Kristallberge und Kuhställe (Beijing)
Es wird hier viel Taxi gefahren, eigentlich fahren wir alle gemeinsamen längeren Wege mit dem Taxi, auch in der Rush Hour, denn in der U-Bahn sind dann so viele Menschen, dass man oft einige Züge abfahren lassen muss, bevor man einsteigen kann (die Intervalle sind allerdings eh sehr kurz). Es betrifft, so T., vor allem die Linie 5, die von Norden nach Süden durch das Zentrum mit dem Platz des Himmlischen Friedens verläuft. Außerdem ist es ja heiß, auch deshalb Taxi. Auf der Nebenspur viel Fahrrad- und Elektromopedmobilität.
Der Campus der Beijing University ein Hochsicherheitsgelände. Dass man nur mit Gesichtserkennung reinkommt, ist mittlerweile hier nicht außergewöhnlich (ich hatte das 2019 schon in Guangzhou erlebt, was meine Beijinger Kolleg*innen verwundert, bei ihnen gab’s das damals noch nicht, das kam mit Covid). An der Beida muss man aber darüber hinaus mit Identitätskarte bei einem bestimmten Gate vorab registriert sein, und das wird von recht barschen Wächter*innen genau kontrolliert (meine Passnummer wird sorgfältig eingetippt und später wieder abgerufen). Schlangen bilden sich.
Der Campus ist auch eine Tourismusattraktion; historische Gartenanlagen mit Teichen, deren Gestaltung bereits in der Ming-Zeit begann, dem Boya-Turm (oder auch Porter-Pagode), dem marmornen Boot, das ein korrupter Günstling des Qianlong-Kaisers in Imitation von dessen weit elaborierterer Konstruktion im angrenzenden alten Sommerpalast (Yuanming Yuan) hier errichten ließ. Das Gravitationszentrum der Gartenanlagen ist der Weiming Hu, der “Unnamed Lake”. Der Campus datiert in die 1950er Jahre, die Universität selbst wurde (als Yanjing-/Yenching-Universität) in den 1910ern gegründet; der erste Präsident war der amerikanische Missionar John Leighton Stuart. Einiges, was hier an historischem Stein steht oder liegt, entstammt dem alten Sommerpalast, übrigens ein Areal, das schon für sich genommen in Sachen multiple Vergangenheitsanverwandlung sehr viel hergibt. Ich könnte dort Stunden verbringen, wenn ich denn könnte.
Wie kommen denn die Touristen hier rein, frage ich den Workshoporganisator. (Hier die offizielle Antwort.) Man muss sich registrieren, natürlich, aber es gäbe keine großen Kontingente, fügt der Workshoporganisator hinzu, und mittlerweile hätte sich ein Geschäft darum herum gebildet, Mittelsleute, die gegen Geld eine Registrierung besorgen würden. Übereinstimmend sagen alle, die Kontrolle und Überwachung sei erst durch die Pandemie so strikt geworden. Eine Atmosphäre resignativen Humors. Sie wissen immer, wo du bist.
In den Mittagspausen des Workshops spaziere ich alleine in sengender Hitze durch die schattigen Wäldchen um den Teich, mit dem Feldstecher. Die einzige Gelegenheit auf dieser Reise, Vögel zu erspähen und ein bisschen zu beobachten (Azure-winged Magpie, Oriental Magpie, Spatzen in rauen Mengen, Stockenten und Mandarinenten, schwarze Schwäne, Bulbuls, und wenn man etwas über Entenarten in Beijing herausfinden möchte, muss man übrigens suchmaschinentechnisch schon einigermaßen begabt sein).
Irgendwo hier muss damals, während der Kulturrevolution, der “Kuhstall” gestanden haben, der in Ji Xianlins Erinnerungen an diese Zeit zentral ist; “Kuhstall” bezeichnet temporäre Lager für Konterrevolutionäre, wie es sie damals in vielen chinesischen Städten gab. Ji war hier, am Campus, neun Monate lang interniert, Mao rezitieren, harte Arbeit. We all took turns persecuting each other, schreibt er über die Atmosphäre der Kulturrevolution. Seine Aufzeichnungen wurden in China 1998 veröffentlicht; eine englische Übersetzung erschien 2016 im Verlag der New York review of books unter dem Titel “The Cowshed : Memories of the Chinese Cultural Revolution” (Auszüge daraus, in einer Übersetzung von McComas Taylor und Shaoyong Ye, erschienen 2013 in der Zeitschrift Asian Literature and Translation, download here.) Ji war ein international angesehener Indologe und über seine zahlreichen Essays in China einem breiten Publikum bekannt. “Professor Ji” ist (oder war?) hier ein household name. (Mehr über Jis Zeit in Deutschland 1935-1945 übrigens hier.) Er verstarb 2009 im hohen Alter von 98 Jahren. Ich habe seinen Namen während dieser Reise nicht erwähnt gehört und weiß nicht, ob das etwas bedeutet.
