Go to content Go to navigation Go to search

- 12 06 2021 - 14:19 - katatonik

Aus dem Niemandsraum

Nach mittlerweile vier Operationen im Zeitraum eines Jahres bin ich zur Überzeugung gelangt, dass der Raum vor dem Einschleusen zur OP das Faszinierendste an der ganzen Sache ist. Das ist ein großer Raum, wo zwischen zwei besetzten Koordinationsstationen für jeweils zwei OP-Bereiche die Betten der zu Operierenden hingerollt werden. Die liegen dann da rum, bis jemand “Einschleusen” und den Patientennamen ruft.

Ich nenne ihn den Niemandsraum, analog zu einem Niemandsland. Ein unwirtlicher Raum, in dem man sich weder lange aufhalten soll noch möchte. Ein Raum, in dem in kurzer Zeit Splitter und Fetzen von vielen Krankengeschichten mit vielen Krankenhausarbeitsgeschichten durcheinanderwirbeln, wo Struktur auf Erfahrung trifft, wo teils zufällige und teils formalisierte Gesprächsabläufe einander durchkreuzen und überlagern.

Im Niemandsraum gibt es eine Dramaturgie. Nein, ich muss das einschränken: Frühmorgens gibt es eine Dramaturgie, denn das ist die einzige Tageszeit, die ich im Niemandsraum kenne, denn aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, kam ich immer als Erste im Ablauf des Chirurgen dran. Um halb sieben kommt ein Träger, der eigentlich ein Roller ist, in das Krankenzimmer und rollt mich im Bett bis in den Niemandsraum 13 Stockwerke tiefer. Als OP-Patientin darf man dorthin nichts mitnehmen, keine Uhr, kein Schmuck, keine Wäsche am Körper bis auf das hinten offene OP-Hemd. Selbstverständlich keinerlei Endgeräte oder Lektüre. Als Neuerung wurde kürzlich eingeführt, dass man grundsätzlich seine Brille mitnehmen darf; die Pflegerin fragte mich also diesmal, ob ich meine Brille bis zum OP mitnehmen wollen würde. Ich wusste gar nicht, was ich darauf sagen sollte; allein der Wunsch, ausgerechnet die Brille dorthin mitnehmen zu wollen, kam mir absurd vor. Ich nahm sie nicht mit.

Als ich im Niemandsraum ankam, waren da nur wenige andere OP-Patient*innen; es füllte sich dann aber langsam und wurde geschäftiger. Der Tag beginnt. Die Koordinatorinnen in ihren Stationen telefonieren herum, telefonieren für sie nicht schlüssigen OP-Verlegungen hinterdrein, scherzen mit diesem leicht klagenden Unterton von Menschen, die ihre wertvolle Arbeit für stets unterbewertet und oft torpediert halten. Man erahnt, wie mühselig das Koordinationsbusiness in einem Riesenkrankenhaus sein kann, wo ständig irgendwer irgendwo etwas umplant und dann nicht immer im Blick hat, wer wo wie davon zu verständigen ist.

Personen in grünen OP-Anzügen tauchen auf. Um ehrlich zu sein, ich habe den Farbcode immer noch nicht so ganz durchblickt. Einige davon sind Anästhesist*innen, andere sind Anästhesiepfleger*innen. Ob Grün auch noch von Dritten getragen wird, who knows. Ich mag diese jedenfals diese grünen und blauen Krankenhausanzüge, sie haben so etwas erfrischend Klares, und dann gibt es noch diese eng anliegenden OP-Hauben, die in Wien meistens Ton in Ton zum Anzug getragen werden, nur gelegentlich mit Motiven.

Die Grünlinge sind meistens dynamisch und jung und tragen gern große Rucksäcke, die schwer befüllt aussehen, meistens in Schwarz. Leider habe ich vergessen zu fragen, ob da ein System dahintersteckt mit den schwarzen, schweren Rucksäcken und den mit Anästhesie Befassten. Auch ein paar blau und weiß Gekleidete kommen herbei. Die etwas grobschlächtig Aussehenderen unter den Weißgekleideten sind die Träger, also eigentlich Roller, von denen sich allmählich ein Trupp ansammelt in einem Eck, je mehr Betten herbeigerollt werden. Da sitzen sie rum, sprechen in aufregend klingenden Sprachen, die ich nicht verstehe, unterhalten sich, lachen, warten auf ihren nächsten Transport, wie Taxifahrer beim Taxistand. Manchmal ruft eine der Koordinatorinnen einen Namen, dann geht ein Roller hin und nimmt den nächsten Transport in Angriff. Unter den Arbeitenden ist die Stimmung im Niemandsraum recht gelöst da am Morgen. Man kommt zur Arbeit, viele mit ihren Coffee-to-go-Pappbechern dabei, andere mit Krankenakten, Kleingerät wird durch den Raum bugsiert. Man kennt sich, man grüßt sich, man plaudert mit den Koordinatorinnen, aber kurz, und Vieles an der Kommunikation ist ritualisiert: Aufrufe hierhin und dorthin, am lautesten und deutlichsten das “Einschleusen” gefolgt von einem Namen, das eine Koordinatorin vorgibt und ein Grünling verstärkt.

