U-Bahn-Station aus den leicht abschüssigen Weg nach Hause antrete, kreuzt ein Mann meinen Weg: hoher Haaransatz, das zerzauste, längere Haar mit Frisiercreme aus dem Gesicht geklatscht, ein wie von der Sonne vergilbtes Sportblouson, das Hemd etwas zu weit geöffnet, Goldkette, ein großer Hund an der Leine. “San se beim Wandern?” fragt er mich, und er kriegt ein lachendes “Jawoll!” als Antwort.
Keine Wanderung ohne Wanderstock – auch wenn ich eigentlich zu jung dafür bin, aber ich merke schon länger, wie sehr er mir beim bergab hilft und daher: warum nicht. Weiter gute Besserung
amberlight (May 28, 08:31 am) #