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- 16 10 2022 - 15:10 - katatonik

Langstreckenflug mit Karibubullen

Im Flugzeug von München nach San Francisco. Enge der Economy. Anfangs etwas geschlafen, eingedenk der Ratschläge, die im Wartebereich eine junge, weltläufige Frau ihren offenbar weniger weitgereisten Eltern erteilte. Schlaft am Anfang etwas, und versucht dann, den Tag durch bis zum Abend in San Francisco wach zu bleiben. Müde werdet ihr sowieso, aber versucht, dort erst am Abend so richtig zu schlafen. Also etwas Dahindämmerung mit Augenmaske, danach Rückzug in die Wachheit.

Ich habe den Vortrag für das Symposium, zu dem ich in Berkeley eingeladen wurde, weitgehend überarbeitet; diese Dinger sind ja nie so fertig, wie man sie vor Abreise haben möchte. Anscheinend brauche ich auch das sprachliche Feilen am Text als eine Art Nervositätsbewältigung; es gibt schlimmere Angewohnheiten. Ich habe ein Hörspiel gehört, bin dabei im Gang herumgestanden und herumgegangen: Antje Rávic Strubel, Klappersteine (Dank an Hanna Engelmeier für die Hörspielempfehlungen!). Während ich in die Welt der Trottelllummen eintauchte, die von einer Vogelforscherin auf einer öden Ostseeinsel untersucht werden, mit einer rätselhaft heimsuchenden Liebesbeziehung zu einem jungen Mann, Stimmen links und rechts wechselnd im Kopfhörer, dazu Inselgeräusche, gut aufgebaute Geschichte mit präziser Sprache und hintergründigem Verlauf (wiewohl von Sound und Musik her kreativ etwas unterdotiert, da muss ich nörgeln), also während ich das im Ohr habe, betrachte ich die Schirme anderer Passagiere, auf einem irgend etwas sehr gothic mit schwarzweiß gefärbten und hochtoupierten Frisuren von outrierten Figuren, auf dem anderen “Das Fenster zum Hof”, auch so ein Film, den ich trotz nach wie vor wahrgenommenen Qualitäten nur noch mit Kopfschütteln in Sachen Genderei anschauen kann, aus der Zeit gefallen, jedenfalls aus meiner.

Die junge Frau, die “Fenster zum Hof” sieht, sitzt schräg vor mir auf der anderen Seite des Ganges. Vor dem Flug flog ihr beim ruckartigen Aufstehen – noch schnell etwas aus dem bereits verstauten Gepäck holen – das Kissen auf den Boden; ich legte es wieder zurück, ohne dass sie irgend etwas davon merkte. Ich schätze Unbemerktes. Sie ist wohl künstlerisch veranlagt, denn vor dem “Fenster zum Hof” malte oder zeichnete sie, mit vielen Stiften am kleinen Tablett vor sich, bei funzelhafter Sitzbeleuchtung. Noch einmal irgend etwas Verstauen oder Runterholen, und da fällt ihr eine volle Wasserflasche aus dem Gepäckfach. Sie rollt bis unter meine Füße, ich gebe sie ihr zurück, sie sich entschuldigend, ich stumm lächelnd überhaupt alles entschuldigend; es ist ein freundlicher Flug. Es gibt diese Mitpassagiere im Flug, die dann komischerweise immer weiter in räumlicher Nähe bleiben, über das ganze Ankommensprocedere im anderen Land hinweg. Die junge Frau wird in San Francisco eineinhalb Stunden lang vor mir in der Einreisekontrollschlange stehen, genauso stumm erschöpft wie ich, und wir werden einander, als wir dann endlich unser Gepäck vom bereits längst angehaltenen Gepäckband holen, laut lachend dazu gratulieren, endlich durch zu sein.

Ein Tagesflug, jetzt in der Mitte ist es in der Zeitzone, aus der ich komme, 21:58, aber draußen über der Labrador Sea ist es taghell, und in San Franciso ist es mittags. Wir befinden uns in 281km Entfernung von Pangnirtung, who would have thought. Eigentlich fliege ich den Flug nach San Francisco immer nur wegen des Abschnitts von Sisimiut nach Pangnirtung (wobei die Flugroute näher zu Godhavn verläuft als zu Sisimiut, das muss man ehrlich sagen). Das Fliegen über unwirtliches Planetenareal, das Staunen über weite Strecken bestenfalls spärlich bewohnten Landes, deswegen macht man das doch; der Rest ist Nebensache. [“Immer nur”, das klingt jetzt schon verdammt angeberisch. Tatsächlich fliege ich diesen Flug jetzt zum 4. Mal, nicht mehr, nicht weniger, aber die Sache mit Grönland und Nunavut fand ich jedes Mal sehr apart.]

