Spurenlesen (München, Transit, Beijing)
Flug nach Beijing über München; Starkregen. Am Flughafen München viel Zeit, Terminalreisen, Spaziergänge durch lange Gänge, verwaiste Biergärten, unerwartete Dekorationen, eine fast leere Lounge, ein Fest der Zwischenräume.
Was von der Pandemie auch geblieben ist, das sind an Flughäfen bereits archaisch wirkende Symbole für Maßnahmen: verblassende Aufkleber, die zum Einhalten von 1,5m Abstand zur nächsten Person einmahnen, Aufforderungen zur Handdesinfektion.
Der Schlaf im Langstreckenflug, nun ja, er kommt gelegentlich vorbei, ist aber launisch und lässt sich von Geräuschen wie dem periodischen Naseaufziehen des Sitznachbars auch leicht wieder vertreiben. Ein Herr aus China, gegerbt, desorientiert, Kommunikation mit mir in Englischbrocken, Kommunikation mit der Mandarin sprechenden Stewardess abgehackt. Er hat eine beeindruckende Nase, einen Berg von einem Pfrnjak, in dessen Tropfsteinhöhlen wohl, nun ja, das Aufziehen, es ist von schlafvertreibender Vibrationsqualität.
Im Kopf immer wieder die Frage, wie das wohl alles hier in Beijing während der Pandemie war, in ihren unterschiedlichen Phasen, welche Phasen es hier überhaupt gegeben hat, also konkret und alltäglich, abstrakt, entfernt und auf Dramatisches zugespitzt hat man das ja mitbekommen. Am Gang durch den Flughafen geht ein Stück weit ein jüngerer Mann neben mir, FFP2-Maske auf und skibrillenartiges Gerät auf der Nase. Meine Gedanke „der übertreibt jetzt aber schon ein bisserl“ ertappt sich selbst und macht gerade noch der Frage Platz, was der Mann wohl erfahren hat, vermutlich hier, in diesem Land, wie lange er seine Wohnung nicht verlassen durfte, ob er seine Arbeit verloren hat, ob jemand gestorben ist, vielleicht im Krankenhaus, unbesucht, ob er selbst erkrankt war, möglicherweise schwer, und wie viele andere, die er kennt, und ob man heute noch darüber spricht.
An das Gepäckband des Flughafens Beijing sind zwei Arbeiter abgestellt, marinblaue Hosen, weiße Hemden. Sie wuchten jeden Koffer, der auf das Band gespuckt wird, auf dessen Längskante, quer zur Bandlaufrichtung stehend; wenn sich ein Koffer verhakt, eine zweite Reihe zu bilden beginnt, entwirren sie. Der Hartschalenkoffer hat übrigens gerade die Oberhand im Gepäcksbiotop, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.
Es ist Sonntag, Vormittag. Ich werde erwartet, ich werde abgeholt, ich muss mich um nichts kümmern, nicht einmal um Bargeld, da ich noch von der letzten Reise nach China, den letzten Reisen nach China, genug dabei habe; es war alles vor der Pandemie, zuletzt 2016, 2018, 2019. Eine junge Dame holt mich ab, sie hat englische Literatur studiert, bevor sie für die Abteilung für Internationales im Forschungszentrum zu arbeiten begann. Sie rollt nervös das Blatt mit meinem Namen drauf, das sie bei der Ankunft hochgehalten hat. Der Flug war perfekt, danke der Nachfrage, nur beim Abflug in München Starkregen, Turbulenzen. Aber hier hat es doch noch viel mehr geregnet, nicht? Ja, aber nur einige Bezirke sind betroffen, und Chaoyang, wohin wir fahren, nicht. Ich erzähle ihr, dass ich zum ersten Mal 1989 in China war, transsibirische Eisenbahn; das amüsiert sie am meisten während unseres abtastenden Smalltalks; I wasn’t even born then. Seither habe sich China sehr entwickelt, belehrt sie mich, especially with the Olympic Games in 2008, China developed very much. Ich erzähle ihr, dass ich gerne durch die älteren Teile Beijings spaziere, ich weise nicht darauf hin, dass einige davon im Zuge genau jener Olympic Games dem Erdboden plattgemacht wurden. Es ist nicht diese Art von Gespräch. Ich bin auch nicht hier, um die Haltung einer Belehrenden in Sachen China einzunehmen. Also erzähle ich ihr auch nicht, was ich in München am Flughafen über Unwetter in Beijing gelesen habe, in Interviews mit Wissenschafter:innen, wie Schäden vermieden werden könnten, würde man die Stadt rückentwickeln, oder besser: weiter entwickeln und entsiegeln, wo’s nur geht, Stichwort Schwammstadt, und ja, es gibt in China Schwammstadtprogramme, die allerdings unter der Prämisse moderater Regenfälle gestaltet wurden; mit Stürmen dieses Ausmaßes und Starkregen hat man noch nicht gerechnet. Es ist nicht diese Art von Gespräch.
