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- 21 03 2021 - 07:15 - katatonik

Rehabilitation und Pandemie

Im Frühjahr 2021 war es dann so weit, fast ein Jahr nach der “Grunderkrankung”, wie man in Rehakreisen so sagt: ein mehrwöchiger Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik in Tagesausflugsdistanz von Wien. Ich bin neu beim Reha-Game und merke schon an den enormen Gepäckmengen, die zeitgleich Anreisende da mitbringen, dass man das offenbar auch sehr professionell angehen kann.

Gleich zur Aufnahme gab es einen PCR-Test und Zimmerquarantäne bis zum Eintreffen des Ergebnisses, was ca. 24 Stunden dauert. In den langen Gängen, die zu den Zimmern führten, erkannte man die Neuankömmlinge in Quarantänezimmern immer an kleinen Tischchen vor den Zimmertüren; dort wurden die Mahlzeiten abgestellt, Frühstück, Mittagessen, Abendessen, einen Tag lang. An den Türrahmen der Quarantäningers klebten kleine grüne Magnetknöpfe.

Ein Arzt in Schutzkleidung kam aufs Zimmer fürs Erstgespräch, mehrere Gespräche und Messungen später — natürlich alles mit FFP2-Masken — wurde dann ein Therapieplan erstellt. Es gab Schulungsvorträge über Themen wie gesunde Ernährung oder ausreichenden Schlaf, die aus Pandemiegründen als Videos im TV-Hauskanal gesendet wurden (man musste im Anschluss einen Fragebogen ausfüllen und abgeben, nein, die sind da nicht blöd). Es gab Physiotherapie, psychologische Gespräche einzeln und in Gruppe, Entspannungstechniken, Moorpackungen und Interferenzstromtherapie, Kraft- und Koordinationstraining, Cardiotraining, Ergotherapie (Basteln oder Puzzeln), Funktionstraining (Basteln oder Boules), Wandern oder Nordic Walking und in Einzelfällen speziellere Therapieangebote. Das Schwimmbad hatte geöffnet (maximal 6 Personen im Becken aber nur!), die Sauna war geschlossen, das Café war auf, aber nur sehr locker mit Tischen bestellt. Reha unter Pandemiebedingungen, das ist so in etwa das Ausmaß an Gruppenaktivitäten mit Fremden, das ich nicht nur erträglich, sondern sogar angenehm finde: kein großartiger Gruppenzwang, gelegentliches Gespiele, Getratsche und Austausch, aber nicht so weit, dass Symptomatiken sozialer Kontrolle spürbar werden, die solche Situationen schnell unangenehm machen. Ich verbringe viel Zeit draußen. Man kann Fahrräder mieten, Flußauen durchstreifen, Wälder durchwandern. Reha zu Pandemiezeiten, das ist wie Urlaub, und einige Patient/inn/en, mit denen ich ins Gespräch komme, gehen das auch so an — die sympathische ältere Dame, mit der mich einen leicht obsessiver Hang zum Puzzelspiel verbindet, hat ihren Mann dabei (Doppelzimmer für Begleitung geht mit Aufzahlung), und man genießt die Gegend. “Sonst kann man ja grad eh nirgends hin.”

Reha unter Pandemiebedingungen, das ist ein Stück weit auch soziale Rehabilitation in so etwas wie Gesellschaft hinein. Seit fast einem Jahr arbeite ich nahezu ausschließlich zu Hause, treffe kaum Freunde. Zufallsbegegnungen mit Fremden spielt’s nicht. Der diffuse Raum an Bekanntschaften, denen man gern bei Kulturveranstaltungen über den Weg läuft, die man irgendwie kennt und sehr schätzt, aber mit denen man irgendwie auch nie einzeln Kontakt in Richtung eines zielgerichteteren Soziallebens aufnimmt — also dieser diffuse Raum ist einfach verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Reha ist somit auch Resozialisierung, erstmals seit langem Konversation mit Fremden, in dem Fall konkret mit solchen, die vergleichbare Erfahrungen mit Krankheit und Genesung gemacht haben, oder, wie ich bald herausfinde, in den meisten Fällen viel schlimmere. Denn auch wenn jede und jeder hier immer wieder sagt, man könne Krankheitserfahrungen nicht “ranken” — Speiseröhrenkrebs mit stundenlanger Operation, nach der man nie wieder flach liegen darf, weil sonst Magensäure in die falsche Richtung fließt, oder aufgrund ihrer Lage nicht operable Tumoren an der Wirbelsäule, das ist um einiges schlimmer als eine einmalige Operation mit behebbaren Folgen.

