Haas, Ceremony II
(20.11., KHM, Wien Modern)
Ich erschien später beim Konzert als geplant, obwohl ich eigentlich einige Minuten zu früh dran gewesen wäre. Ich schob, einer Laune nachkommend, das Fahrrad durch die schon vorweihnachtlich überfüllte Fußgängerzone am Graben. Dabei muss sich jemand an meinem Rucksack erfreut und bedient haben, der zugegebenermaßen etwas unachtsam im rückwärtigen Fahrradkorb platziert war. Super Sache, wenn man sich umdreht und plötzlich der Fahrradkorb leer ist, der nicht leer sein sollte. Hab Spass mit meinen nassen Schwimmsachen und meinem Impfpass, unbekannte*r Dieb/-in!
Am End’ war es noch der ältere Herr, der mich vor einigen Jahren ermahnte, man würde mir doch sicher den Rucksack aus dem Fahrradkorb stehlen, ich müsse den doch absichern, damals, als ich einmal an der Kreuzung vorm Parlament am Ring auf Grün wartete. Time proved me wrong, time proved you right, old man. No sweet-talkin’ it. Kurz zur Polizeistation, ergebnislos (Anzeige lohnt nicht), aber erfahrungsreich (schreckliche Geschichte von von Ex-Freund bedrohter junger Frau mitbekommen, polizeilicherseits professionell gehandhabt wenigstens).
In der Dunkelheit beleuchtete Weihnachtsmarktstände, kleinteilige Lichtinseln im gepflegten Buchsbaumdunkel um das Maria-Theresien-Denkmal zwischen den großen Museen. Das KHM, abends beleuchtet, vermittelt monumentale Gemütlichkeit; als Konzertort wie ein etwas zu groß geratenes Kammerkonzertkammerl. Zur Aufführung gebracht wird Georg Friedrich Haas, “Ceremony II”, 240 Minuten, ein Kompositionsauftrag von Wien Modern, gespielt von Musiker*innen der Schola Cantorum Basiliensis aus Basel und der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien auf Instrumenten aus mehreren Jahrhunderten. Der Zink, die Traversflöte, die Barberini-Harfe, die Bassgambe, die Theorbe, und drei verschiedene mikrotonale Tasteninstrumente: das Arciorgano (mit 36 Tonhöhen pro Oktave, aus der Schweiz importiert), das Cimbalo cromatico (mit 19), das Clavemusicum omnitonum (mit 31). Es heisst im Begleittext, Haas hätte viele Monate lang gefeilt, mit unzähligen auf 5–8 Nachkommastellen berechneten Tonhöhen und mit allein für die drei Konzertflügel im Kuppelsaal 623 Notenseiten.
Die Trompeten im Stiegenaufgang haben dort natürlich ordentlich Luft, die sie auch gut ausfüllen, aber das akustische Zentrum bilden die Flügel im Kuppelsaal, wo sonst das Museumscafé residiert. Haas lässt die Klaviere abwechselnd dumpf brausen, flächig vibrieren und zart perlen; es fällt sehr schwer, sich von ihnen loszureißen, aber es gibt ja noch 28 andere bespielte Räume in der Gemäldegalerie. En passant fällt mir auf, wie sich die Bildschirme der notenpräsentierenden Tablets bei den Instrumenten automatisch “weiterblättern” – alles sekundengenau, millisekundengenau getaktet und geplant (es gibt einige wenige, die mit Papiernoten spielen, in den entlegeneren Räumen). Die Sache mit der Notation dieser Art von Musik, überhaupt so eine Sache, bzw. für mich ein Buch mit sieben Siegeln.
Ein Gehkonzert, unglaublich größer dimensioniert als die Aufführung von Haas’ 16minütigem Stück “Open Spaces II. In memory of James Tenney (2007)” am 6.11. in Foyer und Durchfahrt des Musikvereinsgebäudes. Dort konnte man durch die Durchfahrt spazieren, man bekam am einen Ende immer noch mit, ob am anderen gespielt wurde, und konnte sich einen einzigen großen Klangraum gehend erschließen, mit Gehen oder Nicht-Gehen akustisch das Gewicht verlagern. Bei den 29 Räumen im KHM geht das natürlich nicht mehr. Hier ergeht man sich Räume, auch Klangräume der einzelnen Instrumente, denn es gibt immer nur eine Instrumentart pro Raum (manchmal eins davon, manchmal mehrere), die miteinander spielen, aber auch nicht, eine seltsame Verbundenheit des Unverbundenen, ein hochkonzentriertes Ausloten von Instrumenten und ihren Möglicheiten.
Drei Akkordeonist*innen bilden Joker; sie gehen durch die Räume und spielen, wo und wie es ihnen (bzw. Haas) gefällt. Sie wirken nicht, als ob auch sie sekundengenau getaktet spielen würden. Vermischungen gibt es ansonsten nur an den Rändern und Übergängen und – per Zufall – dann, wenn gehende Konzertbesucher*innen eine der vier Glastüren öffnen, die die Gemäldegalerie vom Kuppelsaal trennen. Ich bleibe oft an den Übergängen stehen, an den Türschwellen, höre nach links und rechts.
