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- 8 12 2024 - 08:31 - katatonik

Nichts muss so bleiben, wie man glaubt, dass es wäre

Vor eineinhalb Monaten hatten wir sie aus dem Krankenhaus entführt, im Rollstuhl, wenige Tage vor der Operation. Sie wollte den Hund sehen, der Hund durfte natürlich nicht ins Krankenhaus hinein, also rollte der Elfjährige sie im Rollstuhl nach unten, nach draußen, und dann war es recht windig, ich lieh ihr meinen Schal, den roten, und eins gab das andere, und so rollten wir, ausgelassen, in ein nahegelegenes Café, mit dem Hund. Der Elfjährige, erst noch so ernst und schweigsam, er taute auf, und das Gespräch ging so hin und so her, erstaunlich, wie sie heute schon in Jugendfußballvereinen Videoanalysen machen, mit Drohnen und so, sowas, und was willst du denn in deinem Schulpraktikum machen, echt, zur Biologin ins Labor?

Das Gespräch ging über das Thema hinweg, manchmal auch daran rührend, ja. Es wurde viel fotografiert, er, der Mann, ruhig, so darauf achtend, dass nichts passierte, dass alle zufrieden waren, er hatte das Handy immer im Anschlag. Man wusste nicht, damals, ob sie in ein paar Tagen noch sprechen, denken, alles bewegen können würde, was sie nun bewegen konnte. Die Furcht war am Tisch voller Tees und Kaffees und Nutellapalatschinken, und sie sprach sie dann auch aus, in Fragen, die niemand beantworten konnte und die mit “glaubst du, dass ich jemals” begannen. Sie neigt dazu, ihr Gegenüber zu überfordern, im Gespräch immer etwas zu viel zu erfragen, zu erwarten, so ist sie. Sie kann auch heute noch sprechen, denken, und alles bewegen; es ging in der Hinsicht gut aus, aber in der anderen nicht, denn jetzt ist ein deutliches Krankheitsbild da. Eines von denen, bei denen du weißt, aber nicht weißt, du weißt, nicht mehr lange, jedenfalls nicht mehr so lange, wie du möchtest, aber du weißt nicht, wie lange, und vor allem nicht, wie.

Sie lud Leute ein, so eineinhalb Monate später. Sie sang. Es war Hauskonzert angekündigt gewesen, formloses Herumhocken, Schlürfen und Knabbern, und dazu Hauskonzert; die Klavierlehrerin des Elfjährigen spielte, sie sang. Sie hatte das Singen entdeckt, mittlerweile, die Klavierlehrerin hatte ihr eine Gesangslehrerin empfohlen. Sie sang an diesem Abend entgegen den Empfehlungen der Lehrerin, denn die Lehrerin vertrat die Meinung, sie müsse ihre Stimme erst noch finden, sie sei noch in ihrem Körper gefangen und müsse gefunden, befreit, entdeckt, entwickelt werden. Aber sie wollte singen an diesem Abend, deutschsprachige Lieder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und noch etwas Gounod, alles mit Klavierbegleitung. Sie begann mit “Kauf’ dir einen neuen Luftballon”, komponiert von Anton Profes, als Teil des Filmes “Der weiße Traum” (1943), ein Eisrevuefilm, der in Wien spielt. Ein Lied, das ermuntert, Träume der offensichtlich unrealisierbaren Art zu verfolgen, ihnen nachzugehen, sie zumindest nicht aus den Augen zu lassen; man kann da viel hineindeuten, zumal, wenn man den Kriegszusammenhang bedenkt, den Faschismuszusammenhang, in dem das Lied enstand. Es gibt davon eine Remix-Version mit leicht erweitertem Text. Wo man vor Wut fast aus der Haut fahrn könnt. Dann denkt man manchmal: Ach, wär das schön, Wie ein Ballon jetzt in die Luft zu gehn. Den Wut-Teil, der im ursprünglichen Text fehlt, den singt sie besonders überzeugend. Der Körper als Werkzeug der Wut und der Träume. Das ist in diesem Moment sehr stimmig.

Der Elfjährige, er spielte dann noch Trompete, später, schon gegen zehn, die Nachbarn, nun ja, aber gut, spiel was. Es war nichts Konkretes, melodiöse Phrasen eher, angedeutete Musik, der Hund, der zu seinen Füßen lag, knurrte erst, dann heulte er mit, und alle lachten.

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