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- 23 08 2022 - 14:07 - katatonik

In Quarantäne, 2

Das Quarantänezimmer hat ein kleines Fenster, durch das Tageslicht eindringen kann, wenn man die Imitats-Schranktüren, die es verschließen, öffnet. Wenn ich an das Fenster trete, sehe ich gegenüber eine Wand, ein paar Meter. Wenn ich mich nach draußen beuge, sehe ich sieben Stockwerke nach unten Wand mit vorgelagerten Klimaanlage-Außengeräten, die alle summen. Manchmal tschilpen Spatzen. Rechts und links gegenüber Wände von Häusern. Jemand von schräg gegenüber könnte mich durch sein Fenster sehen.

Ich frage mich, was man von dort in den Quarantäne-Hochzeiten, als Korea noch alle Einreisenden 14 Tage in Quarantäne zwang, gesehen hat, nicht in meinem Zimmer, aber in den besser einsichtigen Nachbarzimmern. Verzweifelte Menschen, die langsam durchdrehen? Sich aufhäufende Pizzakartons und Essensverpackungen? Stille Langeweile, allmählich irre werdende Netflixsucht, durchdrehende Zocker an ihren Laptops, Zwangsmasturbanten, begeisterte Leser? Familiendramen? Tänzer? Wilder Sex, gelangweilter Sex? Dauertelefonierer? Pulloverstricker? Meditierende? Ich weiß nicht, ob neben mir noch andere Quarantäninger in diesem auf sie spezialisierten — aber nicht auf sie beschränkten — Hotel untergebracht sind. Manchmal höre ich menschliche Geräusche aus den Nebenzimmern, aber kein Sprechen. Keine Ahnung, wie voll oder leer das Hotel ist.

Das Zimmer hat Halogenspots an der Decke, indirekte Beleuchtungen durch nach oben gerichtete Neonröhren, eine Lampe über dem Bett, die eine Straßenlaterne imitiert. Das ist Flair. Die Wände sind grau und weiß gestrichen; jemand hielt es für originell, Fahrer in breiten Pinselstrichen anzubringen. Fühlt sich an wie watching paint dry, den ganzen Tag. Das vorwiegend künstliche Licht ist nicht unangenehm; ich dachte, es würde unangenehmer sein, war dann aber zu erschöpft, um um ein anderes Zimmer zu bitten. Die Klimaanlage läuft durch; es ist heiß und schwül draußen.

Der Müll wird nur am Ende der Quarantäne abgeholt, das ist ab heute in drei Tagen. Ebensolange bin ich schon hier. Es gibt einen blauen Müllsack für Recycling (das Recyclingkonzept ist ähnlich wie in Japan, umfasst recht viel), einen kleineren weißen für non-recyclable garbage. Sie stehen im Eingangsbereich, der vom Zimmer durch eine Tür getrennt ist. Ich muss mich mit dem Müll beschäftigen, sondieren, sortieren, darauf achten, nichts Verderbliches herumstehen zu lassen; bei dieser Luftfeuchtigkeit wäre das nicht ratsam.

J., der Konferenzorganisator, hat ein Carepaket vorbeigebracht und an der Rezeption abgegeben. (Man bringt Sachen zu mir vor die Zimmertür, stellt sie auf einem kleinen Tisch ab und läutet; wenn ich aufmache, ist der Mensch nicht mehr da.) Er wollte die Konferenzunterlagen vorbeibringen — auch ein eigens designtes Konferenz-T-Shirt ist dabei —, frug nach, was ich bräuchte; ich schickte eine kleine Wunschliste, die er übererfüllte. Er ließ mich auch nicht bezahlen. Ich bin sehr dankbar, aber es ist alles zu viel. Vier Packungen Kekse statt zwei, zwei Packungen Tee statt einer, 20 Mandarinen; ich esse eigentlich nie Mandarinen. Aber warum nicht Mandarinen, es sind Mandarinen der Freundlichkeit, sie schmecken gut und geben ein paar Mandarinenwitze her.

