Schlangestehen, auch akustisch
Nils Frahm, Wiener Konzerthaus. Im Großen Saal hatte ich dort zuletzt, also vor zehn Jahren oder so, Mahler gehört, damals, als sich auf Twitter eine totale Mahler-Extravaganza der Herren malomalo und goncourt ereignete, von der ich mich aus der Ferne infizieren ließ. Der Große Saal ist bombastisch, groß, golden. Wenn ich vom Parkett nach oben zu den Seitengalerien blicke, muss ich immer an Nazis denken, an solche, die in Uniformen da oben sitzen, neue Machthaber, Herrenmenschenattitüde, keine Ahnung, woher das kommt, dann diese ganze Faschismusverinnerlichung, die DNA der oberen Gesellschaftsschichten, die harten Frauen; Jelineks Klavierspielerin, in der Haneke-Verfilmung ja auch viel Konzerthaus.
Als ich mich entschlossen hatte, eine Karte für das Konzert von Nils Frahm im Konzerthaus zu erwerben, hatte ich nicht näher darüber nachgedacht, wie diese Art von Musik mit einem solchen Saal denn zurecht käme; ich hatte auch nicht näher über die Art von Musik nachgedacht. Frahm macht ja so Einiges, seine Dub-Tracks mit F.S. Blumm (2×1=4) höre ich sehr gerne. Die älteren Sachen mit präpariertem Klavier, nun, das ist Musik für Menschen mit anderem Geschmack. Sein gerade erschienenes Album Music for Animals (2022) fällt aus der Reihe, weil ohne Klavier, Soundaufbau über lange Zeitstrecken, Ansätze zu Verdichtung. Ich hör’s nicht ungern grad, aber wenn es an elektronische Musik geht, finde ich anderes spannender.
Das Konzert war für 19:30 angekündigt, vor Ort hieß es dann aber, Beginn erst um 20:00. Es gab also noch ausreichend Zeit, einen Spaziergang in Richtung Stadtpark anzugehen, wo viele junge Menschen zu irre grauenhafter Musik eine gute Zeit hatten, und danach im Konzerthaus in diversen längeren Schlangen herumzustehen. Denn das Konzerthaus war gut besucht, verdammt gut; es gab Schlangen bei den Garderoben und Schlangen für die Getränkeversorgung. Eine bodenständige Garderobistin erzählte uns, die wir am Ende einer Getränkeschlange standen, von einer weiteren Weinbar im oberen Stock; wir also hurtig hin, um dann dort am Ende einer genauso langen Getränkeschlange zu landen, die sich allerdings auch überraschend hurtig bewegte. Schlangestehen verlangsamt die Zeit. Man glaubt immer, Jahre zu altern, spürt die Gesichtsfurchen sich merklich weiter vertiefen, und am Ende waren’s eh nur fünf Minuten. Nur Damentoilettenschlangen, die brauchen tatsächlich so lange, wie sie sich anfühlen. Und all diese Schlangen sind zurzeit alle fast maskenlos; kollektive Vernunft ist anders.
Nils Frahm also. Imposanter Bühnenaufbau, mit einer Glasorgel links, seinem präparierten Klavier und allerlei Elektronik rechts, er so am Hin- und Herwieseln und Schalten und Walten, so ganz agiler Elektroniker am Gerät. Es gab, passend zu “Music for Animals” den Versuch tierbezogener Publikumsanimation; Frahm bat das Publikum, Tierlaute zu machen, die er dann aufzeichnete und in die nächste Nummer verwob. Es gab beachtliche Lautungen der Art “Uga-Uga”, die Leute schenken sich ja wirklich nix, aber das Ergebnis war jetzt nichts, wofür ich auch nur eine Minute Schlange gestanden wäre. Vielleicht dachte Frahm, er müsse seine eher flächigen neuen Tracks aus “Music for Animals” einer Live-Situation irgendwie anpassen, sie aufpeppen, doch mehr Dramaturgie reinbringen und auch sein anderes gewohntes Publikum zufriedenstellen. Es gab jedenfalls immer wieder dazwischen die Klavierdinger für Menschen mit anderem Geschmack. Ich erinnerte mich an einen Abend in einer Hotelbar in Kyoto vor mehr als 25 Jahren, ein typisches Mittelklasse-Business-Hotel. Ich war zu einer Konferenz da, trank noch etwas, während eine dünne Pianistin in weißem Kleid nahezu in den Flügel kroch, den ich auch weiß in Erinnerung habe. Weichzeichnerpedal, zarte Frau kriecht klavierspielend in Flügel, Flügelkriechsound.
Auf einen Flügelkriechtrack folgte dann immer ein stärker elektronischer; da war ein Plan dahinter. (Das Konzert hatte einen Titel; es hieß “Music for Vienna”.) Recht vordergründige Transformationen und Modulationen, in einem eng gesteckten Harmoniebereich, sehr harmoniesüchtig überhaupt; einige Muster der akustischen Eskalation in den stärker elektronisch generierten Tracks fand ich interessant, aber sie waren aus recht simplen, flach klingenden Digitalsounds gebaut, hatten wenig Volumen und verpufften in ihrer Spannung. Wenige Momente, an denen ich dachte: aha, jetzt aber. Ich denke mir nicht oft während eines Konzertes, dass es einfach in dieser Kategorie so viel bessere Musik gibt, ich ziehe nicht oft kategoriale Vergleiche, weil mir die Härte eines solchen Urteils falsch erscheint, aber an diesem Abend kann ich diesen Gedanken nicht so einfach wegschieben. Mir fallen ad hoc eine ganze Reihe von anderen Elektronikmusiker*innen ein, denen ich es sehr gönnen würde, bekämen sie die Konzerthausbühne (falls sie das wollen sollten). Da hat sich jemand auf ein für ihn neues Territorium vorgewagt, das aber schon recht gut besiedelt ist. Das ist mutig, aber ich hätte es schön gefunden, wenn es live noch mutiger und sperriger gewesen wäre. Eine Konzerterfahrung wie in einer Schlange stehen, und dann, wenn man dran ist, gibt’s nix mehr. Das Publikum goutierte aber die Mischung; es gab standing ovations am Ende.
Frahm nahm sich dann auch noch selbst etwas Wind aus den Segeln, als er bereits vor seinem letzten Track ankündigte, danach noch zu einer Zugabe wiederzukommen. Er war in seinen Ansagen auch so self-effacing wie die Kings of Convenience, vielleicht macht man das jetzt so als Mann auf der Bühne, der kein Rockerschwein sein will, vielleicht ist das ein Ding. Es kam bei Frahm weniger entspannt rüber als bei den Norwegern; das mag auch am Saal gelegen haben, der Kommunikation mit dem Publikum gewiss nicht einfach macht. (Es gab auch Scherze über Berliner Konzertsäle, Turnhallen, nach Internetanbietern benannt, ohne Sitzgelegenheiten, und man solle ihn doch bitte öfter raus aus Berlin holen, sowas hört der Wiener natürlich gern, auch wenn er insgeheim mutmasst, verarscht zu werden.) Nun, demnächst vielleicht wieder Mahler.