Manchmal glaubt man, man steigt jemandem auf die Zehen, aber dann waren es doch nur die eigenen Schuhe, fußlos.

Als ich kurz zuvor ganz hinten war, noch einen Becher Weißwein zu schnorren, stand ich in diesem Kabuff zwischen dem hinteren Servicebereich und dem Gang, allein zwischen dunkelblauen Vorhängen und grauen Flugzeugwänden, und da war dieses eine, kleine kreisrunde Fenster; es eröffnete einen wunderbar verwaschenen und strahlenden Blick auf das Blauweiß da draußen. (Im Ohr dazu Automat, Ghost.) Als ich zurück an meinen Platz ging, bemerkte ich einen Herrn am Fenster; er hatte sein Handy mit Kamera am Vordersitz fixiert. Es sah so aus, als würde er den ganzen Flugverlauf durch das Fenster rausfilmen. Auch so kann man sich die Zeit vertreiben. Hey, in 2440km überfliegen wir Flin Flon, wo nach dem Zensus von 2016 immerhin 5185 Leute leben (Kupfermine)! “Flin Flon” wurde übrigens nach Josiah Flintabbatey Flonatin benannt, Hauptfigur im Roman “The Sunless City” von J. E. Preston Muddock (1905), sagt Wikipedia.

Iqaluit ist 373km entfernt. Es hat minus 61 Grad da draußen, und an sowas denkt man ja im Flugzeug dann doch eher ungern. Wer wohnt eigentlich in Pangnirtung? Pangnirtung wird von den Einwohnern auf Pangniqtuuq zurückgeführt, das bedeutet: Ort vieler Karibubullen. Pangnirtung ist neben Iqualuit und Pond Inlet die drittgrößte der acht Siedlungen der Baffininsel. Das finde ich heraus, als ich Tage später am Ende des Symposiums frühmorgens schlaflos herumbrowse. 1481 Einwohner wurden im Jahr 2016 gezählt. Anglikanische Missionare schon 1894 da; James Peck vermittelte den Inuit die Silbenschreibweise für ihre Sprache Inuktitut. Eine Abugida-Schrift, der Struktur nach also in einer Familie mit Devanagari oder den japanischen Kana-Schriften, und mein Verdacht, dass das ein Missionar mit Indien- oder Asien-Erfahrung geschaffen haben muss, wird durch Wikipedia zunächst bekräftigt (“Cree syllabics”, aus denen sich die Inuktitut-Schrift entwickelte, von James Evans in Manitoba für Ojibwe entwickelt; Evans kannte Kurzschrift und Devanagari.) Ich möchte Geschichten über Schrifterfindungen und Schriftvermittlungen lesen, in denen auch die vorkommen, die mit diesen Schriften zu schreiben beginnen, in ihnen leben, und wie sie unter Umständen sogar auch einen Anteil an der Entwicklung hatten (ketzerischer Gedanke); Geschichten, die Inuit und anderen mehr als zivilisationsbeglückte Passivität geben, wo finde ich solche Geschichten?

(Yosi Horikawa, Tempest. Scissor Sisters, I don’t feel like dancing. The Outlaw Blues Band, Deep Gully.) Ich fitzle noch etwas an der Powerpoint-Präsentation herum. Es geht um etwas Wissenschaftsgeschichte, also füge ich Fotos von alten – längst verstorbenen – weißen Männern ein. Von meinem akademischen Mentor, der auch vorkommt, finde ich eines in Farbe, wo er in Nepal beim Spazierengehen mit zwei chinesischen Kollegen zu sehen ist; ich habe es selbst 2013 gemacht.

Wenn der Typ vom Mittelsitz schräg vorne mir beim Rausgehen noch einmal auf den schuhlosen Fuß steigt, mache ich ihn drauf aufmerksam. Zwei Mal lasse ich unkommentiert, beim dritten Mal würde ihn der Zorn meiner blauen Augen durchbohren. Die Frau neben mir sieht sich Filme an. Immer, wenn einer vorbei ist, beugt sie sich nach vor, lässt den Kopf hängen und schläft etwas, während der Abspann des jeweiligen Filmes läuft, endlose Reihen von Namenszeilen über ihrem hängenden Kopf.


Sehr gern gelesen, erst recht kurz vor einem Heinflug und mit der eindrücklichen Lektüre con M. R. Scott, Wayfinding. The Science and Mystery of how Humans travel the World. Da kommen übrigens auch Sorachentwicklungen und die Inuit drin vor.

Anne (Oct 18, 08:12 am) #


Ah, sehr fein, schau ich mir an, danke!

katatonik (Oct 18, 04:27 pm) #

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