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- 12 08 2023 - 14:58 - katatonik

Das Wabern des Lebens (Beijing)

Samstag, freier Tag zwischen zwei Arbeitseinsätzen; ich bin ja hier auf Montage, gewissermaßen. Die Sonne scheint, erstmals nach Tagen der Wolken und des Dunstes; sie brennt durch die feuchte Luft. Ich habe Eckdaten, Orte, die ich aufsuchen möchte, ansonsten spazieren durch Hutongbezirke, trotz und bei Hitze. Nichts mit erwartbaren Menschenmassen, Meiden der großen Museen und Kulturstätten.

Das U-Bahn-System wirkt vertraut, immer noch halb motivierte Securities bei den Sicherheitsschleusen, die in jeder Station auf Rucksäcke und Taschen warten. 2016 musste ich noch jedes Mal aus der mitgenommenen Wasserflasche trinken; das war, sagte mein Begleiter, wegen dieser Falun-Gong-Selbstverbrennungen, man wollte ausschließen, dass Leute brennbare Flüssigkeiten ins Stadtzentrum bringen und sich anzünden. Das muss ich jetzt nicht mehr.

Allerdings hat sich das System etwas Neues einfallen lassen, das mir dermaßen idiotisch vorkommt, dass ich es gar nicht glauben möchte und einige Zeit lang denke, ich hätte im Interface der Ticket-Automaten eine Option übersehen: Man muss tatsächlich bei jedem Fahrkartenkauf seinen Namen und die Nummer seiner chinesischen ID-Karte eingeben (bzw. die Karte scannen lassen). Verfügt man über keine chinesische ID, dann kann man die Automaten nicht benutzen und muss zu den Fahrkartenschalter-Glaskästen, die gleichzeitig Informationsschalter sind. Die sind freilich nicht immer besetzt; normalerweise steht am Glaskasten so etwas wie „This is a self-service station, use the ticket vending machine“. Die freundlichen Securities geben mir aber gestisch schnell zu verstehen, dass das offenbar eh nicht so streng gemeint ist. Wenn ich nämlich zum Schalter hingehe, bewegt sich mysteriöserweise von irgendwo aus dem Raum her gemütlich schlendernd ein Mann oder eine Frau in Uniform auf den Glaskasten zu und verkauft mir dann, stets freundlich und bemüht, um drei oder vier Yüan eine Fahrkarte. Man hat’s nicht leicht als Tourist*in. Wie ich dem chinesischen Internet (das ist hier übrigens ein Terminus: chinese internet versus internet) entnehme, setzen offenbar auch alle Apps und Online-Möglichkeiten, mit denen man wieder aufladbare Smart-Cards (Yikatong) kaufen kann, eine chinesische ID voraus. Der Workaround ist wohl einfach, sich von eine*r Staatsbürger*in Chinas eine aufladbare Yikatong kaufen zu lassen (nicht probiert).

Apropos Systeme: Ich wollte mich eigentlich wieder in WeChat einklinken, da hatte ich einen Account, aber alles vergessen, da jahrelang nicht benützt. Neuer Account geht aber nur auf Einladung von jemandem, der einen Account hat, habe ich vergessen. Man braucht einen Friend. Wäre aber klug gewesen, denn in vielen Geschäften, Cafés oder auch in Museen wird WeChat vorausgesetzt: für Ticketkauf oder Speisekarte, man zeigt auf einen QR-Code, ich schüttle hilflos den Kopf. Im Museum kauft letztlich die freundliche junge Frau an der Garderobe, die mit tiefem Südstaatenakzent Englisch spricht, für mich über WeChat ein Ticket. Ich gebe ihr Bargeld dafür, hab’s gottseidank passend, fotografiere dann mit meinem Mobiltelefon den QR-Code für den Einlass ab. Sowas wirkt völkerverbindend. Ich fühle mich alt und unterentwickelt.

