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- 16 10 2020 - 08:40 - katatonik

Operationen

Operationen, also solche chirurgischer Art, sind eigentümliche Ereignisse. In der Regel erlebt man sie ja selbst nicht mit, zumindest dann nicht, wenn man gnädigerweise in Vollnarkose versetzt wird. Ich bin ein großer Freund der Vollnarkose, seit mein als Landarzt in allen möglichen Techniken geschulter Vater mir bereits Milchzähne unter Vollnarkose entfernte.

Operationen existieren im Vorher und im Nachher, das Vorher stärker, das Nachher dann meist weniger stark von Krankenhäusern geprägt. Am Tag der Aufnahme werde ich langsam eingegroovt in die Betrachtung der eigenen Existenz aus medizinisch-chirurgischer Sicht, es werden Vorgeschichten abgefragt und bestätigt, Werte erhoben, Abläufe erklärt, von Krankenschwestern und Assistenzärztinnen; ein Zugang wird gelegt, durch den dann im Nachher Antibiotika und Schmerzmittel intravenös zugeführt werden sollen.

Der Abend vorher ist ruhig, langweilig, existenziell gefärbt. Bei allem Vertrauen in die Chirurgie, das ich seit meinem ersten, etwas größerem Eingriff vor vier Monaten erworben habe — und bei allem biografischen Enthusiasmus für Vollnarkosen —, ist die Vorahnung doch so etwas wie die einer Antizipation des Todes, ein Hinübergleiten in ein Wegsein. Manifester ist das damit verbundene Sich-Antvertrauen an einen Apparat, an ein System, jedenfalls an etwas gänzlich außerhalb meiner Kontrolle und meines Einflusses.

Ich begebe meinen Körper und alles, was in ihm west, in die Hände einer gut geschulten Kunst, eines eingespielten Orchesters des Aufschneidens, Herumschneidens, — je nachdem — Hinzufügens oder Wegnehens und anschließenden Zunähens, des Betäubens und Betäubungsüberwachens, des Aktivierens und Bedienens von Gerätschaften, des formalisierten Kommunizierens. So stelle ich mir das jedenfalls vor; “ich” bin ja nicht dabei.

Würde ich mir eine Videoaufnahme meiner Operation ansehen? Ich habe mir Videoaufnahmen der ersten Operation (nicht meiner eigenen) auf Youtube angesehen. Mein Respekt vor der Mund-Kiefer-Chirurgie ist dadurch ins schier Unermessliche gestiegen, aber der Anblick war an der Grenze des psychisch Erträglichen. Ich verlinke hier nichts; wer medizinisch interessiert ist, möge nach “LeFort 1 Osteotomy” suchen, benannt nach Rene LeFort, der diese Technik der Durchtrennung des Oberkieferknochens 1901 beschrieben hat, in Variation eines bereis 1864 beschriebenen Musters. Der Eingriff, 1921 erstmals durchgeführt, gilt mittlerweile als gut etabliert und risikoarm. Das Ganze klingt furchterregend — wer läst sich schon gern freiwillig das Kiefer brechen —, ist aber überraschend schmerzfrei. Man darf das Kiefer im Anschluss nicht belasten und ist daher ca. sechs Wochen auf flüssig-breiige Kost verpflichtet; es gibt natürlich Schwellungen und man fühlt sich geschwächt, wie es eben im Nachher einer Operation so ist. Aber grosso modo ist es ein eher kleiner Eingriff. Ich hatte ihn vor vier Monaten, in einer zweiten Operation wurden jetzt die Metallplättchen und -schrauben, mit denen der Knochen wieder zusammengefügt worden war, wieder entfernt, und eine ungewollt entstandene Perforation der Mundhöhle wurde verschlossen.

Zurück zum Vorher der Operation. Dazu gehört auch die Vorbereitung, die in Verzicht besteht, vor allem: nichts trinken einige Stunden davor, was angesichts der etwas überheizten, trockenen Luft im Krankenzimmer nicht so leicht fällt. Um sechs Uhr, da ist es derzeit noch dunkel, kommt die Schwester und weckt mich. Die Operation ist für den Chirurgen die erste des Tages; ich fühle mich dadurch geehrt und hoffe, er hat gut geschlafen. Verzicht: auf geschlossene Kleidung (Operationshemd, das hinten geöffnet ist), auf Uhren und Brillen, auf Endgeräte und Bücher. Das Operationshemd, mein Bett und ich werden von einem (diesmal) stummen Helfer durch Gänge gerollt. Die Szene des Blicks vom gerollten Krankenhausbett nach oben an Krankenhausdecken kenne ich aus amerikanischen Serien, wo der Rollweg durch den Rhythmus aufgestoßener Türen punktiert wird (oft comic relief). Im Wiener AKH wird nichts aufgestoßen. Türen sind geöffnet oder werden vom stummen Helfer geöffnet, bevor er mich durchrollt, schiebend oder ziehend.