Geschichten, die sich nicht einfach weitererzählen lassen, hier, in dieser potenziellen virtuellen Weltöffentlichkeit. Auch in der weniger öffentlichen Atmosphäre vor Ort, im Zwiegespräch, bleiben Gespräche oft andeutungsvoll; erst nach einigen Tagen gemeinsam verbrachter Zeit werden Gesprächspartner*innen manchmal offener und bringen eventuell sogar so etwas wie Meinungen zum Ausdruck. Die Pandemie, was war, was geschah, was sich dadurch veränderte, das ist ein Elefant im Raum. Gespräche in Gruppen verstummen dann schnell; Themen werden gewechselt. Oft ist es so, dass ich irgendwann in einem Gespräch so etwas sage wie „oh, this must have been a difficult time“, das kann der Eröffner sein für eine Schilderung, oder auch nur der Trigger für einen Themenwechsel. Nach und nach wird die Ungleichheit auch spürbar (man erahnt sie ja ohnedies): Während ich bei Pandemiegeschichten auf Persönlich-Anekdotisches rekurriere, das politische Dimensionen hat (Maßnahmen, Management, Populismus) und in ein Gewirr von Aushandlungen und Feedbackprozessen führt, ist man hier sofort und viel schneller in einem politischen Bereich, der nach anderen Regeln funktioniert, tiefer und eindeutiger in das Persönliche eingreift (Kontrolle, Verbote, Eingriffe, Umgang damit). Ein Komplex, über den zu sprechen seine Regeln auch gar nicht gestatten. Bei den offiziellen Gelegenheiten, die die wissenschaftlichen Veranstaltungen umrahmen, ist die Rhetorik merklich staatstragender und parteigefärbter als vor 2020. Soziale Harmonie, Einheit des Staates, Fortschritt, Entwicklung, und immer wieder Zitate des Großen Vorsitzenden.
Geschichten. S., ein Han-Chinese, der in Tibet aufgewachsen ist, Eltern dorthin versetzt. In der Mittelschule hätten die tibetischen Schulkolleg*innen einander oft Geschichten erzählt. Besonders in Erinnerung geblieben, da immer wieder vorgekommen, das rekurrierende Motiv des Kristallbergs: dass jemand in einem Kristallberg eingeschlossen ist, die Welt um sich wahrnimmt, aber nicht anders an ihr teilhaben kann als durch Zusehen, stumm, ohne Bewegungsmöglichkeit, ohne Möglichkeit einzugreifen. Was S. nicht bespricht, was uns allen komischerweise in diesem Moment an der Geschichte nicht auffällt, ist die Umkehrbarkeit der Beobachtungsrichtung: die Person, die im Kristallberg eingeschlossen ist, die nach außen sieht, ist auch stets von außen sichtbar. Vielleicht ist das aber auch nicht Teil des Bildes; es gibt da gewiss Verbindungen zu lokalen Bergkulten und -mythologien, denen man nachgehen sollte. Ich bleibe an dieser Geschichte jedenfalls hängen: ein Reflex einer Situation der Machtlosigkeit, in der sich die so genannten ethnischen Minoritäten in der Volksrepublik China schon seit längerem befinden, die aber heute, im erneut hochideologisierten Überwachungskommunismus, auch außerhalb der Minoritätenregionen relevant ist.
Ich habe die umfassende Kontrolle und Überwachung hier nicht so präsent; ich blende sie aus. Bei Abendessen im kleineren Kreis wird deutlich, wie präsent sie ist, wie meine lokalen Gesprächspartner*innen immer abwägen (das war vor der Pandemie definitiv noch nicht so, oder habe ich es nur nicht bemerkt?). Eines Abends sitzen wir zu fünft in einem reichlich absurden Restaurant in einem Hotel: ansatzweise experimentell gewendete chinesische Küche, das wirkt modern. Die Räume – es ist ein Restaurant mit abgetrennten Räumen für Gruppen von bis zu sechs Personen – alle nach Orten Israels benannt, hebräische Aufschriften; in unserem Raum „Bethanien“ Gemälde mit biblischen Szenen an den Wänden, dazwischen Fotos von erwachsenen Personen, die sich einer Taufe unterziehen (nein, das ist keine heiße Wet-T-Shirt-Szene da in der Mitte), einer Karte des Heiligen Landes.
