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- 28 09 2022 - 21:09 - katatonik

Touching Convenience

Ist es denn verantwortbar, gerade jetzt in größere Konzerte mit vielen voraussichtlich maskenfreien Menschen zu gehen; man dekliniert sowas mental runter, mit unterschiedlichen Wörtern, die mit “verantwort-” beginnen, in Sätzen, die je nach Geneigtheit affirmativ sind oder verdammt viele Negationen enthalten. Jedenfalls ist es ein großer, weiter Raum, der sich zwischen moralischem Rigorismus, verhältnismäßiger Pragmatik und ungehemmtem Hedonismus eröffnet, und manchmal weiß eine einfach nicht mehr, wo in diesem Spektrum sie gerade steht.

Gestern nachmittags saß ich in einem Gespräch, in dem es um Wichtiges im Wert von einigen Millionen Euro ging; es war bedeutend — und unerwartet — konstruktiv. Man wird sehen. Mein Telefon vibrierte, C. lockte — auf Vermittlung des grundgütigen G. — mit einem Angebot einer Konzertkarte für die Kings of Convenience am gleichen Abend. Volkstheater Wien, der Historie nach eine grundbürgerliche, also anti-aristokratische Institution, architektonisch historistisch, und, hey, der erste Theaterbau in Österreich, der (nach dem verheerenden Ringtheaterbrand, und, ach ja, bei dieser Gelegenheit gleich wieder Werbung für den großartigen Sühnhaus -Film von Maya McKechneay) völlig elektrisch beleuchtet wurde. Das Haus macht was her.

Ich fühle mich post-infektiös immer noch im Zustand “immuner wird’s nicht”. Frage mich angesichts stark steigender Infektionszahlen, wie lange ich das noch sein sollte, aber gestern dann doch noch, auf jeden Fall. Vor ein paar Monaten hätte dieser Text mit einer besorgten Bemerkung darüber begonnen, wie wenige Maskentragende zu sehen waren, jetzt ist mir nicht danach, das offensichtlich Ungescheite festzuhalten.

Es waren vortreffliche Karten, die C. da ergattert hatte, fast ganz vorne, sehr mittig. Hätte ich ein Getränk gehabt, hätte mir Erlend Øye nahezu in selbiges spucken können. Øye und sein Kumpel Eirik Bøe schienen vom Theater (ausverkauft) atmosphärisch sattsam beeindruckt. Ich war noch nie bei einem “Kings of Convenience”-Konzert, wäre ohne das Kartenangebot vermutlich auch nicht hingegangen, aber es passte als wohlgestimmter Abschluss eines produktiven, doch eintönigen Sitzungstages.

Da stehen also zwei Männer mit Gitarren auf einer riesigen Bühne (im zweiten Teil von Bassist und Schlagzeuger begleitet, beide mexikanisch), im Dunkeln, von Lichttropfen erhellt. Der eine (Øye) hat seine Schmächtigkeit aus jungen Jahren kultiviert, der andere (Bøe) befasst sich erkennbar mit Muskelaufbau. Sie sind weit über 40, haben aber immer noch eine total jungenhafte Dudeität, die sie mit etwas verschrobenen, liebevollen und nur selten unfreiwillig unkomischen Kurzerzählungen zwischen den einzelnen Nummern leicht ironisch umschmeicheln, als hätten sie die große weite Welt südlich von Bergen gerade erst entdeckt, als hätten sie die mütterlichen Sofas mit Karodecken gerade erst gestern hinter sich gelassen.

Die Jungs haben ihr Publikum mit verdammt wenig Einsatz im Griff; das Theater hängt ihnen an den Lippen. Das ist wie so ein Lagerfeuergitarren-Brüderpaar, in diesem schon sehr lange elektrifizierten Theater. Sagt Øye, wir sollen mit den Fingern auf 2 und 4 mitschnippen, dann schnippen wir alle mit; sagt er, wir sollen von unsern rotsamtenen Sitzen aufstehen, stehen wir auf; sagt er, wir sollen in einem bestimmten Rhythmus klatschen, dann tun wir auch das, und sogar gewisse Refrains singen wir ohne weiteres mit, und wenn es Zeit wird, sich wieder hinzusetzen, dann spüren wir das alle, gleichzeitig, und machen das, einfach so. Plötzlich ist alles eine simple Geste, unspektakulär und berührend.

Am Ende vibriert das ganze Theater vor begeistertem Beifall, die Menschen stampfen mit ihren Füßen, der Raum hallt und bebt, und das fühlt sich plötzlich überwältigend gut an und so gar nicht nach Pestzeitalter, und gerade deshalb und sogar für Menschenmassenhassende wie mich. Øye und Bøe kommen wieder, sie stellen sich ganz vorne an den Bühnenrand und spielen die Zugabe ganz ohne Mikrofone und Verstärkung. Man hätte eine Haarnadel fallen hören können, hätte eine Dame in der dritten Loge ganz oben ganz hinten eine verloren.


Danke für das phantastische Einfangen der Stimmung. Es hätte meinetwegen noch etwas mehr über die Musik selber sein können. In Berlin waren sie wohl im Juni, habe ich völlig verpasst. Als wir in Norwegen waren 2006 oder wann das war, haben wir die ganze Zeit die damals neueste CD von ihnen im Auto gehört. Tolle Road Music im Land der Fjorde.

alex (Sept 29, 11:42 pm) #

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