Schachbrettorte, Schachbrettstädte (Berkeley, San Francisco)
Nichts läuft auf ein Zentrum zu, Punkte definieren sich in Relation zu Linien, die sich in Relation zu Himmelsrichtungen definieren. Gravitationszentren sind funktionaler Art, manche stärker, manche schwächer: Yachthafen, Gewerbeparks, Universitätscampus, Mall, Museum. Ohne Zentrum, das als städtebaulicher Fluchtpunkt fungiert, fühlt sich alles wie ein endloser Zwischenraum an. Das Leben als Funktionsbündelung, geschichtet in Zonen, die sich ausschließlich aneinander ausrichten.
Berkeley Marina: Yachthafen, César E. Chávez-Park (auf Müll gebaut, dann 1996 umbenannt nach einem Gewerkschaftsführer), Shorebird Park Nature Center, Kinderspielplatz, Hotels, ein Restaurant (Austern). Wildtruthähne schreiten über die Straße, genau die Art von Wildlife, die man an einem Yachthafen erwartet. Auf den Felsen in Küstennähe Pelikane, Kormorane, Graureiher und Möwen, im Park kalifornische Ziesel, Spatzen, Juncos und Kolibris, sicher mehr, aber ich habe den Feldstecher nicht dabei. Ein gestalteter Raum für Freizeit, jetzt, an einem Wochentag, spärlicher besucht und offenkundiger Stätte von Arbeit. Im Restaurant einige vergnügte Damengrüppchen; weiter Blick über das Meer bis zur Golden-Gate-Bridge am Rande des Horizonts. Draußen in der Sonne arbeitende Männer, zumeist Latinos, in Unterhemden; Männer auf Mittagspause, zumeist Latinos, in ihren Autos am Küstenparkplatz. Unter den Autos flitzen die Ziesel aus dem Park zu den Steinbrocken an der Küste. Die Männer telefonieren, ich spreche zu den wohlgenährten Zieseln. Baufahrzeuge im Naturschutzgebiet, am Spielplatz junge Frauen mit Kleinkindern, die nicht die ihren sind. Ein Bus verbindet die Marina mit Downtown Berkeley, er fährt alle Viertelstunden; ich bin der einzige Fahrgast, der bis in die Marina fährt und von ihr weg. Öffentlicher Verkehr, der sich wie am Dorf anfühlt, wie im Waldviertel oder im Odenwald, in ländlichen Regionen, spärlich und etwas Besonderes, hier in der San Francisco Bay Area, der zweitreichsten Stadt der USA.
Ein anderes Freizeitgebiet, die Hügel nördlich und nordöstlich des Universitätscampus. Am Fuße der Hügel großzügig gebaute Wohnhäuser, viele davon in der “First Bay Tradition” aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gebaut: Verwendung lokaler Baumaterialien (v.a. Redwood), Betonung von Handwerkskunst, Sensitivität des Baus zur Umgebung, asymmetrische Gestaltungen, Gesten der Moderne. Julia Morgan (1872–1957), die mit dem Hearst Castle und dem Gebäude des Berkeley City Club (heute ein Hotel) neogotische Feuchtträume verwirklichte, gilt auch als Hauptvertreterin dieses regionalistisch-modernistischen Stils (z.B. der Sausalito Women’s Club; Morgan hat über 100 der 700 von ihr entworfenen Gebäude für Frauenorganisationen gebaut). Die Häuser in den Berkeleyer Hügeln wirken klassisch, es umgibt sie eine Aura des Wohlhabenden. Sie sind einer durchschnittlichen, leistbaren Wirklichkeit entrückt, stehen für Versprechen der Moderne, die sie nicht eingelöst hat. Es passt, dass vor einigen dieser Häuser große, alte Autos stehen, eigenartigerweise eher Mercedes und BMW als Chevrolets.