Die Resozialisierung konzentriert sich auf die drei Mahlzeiten. Aus Pandemiegründen gibt es zwei zeitlich gestaffelte Essensgruppen, die auch räumlich so über den Speisesaal aufgeteilt sind, dass gut Abstand gehalten werden kann. Man bekommt einen anfangs unbekannten Tischgenossen zugewiesen, oder eine anfangs unbekannte Tischgenossin, was meinen inneren Coronamaßnahmenwauzi zuerst irritiert, denn natürlich hat man beim Essen keine FFP2-Maske auf und der Abstand, also sind das noch zwei Meter? Man holt sich das Essen — es gibt ein Buffet, aber die Essensübergabe übernimmt aus Pandemiegründen das Personal —, nur die Desserts werden auf Tabletts an die Tische serviert. Die Dessertauswahl (es gibt mittags immer zwei Optionen) wird zum sozialen Höhepunkt; man rät, was der oder die andere will, man spöttelt. Der Typ vom Nachbarstisch nimmt immer verschmitzt zwei Desserts, das wird zum Running Gag. Viel Aufregendes tut sich ja nicht in der Reha, dazu ist sie da. Es ist nachgerade erfreulich, dass Dessertpräferenzen für dramatische Höhepunkte im Tagesablauf sorgen und das wichtigste Gesprächsthema ist, ob einen der Speiseplan für den nächsten Tag vom Hocker reisst oder man jetzt zwischen Krafttherapie und Psychogruppe 20 oder 30 Minuten Pausen besser findet.

Meine erste Tischgenossin ist Frau R., eine Dame Ende 50 mit einem bio-Ösi-Nachnamen und einem Vornamen, den ich von Serbinnen kenne. Wir tasten uns langsam im Austausch der Grundinformationen über einander voran; hier tauscht man schneller Krankheitsgeschichten aus als Geschichten aus anderen Lebensbereichen. Frau R. spricht ein schönes, ein gewähltes Deutsch. Sie kommt aus Serbien und spricht über Serbien als “zu Hause”; sie hat viel gearbeitet in Österreich, als Reinigungskraft, aber als die Krankheit kam, hat man sie sofort gekündigt. Ihr Mann ist auch gleich abgehauen. Jetzt ist sie seit gut einem Jahr im Krankenstand. Mit Ende 50 wird sie niemand mehr nehmen, aber die Pensionsversicherungsanstalt hat ihren Antrag auf Pensionierung abgelehnt. Sie lebt von knapp 1000 Euro im Monat (es gibt auch Schulungen über soziale Absicherung und Gesprächstermine mit Sozialarbeiterinnen hier, die sie mit großem Interesse verfolgt). Zuerst wirkt sie auf mich bemerkenswert entspannt und gelöst, aber da ist wohl auch ein gut Teil Resignation dabei. Lässt sie sich gegen Corona impfen? Sie weiß es noch nicht, muss mit ihrer Ärztin sprechen. Ich bemühe mich mit Frau R. über Themen zu sprechen, die sie nicht dazu zwingen, mehr von sich preiszugeben, als sie möchte, aber es bleibt doch so, dass ich am Ende mehr über sie weiß als sie über mich. Ich übersetze die Eigenheiten meines Lebens, die ich ihr mitteile, in eine Sprache, von der ich annehme, dass sie sie besser versteht (ich bin die Chefin von 25 Leuten) als Wissenschaftsbetriebs-Lingo; vielleicht ist das aber auch herablassend. Wir bleiben höflich distanziert und per Sie, auch wenn wir gemeinsam lachen. Am Tag ihrer Abreise ist sie plötzlich weg; es gibt kein Abschiednehmen.