Zieht man sich an, wenn einen niemand sieht, die Kardinalsfrage, situationselastisch zu beantworten. Contenance bewahren, Zähne putzen. Duschen. Sonntags, als ich mich etwas weniger erschöpft fühle, schreibe ich die “opening address” der Konferenz, die ich Montag vormittags halte. Ich bringe mich mental in offizielle Funktion, in den Zustand, anerkennende Dankesworte zu finden, ja niemanden vergessen, den koreanischen Organisator in ein gutes Licht stellen, dann wichtige Erkenntnisfortschritte seit der letzten Konferenz in dieser lockeren, und doch bereits seit 1982 laufenden Reihe hervorheben, auch da niemanden vergessen (und zwar international), die zwei das Feld bestimmenden Orientierungen, die manchmal in Spannung stehen, in produktive Spannung bringen, Wohlwollen ausdrücken, den einen oder anderen Seitenhieb verstecken, Kooperation als Tugend hervorheben, dazu auffordern, am Ende die Studierenden und jüngeren Forscher*innen im Feld ansprechen, ermutigen. Es fällt mir nicht schwer, man kriegt ja Routine in sowas; es braucht aber mehrere Anläufe, in einer ungeordneten Hotelzimmerumgebung den richtigen Ton zu finden. Der Vortrag braucht dann etwas Schauspielerei, ist nicht so ganz meins, aber die Intonation über Zoom wird ja leicht einschläfernd, ich simuliere Belebung.

Ich habe kein Gefühl für den Raum draußen, dafür, wo ich hier bin. Ich bin mit dem Taxi hierher gekommen, in eine mir noch unbekannte Umgebung in Seoul, bin nie um das Hotel herumgegangen, gleich hinein, gleich hinauf, gleich in das halbdunkle Zimmer. Raum, das ist jetzt umso mehr der virtuelle Raum, oder vielmehr die Vorstellung von Räumen — die Räume zu Hause, die G. in seinen Nachrichten erwähnt, der Konferenzraum, den ich über das Zoom-Interface sehe, der soziale Raum der Menschen, mit denen ich E-Mails austausche, die Räume, von denen ich weiß, dass diese E-Mails in ihnen geschrieben werden.

Die, die von meiner Erkrankung wissen, sorgen sich, und ich beruhige sie; den anderen sage ich nichts. Es wäre mir zu viel, noch mehr Menschen zu beruhigen. Es ist ja wirklich nichts Großes, aber trotzdem erfahre ich gerne Mitgefühl und bin froh darüber. Dumm gelaufen, klar, aber das Halsweh ist schon weg, die Atemwege sind frei, nur noch leichtes Schwächegefühl, aber das können auch Schlafmangel und Jetlag sein. Hitzewallungen gelegentlich, aber das kann auch am Alter liegen. Therapeutisch vielleicht, Symptome als mehrdeutig einzustufen, das beruhigt. Ich lese davon, dass auch bei milden Covid-Erkrankungen das Gehirn an Kapazität verliert; das macht mir Angst. Ich werde leicht und schnell gerührt von menschlichen Zeichen, ich freue mich rasch und viel. Ich könnte auch leicht in Tränen geraten und versuche, an nichts zu rühren, was mich dazu bringen könnte.

Die Zeit, sie gewinnt dank der Konferenz Struktur. Die Konferenz ist hybrid, etwa dreißig Teilnehmende online, noch einmal so viele im Raum. Die Technik ist sehr gut, es gibt wohl Kameras, denn man überblickt gelegentlich von hinten den Hörsaal und Bildschirm, gelegentlich von vorne. Ich sehe viele der Kolleg*innen, mit denen ich letzte Woche bei der anderen Konferenz palaverte und zu Abend aß, dort im Raum, natürlich mit Masken. Es ist eigenartig, nur das Offizielle mitzubekommen, Vorträge und anschließende Diskussionen, nicht die Pausen und Abendessen (grrr), das Nebenher und Drumherum, aber so ist das bei Online-Konferenzen ohnehin, diese Reduktion menschlicher Interaktion auf das Frontale, nackt, und in your face, keine Zwischentöne, keine Nebenhergespräche, weg das Raunen und Rauschen von Spontaneität, oder aber es wirkt störend (der Kollege online, der nicht aufhören will zu sprechen, kriegt der denn nicht mit, dass er labert und anderen, also mir, wertvolle Diskussionszeit wegnimmt?). Die anderen online Teilnehmenden lassen ihre Kameras gern ausgeschaltet, A. ist wie immer nur als Kätzchen-Avatar zu sehen, das vortrefflich zu meinem Zosterops-Avatar passt. Ich schalte die Kamera aber meist ein, vor allem, wenn jemand anders online spricht; es ist total frustrierend, zu schwarzen Zoom-Feldern zu sprechen. (Ob es weniger frustrierend ist, zu meinem Quarantänezimmergfries zu sprechen?)