Erst Treppen, dann Pfade führen die recht steilen Hänge hinauf. Eukalyptusbäume, Gestrüpp, vereinzelt bunte Wüstenblüten, alles sehr trocken. Schilder mit Brandwarnungen, Klapperschlangenwarnungen. Pralle Sonne. Wochentag: Wanderer, Hundeausführer, Jogger. Funktionales Freizeitverhalten. Wenn man nicht gerade joggt, bewegt man sich so rasch durch die Hitze, wie sie es ohne Kreislaufkollaps ermöglicht. Das ist nicht schnell, aber zügig und konzentriert. Man schlendert nicht, man hält sich nicht auf. Die Sitzbänke an den Aussichtspunkten verwaist; es ist zu heiß.
San Francisco. In Schachbrettstädten muss ich Wege planen; wenn die Städte keine Zentren haben, muss mein Kopf sie für die Wege erschaffen, Punkte setzen, aber ich nehme dabei Freiräume, setze einen Punkt erst, wenn ich an einem anderen bin, keine feste Vorausplanung. Sich treiben lassen, aber doch mit einem gewissen Plan, sonst verliere ich mich in öden urbanen Gegenden (been there, done that). Hier ohne Datennetzanbindung (zu teuer), aber Osmand kann in der App am Handy Offlinekarten speichern, die auch die Daten von Buslinien verfügbar machen. Busintervalle und Busgeschwindigkeiten katastrophal. Niemand, dessen Alltag zeitlich eng getaktet ist, kann sich hier allein mit öffentlichem Verkehr durch die Stadt bewegen. Das Bild der USA als Inbegriff sozialer und räumlicher Mobilität wird durch die atemberaubende Langsamkeit des öffentlichen Nahverkehrs konterkariert. Eine Form der Verlangsamung wie in der Matrix.
In den Bussen junge Menschen, ältere, ärmere und erschöpfte Menschen. Viele Menschen, die Habseligkeiten in Kinderwägen transportieren. Es werden Sitze angeboten und Hilfeleistungen beim Ein- und Aussteigen erteilt. Die langsamen, spärlich fahrenden Busse als ein ganz besonderer Zwischenraum in der Schachbrettstadt, erfüllt vom Bewusstsein aller Anwesender, dass es niemand hier leicht hat. Gesprächsfetzen, Kurzdialoge, Lebensberichte zwischen Alltagsorganisation und planetarer Sorge, knapp am Rande des Übergeschnapptseins und manchmal tief in der Beklopptheit. Die radio documentaries von Glenn Gould, die er in seinem einsamen Kanada aufgenommen hat, The Idea of the North, gegeneinander komponierte Stimmen, Gerede im Kontrapunkt, Stimmen wie die Linien in der Schachbrettstadt, ohne Zentrum und Fluchtpunkt.
Aquatic Park Historic District, an der Nordküste; spontan hier gelandet, da das Museum for Asian Art, das ich eigentlich besuchen wollte, geschlossen war und ich noch Zeit hatte, dann also mit dem Bus ans Meer (das übrigens noch immer rauscht, who would have thought). Überbleibsel historischer Strandkonstrukte: das Maritime Museum 1936 von der Works Progress Administration, einer New-Deal-Organisation, als Badehaus gebaut, davor eine künstlich angelegte Lagune mit Sandstrand. 1929 wurde ein gekurvter Pier errichtet, die Lagune zu schützen, heute recht baufällig, aber man kann noch entlangspazieren bis zu einer nie fertig gebauten “convenience station” am Ende, dann den Pelikanen beim Vorbeifliegen zusehen, vor Alcatraz als Kulisse. Davor ein weiterer Pier (?), vom Land aus nicht zugänglich, große Mengen an Vögeln, aber ich habe ja den Feldstecher nicht dabei. Pelikane, auf jeden Fall, und zwar nicht wenige; sie fliegen mit Vorliebe knapp über die Wasseroberfläche, auch die Kormorane. Das Meer, es verlangsamt die Menschen: lungern, spazieren, blicken, ein paar Neoprenschwimmer.