M., ihre Nachfolgerin am Tisch, ist etwas jünger, aber ich kann ihr Alter schlecht schätzen und frage nicht nach. Wir sind aber eine ähnliche Generation, finden uns wieder in Erzählungen aus der Kindheit, von Großeltern, die uns Butterbrote mit Zucker kredenzten, von Sommern und Wintern am Land in aus heutiger Sicht dürftig ausgestatteten Behausungen. M.s Erkrankung führte sie während des ersten COVID-Lockdowns im März 2020 ins Krankenhaus; es war kein Spaß, wirklich nicht. Sie leidet eigentlich an mehreren chronischen Krankheiten, die Grunderkrankung, deretwegen sie in Reha ist, betraf die Lunge, von der man ihr einen Teil entfernt hat. Sie raucht immer noch, und die Rauchpausen draußen bei der Bushaltestelle vor der Klinik werden für sie bald die wichtigere Sozialisierungsgelegenheit als unsere gemeinsamen Essen. M. lebt am Land, wohin sie mit ihrer Familie aus Wien vor einigen Jahren gezogen ist. Sie arbeitet in einer Fabrik für Batterien und Elektroteile und ist den ganzen Tag mit der Montage von Kleinteilen befasst; feinmechanische Tätigkeiten. Kurzarbeit seit fast einem Jahr. M. ist unzufrieden damit. Sie möchte gerne mehr arbeiten. Aber ihre Erzählungen hinterlassen nicht den Eindruck finanzieller Not. Die Familie hat ein Haus mit Pool, man fährt auf Urlaube. Ihr Mann kocht gern und gut. Sie knüpft schnell Kontakte, weiß bald erstaunlich viel über andere Rehapatient/inn/en und scherzt mit den Kellnern; wir entwickeln unser eigenes kleines Witzroutinenrepertoire ums Essen herum. Es gelingt uns übrigens nicht, die Kellner dazu zu bewegen, uns zum Frühstück kein Milchkännchen hinzustellen, weil wirs eh nicht brauchen. Die damit verbundene Verschwendung empört M. mehr als mich; ich bin Schwachsinn aus reiner Verwaltungslogik wohl stärker gewöhnt.

M. weiß nicht, ob sie sich impfen lassen wird, da ihr das Ganze noch zu wenig geprüft sei. Auch die Sozialarbeiterin der Klinik hätte ihr gesagt, sie wisse noch nicht, ob sie sich impfen lassen werde. Ich lasse mir meine Empörung über die Sozialarbeiterin nicht anmerken; finde es verantwortungslos, dass Klinikpersonal Impfunsicherheit nicht mit Aufklärung begegnet, sondern gar noch verstärkt. Versuche M. mit ein paar Argumenten zu überzeugen, ob es wirkt, kann ich nicht einschätzen. M. ist ein stolzer Mensch. Sie würde anderen gegenüber nicht zu erkennen geben, wenn sie von ihnen etwas gelernt hat, das sie dazu bringt, von einer zuvor stark geäußerten Meinung abzugehen (und sie würde vielleicht auch nicht so einfach von einer Meinung abgehen). Sie ist aber auch kein streitfreudiger Mensch, niemand, der gern diskutiert oder verbale Konfrontationen eingeht. Mit ihrem “ah so” (Betonung auf “so”) und “schaumamal” ist sie mittig im Austro-Stereotyp. Ein paar Tage später spreche ich in einem Arztgespräch die Ärztin auf die Sache mit der Sozialarbeiterin an. Ich erfahre, dass sie sich mittlerweile impfen lassen hätte und, ja, dass die Überzeugungsarbeit in Sachen Impfung auch innerhalb der Klinik nicht einfach sei. “Ah so?” sagt M., als ich ihr erzähle, dass die Sozialarbeiterin geimpft wurde. “Ah so.”

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