Unsere chinesischen Gastgeber vermuten, das Lokal gehöre irgendeiner christlichen Gruppierung, was mit Baptisten. Der Raum ist mit recht dünnen Türen von einem anderen abgegrenzt, der von der Anlage des Restaurants her kein Gastraum sein kann. Irgendwann hören wir von dort Stimmen, und dann S., plötzlich so „they can hear us“, und wir wenden das ins Komische, aber ich sehe die echte Besorgnis in seinen Augen. Ich denke, wir reden doch über gar nichts Problematisches, nichts, was sie für staatsgefährdend halten könnten, er übertreibt doch mit seiner Vorsicht. Aber ich lebe ja auch nicht hier und kann mir nicht anmaßen einzuschätzen, was problematisch sein kann. P., der ältere Westler am Tisch, erzählt dann, wie er in den frühen 1980er Jahren in Lhasa war, was sich dann von einem Jahr zum anderen verändert hätte, so schnell, und er spricht nur an, was an Infrastruktur entstand, ausschließlich Dinge, die man positiv bewerten kann. Ich bin mir nicht sicher, ob er das tut, weil S. befürchtet, man würde uns aus dem Nebenraum zuhören, jetzt, im Rückblick, scheint mir das eindeutig so.
Kleine Anzeichen relevanter Verwerfungen, keine großen. Ich sage jetzt oft “relevant”, weil das im hiesigen offiziellen englischen Sprachgebrauch so ein gesetzter Begriff ist; meine offiziellen Gesprächspartner*innen reden oft von “relevant regulations” oder “relevant conditions”, da muss es einen fixen chinesischen Offizialausdruck geben. Relevante Verwerfungen. T., eine Tibeterin, wirkt oft zurückhaltend, eventuell sogar schüchtern, aber wenn es darum geht, etwas zu erledigen, packt sie an und setzt sich in Problemlösungsgesprächen laut und deutlich durch. Wird man so, wenn man so oft denkt, dass man besser nichts sagt? Bei einem Essen sitzt sie neben einer han-chinesischen Doktorandin. Die schwärmt davon, wie schön es gewesen sei in einer bestimmten Gegend Tibets, die sie jetzt auch schon vor mehreren Jahren bereist hätte, die Landschaft, so wunderschön. Und übrigens könne man auch wieder nach Xinjiang reisen, es wäre total offen, kein Problem.
Da gibt es dann einen Moment, wo T. und die Doktorandin, die nebeneinander sitzen, beide schweigen. Und ich stelle mir vor, was sich T. denken könnte, ausgehend von ihrem Gesicht, das so ein Lieber-nichts-Sagen-Gesicht ist: Ja, du siehst die schöne Gegend, in die sie dich bringen, in der du dich frei bewegen kannst. Wir sehen den Müll der Touristen, wir erfahren, wie wir unsere Sprache immer weniger sprechen dürfen, wie sie alles regulieren und wegregulieren, was uns etwas bedeutet, und was uns etwas bedeutet, darf nur noch sein, wenn es dem Tourismus dient, und wir dürften dann das Tourismusparadies pflegen. Bei einem anderen Essen erzählt L., eine Han-Chinesin, dass sie bei der Konferenz als Chair eines Panels zu was Tibetischem eingeteilt worden sei, wobei sie gar nichts von der Thematik verstehen würde; wir witzeln darüber. Ich frage L. interessiert, ob sie eigentlich die tibetische Umgangssprache beherrsche, und das finden alle am Tisch furchtbar komisch, allein die Idee, dass jemand wie L. Tibetisch sprechen können würde (und nicht nur historische Texte lesen), also nein, bitte; alle lachen sich scheckig.
Der Eindruck, die Leute hier wären aufrichtig froh darüber, wieder Ausländer*innen vor Ort zu sehen. Im Gang der Beida spricht mich eine Dame auf Englisch an, ob ich zu einer Veranstaltung hier sei. Sie hört meiner Antwort zum Workshop neugierig zu, und natürlich kann ich dann retrospektiv auch nicht anders, als das als eine mögliche Kontrollintervention zu deuten; ich kannte die Dame nicht, vielleicht wollte sie nachprüfen, dass hier auch nichts Unbotmäßiges geschähe? Bei einem Abendessen in einem Restaurant am Campus schleicht ein Bub, geschätzte acht, neun Jahre, um unseren Tisch herum; wir, das sind vier, zwei Westler*innen und zwei Chinesen. Er macht Fotos von uns, was ich etwas befremdlich finde. Als wir gehen, läuft er uns nach und ruft meinem Kollegen begeistert zu: „Welcome in China! Welcome in China!“