(Nicht meine) Vergangenheit
Unter den vielen, vielen Fotografien, Super-8-Filmen und Dias, die mein Vater hinterließ, und die nun schon seit Jahrzehnten in meinen Regalen oder mittlerweile auch auf meinen Festplatten herumliegen, also unter all diesen stillen und bewegten Bildern finde ich jene am faszinierendsten, die eine Vergangenheit betreffen, die nicht so ganz die meine ist, aber dann doch wieder: Ich war nicht dabei, als die Bilder aufgenommen wurden, ich bin also auch nicht darauf zu sehen, und die Bilder betreffen in vielen Situationen nicht die Familie, sondern andere Menschen. Aber ich kannte einige dieser Menschen, ich kann sie identifizieren als Teil der Dorfgesellschaft, und ich kann über die Anlässe Mutmaßungen anstellen, zu denen die Bilder gemacht wurden. Das genügt mir.
Ein Fluss, möglicherweise die Donau. Passau? Ein Gemeindeausflug. Die Männer mit den gern vorgezeigten Bäuchen des bescheidenen Wohlstands, den man in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren erreicht hatte, wo sich die Gemeinde solche Ausflüge leisten konnte. Keine Extravaganzen, aber doch etwas weiter weg, ins nahegelegene Ausland, oder fast. Die Frauen mit den bunten Kopftüchern, die Bäurinnen. Das waren die, die Kopftücher trugen und auf den Bänken saßen, die Hände in den Schoß gelegt, Blusen, Strickwesten, einfarbige Röcke. Wenn sie mit den Händen nichts zu arbeiten hatten und nicht mit dem Körper, dann saßen sie, legten die Hände in den Schoß, verschränkten sie. Die rauen Hände der Bäurinnen, die Furchen und die Falten. Ihre Stimmen, manche ganz leise und zaghaft, man hat sie nie gehört, andere dagegen hörte man nur laut und schreiend, immer nur im Rufmodus, anderen zurufend, was sie zu arbeiten hätten.
Dann die anderen Frauen — ich erkenne die Gattin eines wohlhabenden Transportunternehmers und Baumeisters —, sie tragen elegantere Kostümjacken, buntere Röcke, auffälligere Halsketten. Die Haare auftoupiert, aber nicht mehr so hoch wie in den 1960er Jahren, als sie jünger waren und noch schlanker. Sie stehen bei den Männern, bei ihrem Mann. Sie sitzen nicht, wie man es in der Kirche täte, unter den anderen Frauen, den Bauersfrauen. Die Gattinnen sind bei den Männern, sie stellen etwas dar und etwas vor. Sie haben Haltungen, die sie einnehmen im Raum. Sie lachen laut und oft schrill. Sie haben Handtaschen. Ihre Körperhaltung ist nicht einfach die einer Arbeitspause, eines Ausruhens zwischendurch; sie ist das Einnehmen einer Stellung in der Gesellschaft.
Er hat gerne verstohlene Momente erfasst; es gibt einige Bilder dieser Art. Schnappschüsse von Paaren, plötzliche Momente der Zärtlichkeit, der Ausgelassenheit und des Gelächters. Es waren befreundete Paare, aber doch solche, bei denen man nicht einfach ein- und ausgeht, wo man auf Beziehungspflege mit Einladung und Gegeneinladung im richtigen Zeitabstand achtet, wo man überlegt, welche Gastgeschenke angemessen sind, eingedenk jener, die man die letzten Male selbst erhalten hat; es muss Ausgewogenheit herrschen und Angemessenheit. Gesellschaft mit Status. Man trinkt manchmal zu viel, vielleicht werden auch Frauen berührt, die nicht die Gattinnen sind, später spricht man jedenfalls nicht davon. Das Beziehungsgeflecht, es bekommt Sprünge, aber gesprochen, nein, gesprochen wird darüber nicht.