Klang und Malerei, Zusammenwirken, Parallelismus, Reaktivität, Kommentar, das sind so Fragen, die einer durch den Kopf gehen. Dann wieder auch nicht, es gibt ja Gemälde, die einen einfach so in ihren Bann ziehen, da verschwindet die Musik. Carlo Saracenis “Judith mit dem Haupt des Holofernes” ist mein Lieblingsgemälde im KHM, wegen allem; es hängt jetzt thematisch passend zwischen einer Judith, die man Simon Vouet zuschreibt, und Caravaggios David & Goliath. (Viele solche Motivgruppenhängungen jetzt im KHM, übrigens, hm.)
Anderes fällt plötzlich auf, Guido Cagnaccis Selbstmord der Kleopatra, den ich im Leben nicht als solchen erkannt hätte, wieder anderes bleibt hängen, weil es mit Themen zu tun hat, mit denen man sich gerade beschäftigt (Christoph Paudiß’ Gemälde des Hl. Hieronymus, der Bibelübersetzer, über Tod und Vergänglichkeit meditierend). Oder ist es doch die Musik, die einen zu bestimmten Bildern treibt?
Es hat etwas Überraschendes, die Musiker*innen in den Ausstellungsräumen zu sehen, aber auch etwas kammermusikalisch Passendes, auch und gerade wegen der historischen Instrumente. Visuell passt sich das gut ein, aber die Klänge ziehen, fliehen, flehen und wirbeln, fahren mitunter wie Blitze in die doch eher wohlige Atmosphäre der einzelnen Räume, reduzieren sich dann wieder – die spröden Cembaloklänge – auf nüchterne Stille. Und überall immer das Knacken des Parketts, so sehr man sich bemühen mag (und die meisten bemühen sich redlich), es knackst.
Manche der Räume, in denen musiziert wird, sind recht klein; ich fühle mich dabei nicht so wohl, den Musiker*innen doch recht nahezukommen, bleibe aber doch manchmal genau in solchen Räumen stehen, wenn da sonst keine*r ist und ich als Publikum dienen möchte (es kommen dann komischerweise immer recht schnell andere dazu). Bei den Klarinettisten, und bei den saugut schrillen Querflötist*innen.
Man lernt über die Stunden die Mitbesucher*innen visuell kennen, nickt einander zu, auch beim einen oder anderen Achterl unten in der Eingangshalle. Eine Dame in wallendem Kleid mit dalmatinerähnlichem Muster. Mein Obsessiönchen, die ältere Dame mit der auffälligen Strickweste von den anderen “Wien Modern”-Konzerten, der mit den chinesischen Schriftzeichen, ist auch wieder da; leider trägt sie diesmal – es ist kälter geworden – eine blaue Daunenjacke, sodass ich sie nicht einfach auf ihre Weste ansprechen kann. Sie und ihr Begleiter (der ist immer dabei) schlummern zwischendurch einträchtig im Kuppelsaal vor sich hin, ein Weilchen, im Sitzen aneinander gelehnt (kein Foto).
Die historischen Instrumente ziehen vornehmlich ältere Herren an, die fasziniert gucken oder mit ihren bereits etwas älteren Digitalkameras den Spielenden gefährlich nah kommen. Ein dünner junger Mann, vermute Japaner, mit Blumentopfhut, beugt sich so nahe zu Instrumenten und Musikern, dass ich schon befürchte, einer der Schlagwerker würde ihm eine in die Gosch’n hauen (er hat ihn wirklich sehr finster ang’schaut).
Die Musiker*innen bleiben ob solcher Eskapaden bewundernswert stoisch und konzentriert; einmal fühle ich mich bemüßigt einzugreifen und bitte die zwei Logistiker, die direkt neben einer Harfenistin irgendwelche Ablaufpläne besprechen, das doch bitte woanders zu tun, wo nicht musiziert würde (sie kamen dem Ersuchen nach). Das Museum fährt den Leuten halt unterschiedlich ein; ich werd’, so scheint’s, gleich zum verschrobenen Museumswärter (die übrigens auch recht verschroben herumlaufen). Tatsächlich, ich gewöhne mir den entsprechenden Gang an, schreitend, die Arme im Rücken.
Zum Ende ziehe ich mich in den Kuppelsaal zurück; die Idee haben auch viele andere, und sie ist gut, denn Bernhard Günther, der künstlerische Leiter von Wien Modern, holt dann die Musiker*innen dort für den Abschlussapplaus zusammen, der sehr begeistert, sehr begeisternd. Und der Herr im schwarzen Ledersakko, den der Wien-Modern-Fotograf da vorher so eilfertig fotografierte, wie er auf einer Bank saß, tja, das ist der Komponist, der sich jetzt freut wie ein Schnitzel.