Das Museum war das Guardian Art Center, ein beeindruckender moderner Bau, zufällig vorbeigestolpert. Es gibt eine Yves-Klein-Ausstellung, warum nicht. Räumlich wunderbar angelegt, natürlich viel Klein-Blau vor ausgesucht weißen Wänden, Monochrome, sponge reliefs, aber auch die Flammenwerferbilder in einem verdunkelten Raum. Dann noch die Themen Raum & Architektur (Gelsenkirchen) und das Nichts, the void. Filmaufnahmen von Klein beim Flammenwerfen (Ausrüstung von Gaz de France zur Verfügung gestellt), neben ihm ein Feuerwehrmann, der mit einem Schlauch Wasser auf die Leinwand sprüht (Video hier). Kleins Faszination mit dem Nichts, wo ich sofort an antirealistische Metaphysik im Buddhismus und das Konzept der Leerheit denken muss (Klein hatte ja in den 1950er Jahren in Japan Judo studiert, dort wohl auch ein Interesse am Zen gezeigt; Wikipedia verweist dazu auf Oliver Berggruen, „Yves Klein – The Void“, in The Writing of Art, London 2012: 80, Verweis nicht geprüft). Einer der Sketches für die „Pneumatic Rocket“ (ca. 1958) mit Kohle auf Papier: Kalligraphie evozierend. Junge Besucherinnen fotografieren einander vor Klein-Blau. Die Monochrome und das meiste Blau hinter Glas, wohl was mit Sicherheit, aber erfahrungshinderlich.

Der Kunstbedarfsladen Gehua Baihua, gleich neben dem Guardian Art Center (wo’s auch mehrere im Vergleich dazu kleinere Kunstbedarfsläden gibt) — man könnte sich hier mit exquisiten Tuschesteinen und Hörnchenhaarpinseln aller Größen eindecken bis zum Sankt-Nimmerleinstag. Die Verkäufer alle vom Typ leiwande Haberer, recht wohlgenährte ältere Männer in ausgeblichenen Poloshirts, die zwischen und vor gut gefüllten Vitrinen auf Kundschaft warten. Alles wirkt verstaubt, ohne es zu sein, fahles Licht, eine Einkaufserfahrung wie in vorkapitalistischen Zeiten. Habe ich alle Güter ausgewählt, muss zuerst einer der Haberer eine Rechnung mit Durchschlägen ausstellen. Diese trage ich dann zur Kassa. Mit dem Kassenbeleg bekomme ich dann das erstandene Gut ausgehändigt.

Ich gehe in Beijing sehr gerne in Hutongbezirken spazieren, so, wie ich in Japan gerne in Bezirken mit Bauten älteren Datums spazierengehe. Niedrigere Gebäude, engere Straßen, Gassen, Lebensformen der Improvisation. Die Zwei- und Dreiradwelt Beijings hat sich seit 2018 nicht spürbar verändert. Verrostete Räder in allen Verfallsstufen stehen herum, die hohe Luftfeuchtigkeit hinterlässt Spuren; der Rost fühlt sich freilich demonstrativ an. Abenteuerliche Kabelkonstruktionen, immer noch. Bäume, immer wieder.

Die Bauten in Hutongs (gennant Siheyuan) mit kommunaler Binnenstruktur sind zur Straße hin verschlossen, aber in Hutongbezirken findet dann doch mehr Leben auf den Straßen statt, viel Verweilen, wie die steirische Unterkunftgeberin von unlängst gesagt hätte (andere Baustelle). Menschen schlafen, hocken, sitzen, plaudern, streiten, schreien. Neben einer U-Bahn-Station ein wahres Areal der Gemütlichkeit mit gleich mehreren Häusern, vor denen Weinstöcke Dächer bilden und Schatten spenden. Hier am Samstagnachmittag Gruppen älterer Leute auf Monoblock-Stühlen, zu viert; es wird Mahjongg gespielt; Klackern von Spielsteinen links und rechts. Passanten bleiben stehen und schauen ihnen zu, eine Zeit lang. Einige Gebäude in den Hutongvierteln wirken wie Geschäfte oder Lokale, aber ich kann nicht gesichert feststellen, ob sie das tatsächlich sind und bin in der Hitze zu faul, Aufschriften zu scannen und übersetzen zu lassen. 2018 suchte ich eines regnerischen Abends eine Baijiu-Bar auf, ich habe sie – im Dunkeln – lange nicht gefunden, bis mir ein in Feinripp-Unterleiberl vor sein Siheyuan tretender älterer Herr gestikulierend den Weg wies, nachdem er mich mit der internationalen Gluck-Gluck-Geste gefragt hatte, ob ich nach der Bar suchen würde. In Hutongbezirken übrigens auch viele öffentliche Toilettanlagen, danke für den Service, selbstverständlich auch Polizeistationen.

