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- 9 08 2023 - 15:29 - katatonik

Routine (Beijing)

Kapitulieren vor der Liderschwere gegen 21:30, wieder aufwachen gegen 01:30, Stunden verbringen im Wiglwogl zwischen wachen Gedanken und aufrichtigen Versuchen, wieder einzuschlafen, irgendwann wird’s dann wieder bleiern, dann aber läutet schon bald um 07:30 der Wecker, Matcha Latte im Zimmer, mindestens zwei, ja, ich habe den USB-aufladbaren Milchaufschäumer dabei, dann Wontonsuppe mit Goodies und vor allem dunklem Essig und Chiliöl und mehr im Frühstückssaal des glänzenden und gut gekühlten Hotels, dann mit M. und H. hinaus in die schwüle Luft, wenigstens keine Sonne, danke, durch die Unterführung unter der stark befahrenen Straße mit den beiden breiten Fahrradspuren an den Seiten auf die andere Seite, immer viele Leute unterwegs, immer.

Der Wachmann kennt uns schon und lässt uns auch ohne Gesichtserkennung aufs Gelände, dankeschön. Ab 09:00 dann Manuskriptlesen und vor allem -transliterieren, danke, diplomatische Transliteration, also, wer’s nicht kennt, da repräsentiert man ein historisches Manuskript in lateinischer Schrift und bemüht sich zugleich, so viele physische Eigenschaften des Manuskripts wie möglich zu repräsentieren, von versuchten Korrekturen über idiosynkratische Orthografie bis zu (bei Palmblatthandschriften relevant) Schnürlöchern und deren nicht beschriebene umittelbare Umgebung. Man liest Texte, ohne sie zu lesen, weil man auf jeden verrutschten Punkt und jedes schiefe Komma achtet, also, im übertragenen Sinne, weil Sanskrithandschriften keine Punkte und Kommata haben, aber funktional Äquivalentes (worüber man allerdings trefflich streiten könnte). Es ist Präzisionsarbeit, die manchmal dahingleitet mit einer atemberaubenden Leichtigkeit, manchmal ins Stocken gerät, dann müssen Pausen eingebaut werden, nicht zu lang, um nicht rauszukommen, nicht zu kurz, um das Stockhindernis zu überwinden, vielleicht auch ein Weg auf die Toilette, ein Schluck Tee, eine Überprüfung von etwas, was noch zu überprüfen ist, ein Herausfinden von etwas, das in kurzer Zeit herauszufinden ist, eine kleine kognitive Aufgabe anderer Art, bevor es weiter ans Manuskript geht, Zeile um Zeile.

Ab 11:30 gibt es Mittagessen in der Kantine, Buffet mit ordentlich Auswahl. Ich muss endlich auch die Ramien probieren, die sich M. immer reinzieht, mich verführen aber davor immer Schaffleisch oder gebratenes knackiges Gemüse unbekannter Varietät oder was mit ordentlich Chili. Dieses Jahr sitze ich mit dem chinesischen Staff in einem großen Raum, bei meinem letzten Besuch vor fünf Jahren wurde ich noch in einen separaten Raum geleitet und bekam immer viel zu viel Essen serviert. Ab 12:00 geht’s dann schon weiter. Gelegentlich macht L. die Runde und schenkt uns Tee nach, der grüne Tee vom Morgen wird den ganzen Tag über aufgegossen, und so geht es dann bis 17:00, bis unsere Nacken steif sind und die Augen rotieren und die Hosenböden an den Kunstledersesseln kleben.

Dann gibt es Abendessen in der Kantine, nur wir drei oder ein paar wenige andere (F. ist heute aus Italien angekommen, P. aus Hamburg), oder die chinesischen Kolleg:innen laden uns ins Restaurant ein (gestern gab’s Peking Duck, nicht übel, aber die Drumherumspeisen eigentlich interessanter als das Enterl selbst, ehrlich gesagt), und dann vielleicht noch ein Ausflug in den Convenience Store, in den Riesensupermarkt, oder ein Stück weiter ins chinesisch-japanische Einkaufszentrum, aber das reicht dann auch. Es muss ja noch etwas nachbereitet werden, Transliterationen noch einmal durchsehen, damit man am nächsten Tag präzise punktuell nachkontrollieren kann bei entdeckten Fehlern, keine Zeit verlieren, denn wir haben wenige Tage, um wichtige Handschriften durchzusehen und abzuschreiben. Vielleicht noch etwas Musik und Unsinn im Internetz, virtuelles Geplaudere, für Lektüre ist der Kopf zu benebelt, und der Versuch, den Zeitrhythmus anzupassen langsam, nun ja, vielleicht dann Kapitulation um 21:45, weil doch noch ein Bier mit F., der viel zu erzählen hat, er ist ja jetzt Großvater, und der Convenience Store hat sogar Asahi.

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