Die in den Betten liegenden OP-Patient*innen sind stumm, aus verständlichen Gründen nervös; auch sie sind uniformiert, wie alle hier, in ihren OP-Hemden und der Krankenhausbettwäsche. Sie kriegen Besuch von den farbig Gekleideten, welchen, das variiert. Ein weiß Gekleideter, offenbar ein Arzt, kommt zum grauhaarigen Mann, dessen Bett man vor meinem abgestellt hat. Er teilt ihm, der an der Lunge operiert werden wird, noch das Ergebnis eines kurzfristig durchgeführten CTs mit, leider etwas Besorgnis erregend, da hätte man noch einen suspekten Lymphknoten gefunden, das müsse man dann anschauen. Er spricht mit großer Behutsamkeit, langsam, mit Pausen, lässt dem Herrn viel Zeit für Fragen. Auf jeden Fall spräche nichts dagegen, den Eingriff wie geplant durchzuführen, im Gegenteil, also, wir machen das jetzt, das ist auf jeden Fall das Beste für sie. Ich bin ganz hin und weg und schmelze dahin von der Fürsorge, die in der Stimme des Arztes liegt. Zu einem anderen Herrn links zwei Betten neben mir kommen blau gekleidete Damen, die ein gelbes Formular abfragen, auch zu dem grauhaarigen Lungenpatienten. Komisch, ich habe nie ein gelbes Formular gesehen, was hat es auf sich mit diesen gelben Formularen? Die Blauen verschwinden durch eine Tür, die mir rätselhaft bleibt; ein Zugang zu einem unbekannten Bereich. Zu einer jungen Frau Magister kommt eine blau gekleidete Ärztin, da wird eine Krankengeschichte scheinbar ganz von Anfang aufgerollt, mit vielen Untersuchungen und Befunden. Die Frau Magister erzählt sehr eifrig sehr viel, die Ärztin nickt dazu.

Gespräche mit den Nebenliegenden im Niemandsraum ergaben sich bei den letzten drei Operationen nicht, jetzt aber! Eine Dame, etwas älter als ich; wir stellen fest, dass wir beide zur vierten Kieferoperation da sind. What are the odds? Mich freut das, sowas hat doch Potenzial für eine durchaus ergiebige Unterhaltung und Erfahrungsaustausch. Leider wurde die Unterhaltung recht einseitig, da die Dame mitteilungsfreudig, aber nicht unterhaltungsfreudig war. Kiefervorverlagerung wegen Schlaf-Apnoe, an der übrigens auch ihre Schwester leiden würde, aber die ließe sich nicht operieren, und sie sei mittlerweile davon überzeugt, dass auch ihr Vater daran verstorben sei, weil der viel zu früh an einem Herzinfarkt, also das sei doch verdächtig, aber da hätte eben niemand an den Zusammenhang gedacht damals. Ich bin natürlich mitfühlend, Kiefervorverlagerung mit drei Folgeoperationen, das klingt schlimm, Schlaf-Apnoe sowieso, wie furchtbar. Ein Gespräch will nach ausführlichem Jammern über Schlaf-Apnoe und was man da alles nicht kann und darf (beim Heurigen Wein trinken zum Beispiel) nicht so recht in die Gänge kommen. Nun, es ist auch nicht die entspannteste Plaudersituation.

Schon kommt “mein” junger Mann in Grün, der Anästhesist mit schwerem schwarzen Rucksack, den er, wie er erfreut bemerkt, “ohne Verluste” zwischen meinem Bett und dem meiner Nachbarin durchkriegt, während er sich da reinschiebt. An dem schwarzen Rucksack pinnt ein kleiner blauer Button, leider sehe ich nicht, was drauf ist und vergesse zu fragen. Der Anästhesist geht den üblichen Fragebogen durch, von Allergien und Vorerkrankungen und der obligaten Frage, ob ich Stiegensteigen ohne Schnaufen kann. Ich darf das telefonisch bereits vorbesprochene Voranästhesieprotokoll unterschreiben, das war’s. Dann geht’s los, ich werde wie schon beschrieben auf den OP-Tisch serviert, ein Grünling schiebt mich aus dem Niemandsraum durch ein paar Gänge in den OP-Raum. Er spricht von Sicherheitsgurten, die er anlegt, als er mich festschnallt, ich frage, ob wir bis zum OP etwa mit Gegenverkehr zu rechnen hätten (haha), er so, nein, um die Zeit noch nicht (hahaha).

Im OP erwartet mich bereits das Ballett der fröhlichen Verkabler*innen, es piepst herum, Stimmengewirr mit Werteabgleich und Statusbericht. Der Anästhesiegrünling lässt mich noch meine Lungen mit Sauerstoff aus der Maske füllen, “tief atmen, so lange Sie uns hören”, sagt er, und dann hab ich sie wohl bald nicht mehr gehört.

  Textile help