Zwischendurch viel Musik. Ich habe die Jukebox ja am Rechner dabei, das Internet lässt mich auch streamen, den Explorationen in Sachen Sound sind kaum Grenzen gesetzt, und Lieblingsmusik hier zu hören beruhigt, wenn Beruhigung nötig ist. Das kurz vor der Abreise aus Wien entdeckte Album Palmer in Dub begeistert mich total und hat was ungemein Herzerwärmendes gerade. (Ich notiere: Stimme Mika Bajinsky u. bissi Peter Heppner, Musik Achim Färber, Max Loderbauer, Zeitblom, Ingo Krauss, irgendwie bearbeitet by Deadbeat.) Das koreanische Netflix-Interface habe ich langsam kapiert, doch die eigentlich interessanten koreanischen Filme und Serien sind nicht mit Untertiteln zu haben, die ich verstehe. Bummer. Dann kann ich doch gleich über den Laptop streamen, koreanische Zombiefilme (warum nicht, sehe ich sonst eh nie), die letzte Episode “Better Call Saul” (grandios, eh klar).

Das Public Health Center ruft an; man hat meinen Akt von einem Bezirk in einen anderen transferieren müssen, da das Quarantänehotel eben woanders ist. Man stellt mir Fragen zu Impfstatus und Verlauf, eine Frau spricht auf Koreanisch, dann übersetzt eine zweite auf Englisch. Man schickt mir lange SMS auf Koreanisch, die ich Google übersetzen lasse; Listen von Krankenhäusern, an die ich mich im Falle des Falles wenden könnte. (Letzte Woche konnte ich am Mobiltelefon noch nicht übersetzen, da mailte ich mir den SMS-Text auf den Laptop — die betreffsfreien E-Mails von meinem Account, Korea als Absendenetzwerk zugeordnet, triggerten eine Sicherheitswarnung am Mailserver des Arbeitgebers; ein Herr vom IT-Service meldet sich höflich bei mir und bittet um Rückmeldung.) Man bittet mich, meine E-Mail-Adresse über SMS irgendwohin zu schicken, was nicht funktioniert; aus irgendwelchen Gründen will meine koreanische SIM-Card keine SMS verschicken. Ich probiere alternative Routen aus, irgendwann schickt man mir dann eine SMS mit einer E-Mail-Adresse, an die ich Daten für mein “Certificate of Release” schicken soll. Ich darf auch ohne PCR-Test in drei Tagen raus und Ende der Woche, ebenfalls ohne Test, das Land verlassen. Große Freude und Erleichterung.

Heute mittags bestellt der freundliche Rezeptionist für mich Bibimbap. Er bittet mich dann, selbst runterzukommen und es raufzuholen; er sei alleine da und könne nicht weg. Ich stocke kurz (“darf ich denn das?”), mache mich dann aber auf. Die Bewegung durch das Hotel fühlt sich wie die erste Bewegung eines gebrochenen Gliedes nach Entgipsung an. An sich Eintrainiertes und Selbstverständliches muss wieder durch Bewusstsein gesteuert werden, clunky. Soll ich es wagen, morgen von mir aus den Hotelflur zu betreten, vielleicht kurz auf und ab zu gehen? What a thought!

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