Das Eigenartigste am Vorher der Operation folgt dann: Warten in einem großen Raum, vor den Schleusen, die ins spezielle Klima des OP-Bereichs führen. Als ich ankomme, sind schon zwei andere Patient*innen da. Innerhalb der nächsten halben Stunde, die sich zieht — keine Endgeräte, keine Bücher, keine Ablenkung von der eigenen Nervosität —, kommen noch vier weitere dazu. Da liegen wir also alle in unseren OP-Hemden und Betten. Ich nehme mir vorher vor zu plaudern, finde aber keinen passenden Gesprächseinstieg mit meinen Nachbarinnen. “Na, was steht bei Ihnen so an?” kommt mir schwer über die Lippen, übers Frühstück kann man schlecht plaudern, da man ja keines hatte, und das Wetter ist in diesem fensterlosen Raum irgendwie unwichtig. Also Stille, Zuhören bei den Gesprächen der Fachkräfte: der OP-Organisatorin, die die Krankenakten von den Transporteuren übernimmt, der Reinigungskräfte, der ihre Schicht beendenden Schwestern, der ihre Schicht beginnenden Schwestern. Eine Frau B. wird vor mich gerollt. Ich sehe nur ihren schwarzen Haarschopf und bewundere sie, denn ihr bald hörbares mal zartes, mal deutlicheres Schnarchen zeugt von bewundernswerter Entspanntheit.

Endlich kommt die Anästhesistin und stellt noch ein paar Fragen. Drei verschiedene Personen werden mich ab jetzt noch befragen, wie ich heiße, wann ich geboren wurde, und welcher Eingriff bei mir gemacht wird, und wo. Das ist beruhigend. Dann heisst es “Einschleusen”. Man schiebt mein Bett hinter einen Vorhang neben einem fix montierten, höhenverstellbaren Tisch (das heisst sicher anders) mit kippbarer, gepolsterter Platte. Man bedeckt mich mit einer sterilen und vorgewärmten Decke, die Bettdecke kommt weg, das OP-Hemd wird entfernt. Dann werden Bett und Tisch auf gleiche Höhe gebracht. Die Platte wird unter meinen Körper ausgefahren und leicht abgesenkt, ich rolle drauf und werde gewissermaßen am Tablett auf den neben dem Tisch platzierten OP-Tisch serviert. Mit dem Serviermeister und den auf der anderen Seite stehenden OP-Schwestern kann ich plaudern. Beim ersten Eingriff war ich mehr zu Scherzen aufgelegt, da galt es größere Angst zu übertünchen. Diesmal bleibe ich harmlos und fange nicht von “Emergency Room” zu plaudern an.

Der Operationsraum existiert aus meiner Perspektive nicht als Raum; ich erinnere ihn auch nicht als Raum. Ich sehe Geräte und Menschen, die in ihrer Bedienung geschult sind. Ich sehe Vorbereitungen, ich höre letzten Informationsaustausch. Ich spüre Kälte. Man fragt mich, ob mir kalt ist, aber das ist es eigentlich nicht. Die ausnehmend kompetente, freundliche und umgängliche Assistenzärztin, die auch bei der letzten Operation dabei war, ist auch heute wieder dabei. Onkel Chirurg, wie ich ihn nenne, ist etwas trockener vom Naturell her. Ihn sehe ich vor den Operationen nicht. Er hat Jahre seiner Karriere an deutschen Universitätsspitälern verbracht, und ich bilde mir ein, dass mich meine Jahre an deutschen Universitäten irgendwie auf seine trockenere Art des (im Vergleich zum Wiener) versteckteren Humors eingrooven.

Aber vor der OP gibt es keine Gelegenheit mehr zum Chirurgengroove. Geräte werden angeschlossen, Blutdruck, Sättigung, EKG. Mein Körper wird Teil der Gerätekette. Das Narkosemittel wird an den Tropf gehängt, ich bekomme Sauerstoff über eine Maske und die Anästhesistin bittet mich, mir ein Urlaubsszenario vorzustellen. Ich spreche von Südfrankreich und Flamingos, sie will mitfahren, ich lade sie ein, atme auf ihr Geheiss dann ein paar Mal tief durch und bin weg.

Der Aufwachraum ähnelt dem Vorher-Raum: Krankenhausbetten stehen nebeneinander. Geschäftigkeit zwischendrin. Eine Gruppe von Ärzt*innen und Schwestern bespricht einen komplizierteren Fall, bei dem mehrere Fachdisziplinen betroffen sind; ich höre den einen Arzt einen anderen abwesenden als “Vollkoffer” bezeichnen und fühle mich heimisch. Ein Kleinkind weint. Frau B. liegt im Bett schräg vor mir. Ja, sie schnarcht auch jetzt. Ich werde gefragt, wie’s mir geht. “Wolkig”, sage ich. “Ja, das ist in Ordnung, wenn’S Ihnen jetzt noch a bisserl damisch fühlen”, sagt die Schwester. Ich ertaste Nähte im Mund, spüre leichte Schwellungen, kleine Blessuren, keine Schmerzen. Alles sei gut gegangen, heisst es; es wird wieder gründlich gemessen. Helfer kommen und rollen Betten hinaus. Nach einer Stunde des erwachenden Dämmerns und Registrierens der Umgebung geht es auch für mich wieder zurück. Langsam entlässt mich das Orchester der Operation, es geht zurück auf die Station, in einen anderen, gedehnteren Rhythmus.

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