Anfang, Schluss, ohne Mittelteil
Ein Tag noch in Seoul, nach dem letzten Konferenztag, dem ersten dieser Konferenz, den ich vor Ort verbringen konnte. Alles, was in der vergangenen Woche hätte sein können an Gesprächen und Zusammentreffen und quarantänebedingt nicht sein konnte, wird jetzt in einen Tag voller Anrisse, Andeutungen und Schlussbemerkungen komprimiert. Auch das hat seinen Reiz — wir machen jetzt die ersten drei Minuten von einer Diskussion, die ansonsten gut zwei Stunden gehen könnte, aber uns reichen der anregende Anfang und das höfliche Ende, wir überspringen einfach den Mittelteil. Zweistündige Konferenzmittagspausen sind übrigens toll, da kann man unter Kiefern bei mit Gedichten beschriebenen Steinen sitzen und mit sehr klugen jungen koreanischen Mönchen Stellen aus einem Sanskrittext des 11. Jahrhunderts besprechen, an denen man selbst vor zwanzig Jahren gescheitert ist.
Tags darauf also, nach diesem Tag voller Anfänge und Schlüsse, hinaus in die Welt. Luftdurst, Raumdurst, Bedürfnis nach Stadt von oben, ab zum “N Seoul Tower”, 236,7m hoch, am Berg Namsan im Süden der Stadt, eingeweiht 1975. Atemtechnisch noch etwas Beeinträchtigte wie ich nehmen die Seilbahn aus Myeongdong. Der Berg mit Verteidigungsanlagen bewehrt; alte militärische Ausblicke. Ich lese, dass der Turm nach Sonnenuntergang in leuchtenden Farben erstrahlt, die mit der Feinstaubbelastung in der Stadt korrelieren. Bilder für wechselnde Bedrohungslagen im Lauf der Geschichte.
Souvenirstände, Cafes, Gastro am Fuße des Turms, lauter K-Pop überall. Nihilistisch gestaltete Zugangswege zum Aufzug im Inneren. Sie müssen sein, sie wollen gestaltet werden, mit Planetarischem, Globalem und Futuristischem, doch niemand verweilt in ihnen, sie sind ja nur Durchgangsschleusen. Hier: dunkle Gänge mit Nächtlicher-Sternenhimmel-Anmutung; die — wie ich vermute — aus ländlichen Gegenden stammenden älteren koreanischen Tourist*innen und ich machen “ah” und “oh”, als wir dann in einen riesigen Raum kommen, vollgepackt mit einer nicht unbeeindruckenden Installation schierer rotierender Buntheit mit etwas, nun ja, immersivem Sound dazu (Video).
Blick auf die Stadt: Die neueren Glastürme von Gangnam, der Fluß, der die Stadt in eine nördliche und südliche Hälfte teilt, Wohnviertel als Hochhausagglomerationen sichtlich älteren Datums, die sich wie Finger das Umland greifen. Dazwischen die (weit interesanteren) Gegenden mit niedrigeren Häusern, die die Hangverläufe der durchaus hügeligen Stadt mit ihren Dächern nachbilden. Man sieht damit auch, wo Grund und Boden kostspieliger sind.
Next station Tongin Markt (1941 während der japanischen Besatzung für die japanischen Bewohner*innen eingerichtet). Überdachte Marktstraße, man könnte sich hier tagelang durchessen; das Dosirak Café bietet eine gute Annäherungsmöglichkeit (“Dosirak” heist Bento, also Lunchbox): Im Café erwirbt man um 10.000 Won (ca. 7 Euro) eine Lunchbox und eine Anzahl spezieller Münzen. Die kann man am Markt gegen Essen eintauschen (kleine Gerichte um 4 Münzen, Pickles um eine). Großartige Wonton-Suppe, sehr feine crispy gebratene Hühnerteile und Tempura, Kimchi-Variationen vom Feinsten, aber nichts besonders Herausragendes. (Man sollte dort eher am Anfang eines Seoul-Besuchs hin, nicht am Ende, wenn man das alles schon von woanders her kennt.) Zum Essen geht man dann wieder ins Café, wo Reis und Getränke zusätzlich erworben werden können. An den Ständen fantastische selbstgeröstete Snacks aus Körnern und getrocknetem Seetang, schwarzem und braunem Sesam und viel Luft.