Hutongs sind auch soziale Kontrolle, nona ned. Es ist nicht so, dass ich vom Leben hier eine romantische Vorstellung hätte. Die Gebäude gelten als schlecht isoliert, zu heiß im Sommer, zu kalt im Winter; man hört die Nachbarn, man lebt mit den Nachbarn, nolens volens. Hutongs sind aber immerhin eine Umgebung, in der man – möglicherweise paradox, denn die Architektur ist ja auf Verschlossenheit der Straße gegenüber ausgerichtet – auch als Spazierende Leben wabern spürt, während man in den hypermodernen ostasiatischen Großstadtbezirken mit ihren breiten Straßen und gläsernen Hochhäusern dann doch eher das Sich-Hindurchbewegen von Menschen zu Zwecken von Konsum und Arbeit wahrnimmt, nicht mehr, nicht weniger. Einige Hutongs, der Wudaoying Hutong zum Beispiel, sind kommerziell belebter und touristisch orientiert, eine wilde Mischung aus Hippieskem, Hipstereskem und stillen, edlen Geschäften, immer wieder auch Aufbauten, Dachgärten, Überwuchertes. Unaufgeräumter als vergleichbare Viertel in Seoul, aktuell gerade viele Baustellen, doch im Verhältnis zu 2018, als ich zuletzt da war, wirkt die Umgebung nicht radikal verändert. Es gibt das vietnamesische Lokal mit dem angenehmen Innenhof auch noch, in dem ich damals mit F., dem italienischen Kollegen, einmal zu Abend aß. F., Student von S.; letzterer verstarb im Frühjahr 2020 plötzlich; es hieß, an Corona, heute heisst es, man wisse es nicht genau, plötzlich tot umgefallen; Herzstillstand.

Anders, vielleicht, als 2018: derzeit nicht viele weiße Tourist*innen zu sehen (im Hotel Businessleute aus Schwarzafrika, Südamerika und Südostasien, der eine oder andere Russe), aber generell schon sehr viele Leute unterwegs. Viele junge Frauen, chinesisch oder japanisch, mit großen Kameras, Spiegelreflex. In einem anderen Hutongbezirk, ein Stück weiter westlich, suche ich das Café Nugget auf, von dem ich online gelesen hatte; es klang irgendwie interessant. Nugget records ein DIY-Kassettenlabel. Ich trinke Kaffee, ein paar andere jüngere Gäste da mit Laptops. Alle flüstern und sprechen leise, angenehme Popmusik; ich erwerbe eine Sampler-Kassette des Labels. Leider gibt’s die interessanten Cocktails erst abends. Das Café soll Ende August schließen, das Label soll weiter existieren.

Ausgesuchte Freundlichkeit, so habe ich die kleinen Begegnungen mit Kellner*innen oder Leuten hinter Bars hier gar nicht in Erinnerung. China kann sich, so meint meine Erinnerung, gerade im Vergleich zu Japan recht barsch anfühlen, direkt. Diesmal überhaupt nicht, sogar die U-Bahn-Securities sehr weich. Aber auch: Sprachlosigkeit. Während früher in Situation, wo beide feststellten, keine gemeinsame Sprache zu sprechen, gestikuliert wurde und man halt so lang vor sich hin sprach, bis irgendwer beschloss, es sei nun dabei etwas rausgekommen, sodass man die Kommunikation beenden kann, greifen meine Gegenüber heute gern zu ihren Telefonen, tippen etwas in eine Übersetzungs-App, das dauert ein bisserl, dann kommt die Übersetzung. Das ist praktisch und effizient, fühlt sich aber steriler an, führt nicht dazu, dass ich beginne, mir Sprachbrocken für bestimmte Situationen zu merken, ist am Ende auch weniger unterhaltsam, unterfordert mich kognitiv. Nix mit Gluck-Gluck-Geste, nix mit Wabern. Vermutlich mache ich mich auch weniger lächerlich mit meinem offensiv unchinesischen Herumgestikulieren, aber ich fühle mich deutlich lächerlicher mit meinem Herumstehen in der Zeit, in der die anderen wegen meiner mangelnden Sprachkenntnisse ihre Übersetzungs-Apps betätigen.


Nugget Records sind auch auf bandcamp vertreten:
https://nuggetrecordsbeijing.bandcamp.com/

Ulrich Miedler (Aug 13, 12:10 pm) #

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