Der Himmel bedeckt, die Luft warm und feucht. Im Hotel übernimmt meine Betreuerin die gesamte Kommunikation in Sachen Einchecken; es ist sehr kommod, ich muss mich um nichts kümmern. 2018 hatte ich eine chinesische SIM-Card, damals in einem Laden in Chengdu mit der Hilfe zweier Studentinnen besorgt, eine bürokratische Tortur, die sich aber lohnte; Navigation und alles so viel einfacher. Diesmal habe ich vorab bei einem Provider eine bestellt, die an das Hotel geschickt wurde. Ausnehmend freundliche und hilfreiche begleitende E-Mails des Providers auf Englisch. Ich habe aber vergessen, mir das wichtigste herunterzuladen, das einen Code für die Abholung des Pakets aus einer Paket-Anlieferungsbox irgendwo beim Hotel enthält. Noch habe ich aber keinen W-LAN-Zugang im Hotel, da an der Rezeption. Meine Betreuerin richtet flugs ihr Handy als Hotspot für mich ein; ich hole das Mail runter, zack. Sie findet heraus, wo die Anlieferungsbox steht, im Innenhof des Hotels. Gleich daneben steht eine Food-Anlieferungsbox, falls Gäste sich Essen von auswärts bestellen möchten. Die SIM funktioniert sofort, nur die Einrichtung des VPN-Services (den man gleich mitbestellen kann) ist etwas komplizierter und mir noch nicht gelungen. Ich schiebe das auf den Pfrnjak.
Den riesigen, zweigeschoßigen Supermarkt um die Ecke gibt es (natürlich) noch. Ich registriere Änderungen in der Warenaufstellung wie in einem neu gehängten Kunstmuseum. Ich spreche kein Mandarin, habe nie Chinesisch studiert, aber meine Kenntnisse sinojapanischer Schriftzeichen vom Japanischstudium helfen auch im Supermarkt; ich kann Speiseöl von anderem unterscheiden zum Beispiel, das kann schon wichtig sein. In der Teeabteilung finde ich Chrysanthemenblüten- oder -knospentee, den ich erst vor einigen Monaten in Toronto entdeckt habe; er war mir von einer alten Restaurantbesitzerin dort empfohlen worden, bitter, gut für die Leber und kühlend. Das Joghurtdrink-Angebot mittlerweile stark erweitert, Zielgruppe offenbar junge Frauen, was mit Beauty, zartes Produktdesign. Vor dem Wasserflaschenregal ein weißhaariger Herr; er klickt sich durch sein Handy, im raschen Wechsel nach schrillem Blech klingende chinesische Popmusik.
Der Gang rund um den eigentlichen Supermarkt im Erdgeschoß wurde mittlerweile zu einem Restaurantbereich ausgebaut. Es gibt eine vielversprechend aussehende Suppenküche mit englischen Bezeichnungen für Gerichten, das ist für meinen Zustand akkurat das Beste. Warum nicht „Hot and Sour Rice Noodles“, warum nicht ein Purgatorium der Mundhöhle, das unter Umständen hilft, den Zustand der jetlagbedingten Bedämmerung in einen der Wachheit zu verwandeln. Glitschige Reisnudeln in Suppe, Pilze, Gemüse, Gingkonüsse; fantastisch. Die Mischung aus mehreren Arten scharf (betäubener Sichuanpfeffer, schreiende Chilis) regt die Zirkulation in Mund- und Nasenhöhlen erheblich an, Pfrnjak-Vibrationen äußern sich. In Ostasien schneuzt man sich ja nicht, das gilt als eklig, nicht zu fassen, dass Leute mit ihrem eigenen Rotz im Taschentuch, also bitte.
Beim Ausgang eine alte Dame, in der einen Hand eine große Lupe, in der anderen ihr Handy, auf dem sie liest. Das Hotel ist belebt; Sommerferienzeit, hat meine Betreuerin erklärt. Ich ziehe mich zurück, der Zustand der Wachheit hat den Schärfeschock nicht überdauert, und ich durchdämmere den Nachmittag in plastischen Träumen, auch ein Purgatorium. Abends beginne ich, das Mobiltelefon zurechtzukonfigurieren, Wörterbuch-Apps, Schriftzeichen-Apps, Übersetzungs-Apps, Karten-Apps, und, endlich, läuft das verdammte VPN, aber nur am Handy, das Hotel-WLAN ist mit für mich unüberwindbaren Grenzen konfiguriert, das war 2018 auch schon so, fällt mir ein.