Um den Markt herum kleine Gassen durch ein Viertel mit altem Baubestand. Imposante alte Dachkonstruktionen ganz kleiner und manchmal auch schräger Hanoks, dazwischen architektonisch ansprechendes Neues. Galerien, elegante Restaurants (französisch, italienisch, spanisch), Boutiquen, aber dann auch eine ältere Frau, die durch ihr Küchenfenster frisch gebackene flaumige Laberln reicht, süß mit Zimt oder pikant mit Käse gefüllt. Ein Laden, der “odd pudding” verspricht. Eine Altstadt, touristisch aufbereitet, aber noch von älteren Ansässigen bewohnt. Umgebung der Unstimmigkeiten. Erinnerung an die Hutongs in Beijing, dort fühlte sich das aber doch noch einen Tick rauer an, unaufgeräumter (vor vier Jahren). Unter den Lokalen in Beijing mehr hippieske und hipstereske “traveler’s trail”-Restaurants, Bars, billige Cocktails, Batikshirts; hier in Seoul ist das alles gepflegter und eleganter. Ich vermute, dass die Stadtteile hier nach touristischem Zielpublikum stärker definiert und funktional getrennt sind. Und, ja, auch hier: die wild den Himmel zerschneidenden Stromkabel.
Gleich angrenzend der Gyeongbokgung-Palast, „Palast der strahlenden Glückseligkeit“, größter der fünf Paläste aus der Joseon-Dynastie in Seoul, fertiggestellt 1395, während der japanischen Besatzungszeit 1910—45 signifikant verändert, seit 1990 massive Rekonstruktionsbestrebungen. Kiefern (ich liebe Kiefern) im Park, viele Elstern, überhaupt ist Seoul die Stadt der Elstern, kein noch so kleiner Grünfleck ohne Elster. Ihr Schackerschacker punktiert das im Hintergrund stets an- und abschwellende Sirren der Grillen.
Auch das wird nun ein Tag der Anfänge und Schlussbemerkungen, des Überspringens längerer Zwischenstrecken. Zur eingehenden Erkundung fehlen Zeit und auch Kraft; ich gerate noch schnell außer Atem und gehe bewusst langsam durch das Areal, stolpere in ein Bauteil hinein und lass mich dann auch gleich wieder vom nächsten verführen. Ich habe ja Zeit, die ich nicht habe. Nebengänge, verschlossene Türen, stille Gassen, durch die immer wieder Frauen in langen, weiten Hangbok-Kleidern huschen; zarte Rauschgeräusche des Stoffes. Es muss irgendein Ding sein, sich heute, am Samstag, irgendwo ein solches Kleid zu leihen und dann zu einem Fototermin durch den Gyeongbokgung zu huschen, kichernd, mitunter auch in männlicher Begleitung.
Weiter, durch einen Hanok-Bezirk in die Insadong-Straße; hier fand am Vortag in einem Restaurant mit Korean temple food das Abendessen der Konferenz statt (unergründliche Feinheiten vegetarischer Traditionsküche mit viel Fermentiertem). Antiquitäten, Tradition, Teehäuser, Keramik; an diesem Tag voll mit Menschen, es wird mir bald zu viel. Ich suche wiederum den Ausblick von oben, den Weg durch ruhige Seitengassen. Mit Insadong schaffe ich nicht einmal den Anfang, es bleibt bei schrägen Einblicken.
Abends nach einer Ruhepause im Hotel noch ein letzter Rundgang mit Abendessen. Auch hier eine Marktstraße, Belebung durch zig Restaurants und Bars, übereinander gestapelt, K-Pop überall, und wenn es etwas gibt, worüber ich mich in Seoul beschweren möchte, dann ist es die nervende Dauerbeschallung durch plärrenden K-Pop. Als ob die Grillen nicht laut genug sirren würden.
Rückflug; J. fährt mich netterweise Sonntag früh zum Flughafen. Ich habe keine Lust mehr auf Filme im Flugzeug, höre mir lieber Hörspiele an und sondiere die Bildschirme der Menschen um mich, ein junger Brad Pitt hier, Olivia Colman dort, viele Trickfilme mit Tieren. Am Rückweg von den Ausflügen nach hinten zur Toilette schaue ich vielen Koreaner*innen mit Deutschlehrbüchern über die Schulter. Sie studieren einzelne Sätze. “Das ist gerechtfertigt”, “Er hat die Schule geschwänzt.”