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- 28 12 2025 - 20:03 - katatonik

Man muss sich das Leben als Reaktion auf von Algorithmen geschaffene Situationen vorstellen

ICE am Weihnachtstag, Waggon der ersten Klasse, sehr spärlich besetzt. Ein älterer Herr und ich saßen einander an einem Zweiertisch gegenüber. Wir hatten beide genau da reserviert. Wir waren beide genau da hinreserviert worden. Als ich die Fahrkarte Monate vor Reiseantritt gebucht hatte, standen schon nur noch sehr wenige Plätze zur Verfügung. Nun waren jedoch rundum gute drei Reihen ganz leer. Einige wenige Reservierungszeilen leuchteten rot über den Sitzen auf, darunter auch solche, mit denen immer einige Plätze für Personen mit Gold-oder Platinumstatus freigehalten werden.

So rollte der Zug bald durch das verschneite Niederösterreich, wir beide da, der fremde Herr und ich unsere diversen Endgeräte auspackend, bedienend, bespielend. Eher so Nerdgrummeligkeit, keine Belächelung, wortlos. Ich fand die Situation kurios, jemandem in einem beinahe leeren Waggon gegenüber zu sitzen. Ich weiß nicht, wie er die Situation empfand. Wir blieben ja wortlos.

Irgendwo nach Amstetten dann zeigte sich sein rechtes Bein häufiger in meinem linken Augenwinkel; er streckte es in den Durchgang hinein. Sein linker Fuß stieß manchmal an meinen Fuß, unter dem Tisch. Ich begann zu vermuten, dass er unbequem saß. Ich wartete etwas ab, denn ich wollte ihm nicht den Eindruck vermitteln, ich würde mich von seiner Anwesenheit gestört fühlen. Dann stand ich auf, mit meinen Endgeräten, ein unverbindliches Lächeln im Ansatz, falls es zu Blickkontakt kommen sollte, was es nicht tat, und setzte mich in das leere Viererkabuff neben unserem Tête-à-Tête-Winkerl. Ich saß nun neben dem Herrn, durch die Wand des Kabuffs getrennt, und vermutete ihn erleichtert. Bald hörte ich es allerdings rumoren; die von ihm ausgehenden Geräusche entfernten sich etwas weiter nach hinten.

Ab Linz hatte jemand einen Sitz im Viererkabuff reserviert. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, begab ich mich auf den mir zureservierten Platz im Winkerl zurück. Der Herr hatte sich tatsächlich ebenfalls aus dem Winkerl entfernt, als hätte meine Wegbewegung von dort einen Bann gebrochen. Er saß nun einen Sitz hinter seinem angestammten Platz. Der Linzer Sitz im Viererkabuff bieb dann leer, wie auch alle anderen Sitze um uns herum, wie auch an den weiteren Bahnhöfen, die ich noch mitfuhr.

Ich blieb dennoch im Winkerl sitzen. Es erneut zu verlassen, das wäre, als würde ich es damit zu einem Unglückswinkerl erklären, das der unbotsam Unbekannte zusammenreservierende Algorithmus mit einem Fluch belegt hatte.

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