Die Städte der anderen
Und du bist in einer anderen Stadt, und du läufst herum, weil du immer herumläufst. Immer mehr läufst du, vielleicht auch, weil dir etwas in dir sagt, so lang wirst du das auch nicht mehr können, also mach, lauf. Es liegt weniger Zukunft vor dir als Vergangenheit hinter dir, und vor allem weniger gut bewegliche Zukunft. Das ist ein Fakt.
Und ist es so, dass man sich mehr mit der Vergangenheit beschäftigt, wenn und weil man mehr davon hat — sie ist ja immerhin etwas bereits Erfahrenes, anders als die Zukunft, von der man weniger hat, gar nicht wissen kann, wie viel man noch von ihr hat, aber jedenfalls noch nichts Erfahrenes, und mit Erfahrenem lässt es sich leichter beschäftigen als mit nicht Erfahrenem, aber nicht unbedingt sinnvoller, also, ehrlich gesagt. Dazwischen liegt aber immerhin noch die Gegenwart, und wenn du da nicht die Antennen ausfahrst, wird gar nichts mehr, also lauf, fahr die Antennen aus, geh hierhin und dorthin.
Du könntest eigentlich noch diese oder jenen anrufen, eine E-Mail nach hier oder dort schicken, also zusätzlich zu denen, die du eh schon verschickt hast und zusätzlich zu denen, die du deshalb nicht verschickt hast, weil du wusstest, passt grad nicht für die, sind ja Umstände, da verreisen Familien, sieht man ja auch auf ihren Accounts da irgendwo, die sind verreist. Also noch andere, entlang gewisser Achsen der Bekanntschaft, ob analog, virtuell oder Beides, das trennt sich ja nicht mehr so einfach. Schon lange nicht mehr gesehen, lange nicht mehr gesprochen, da könntest du doch, denkst du dir, dachtest du dir schon, noch bevor du die Füße auf den Boden der Stadt gesetzt hattest und drauflosliefst, hattest du vor, aus Gründen der Neugier, des Wissenwollens, einfach so, dachtest du.
Aber jetzt, da bist du da, und da sind diese Menschen so weit weg, du bist irgendwo in dieser Stadt, vielleicht bist du rein physisch sogar recht nahe an ihnen dran, sie wissen es nicht, du weisst es nicht, aber es sind doch ganz andere Leben, unverbunden oder auf diese seltsame Weise verbunden, wie ein Klick oder ein Fav oder ein Like in sozialen Netzwerken Verbundenheit schafft, was sich manchmal anfühlt wie eine Umarmung oder ein herzlicher Händedruck, manchmal wie ein gewogenes, stummes Zunicken, manchmal aber auch wie ein rascher, flüchtiger Blick aus dem Augenwinkel im Vorbeigehen, wo du nicht weisst, wurdest du bemerkt oder nicht, oder wie das Ausstrecken einer Hand ins Leere. Da verliert man leicht die Balance.
Und bei manchen wieder denkst du dir dann, jetzt, wo du in der Stadt bist, wo sie wohnen, mutmaßlich, ob sie nun da sind oder nicht, weisst ja nicht, also, nein, eigentlich geht das überhaupt nicht mit den Antennen, denn da ist Geschichte, und da geht so ein schlichtes „na, wie geht’s? Gemma auf an Kaffee?“ einfach nicht. Es würde nicht passen, denn da gibt es dein früheres Ich, das damals verbittert war, und das schickt dir gelegentlich immer noch so einen Stachel ins Herz, wenn du diese Neugier spürst auf so Menschen, fragt dich, ob du denn wahnsinnig bist, denn Neugier hin oder her, also bitte, muss ich jetzt deutlich werden, muss ich dir wirklich erzählen, was da alles war und vor allem, was da alles nicht war, das weisst du doch noch, das ist doch eigentlich hirnverbrannt, das wäre doch selbstwertgefühlsmäßig total daneben, jetzt eine Antenne auszufahren.
Und du fragst zurück, an dein früheres Ich, ob das denn wirklich immer noch sein muss, dieses Denken daran, dieses Denken so, ist das nicht zu einengend, denn schließlich, also, es ist so lange Zeit her, und so eindeutig, wie dein früheres Ich das heute darstellt in diesem laufenden Zwiegespräch, so war das nun wirklich nicht, weil. Ja doch auch: total spannende Menschen, offensichtlich, kluge, gescheite, grundsympathische Menschen, die wirklich gute Sachen, also, verlässlich wirklich gute und interessante Sachen, und die Umstände damals, und wie hätte denn auch anders, und wäre das nicht total kindisch, würde das frühere Ich da nicht einfach Dinge hineinprojizieren in Menschen, die mit diesen Dingen doch gar nichts zu tun gehabt hätten, würde es nicht Erinnerungen falsch sortieren, und, eh scho wissen, den ganzen eigenen Psychokram, für den können diese armen Menschen doch wirklich nichts, also bitte, warum nicht doch die Antennen ausfahren, von wegen Gegenwart und so, und die Ambivalenzen der Vergangenheit, je nun, die können doch auch einfach so sein, wie sie waren, da muss doch nicht gleich ein Stachel ins Herz fahren.
Und dein früheres Ich schaut dich mitleidig über den Brillenrand an — nein, tut es nicht, es trägt ja noch Kontaktlinsen, die hat es damals ja vertragen, tust du schon länger nicht mehr, außerdem, die Gleitsichtkonstellation, also nur noch beim Schwimmen die Linse links heutzutage, also jedenfalls, das frühere Ich schaut dich aus brillenlosen Augen zweifelnd mitleidig an, stumm, und, nun ja, ihr kommt auf keinen grünen Zweig, egal, wie viele Schleifen ihr dann noch dreht, gerade in dieser fremden Stadt, da gibt es viele Schleifen zu drehen, da kannst dich ja auch gut verlaufen.
Ihr einigt euch darauf, dass jedenfalls die Lebensumstände jetzt sehr andere wären, was das frühere Ich ja nur aus deinen Erzählungen weiß, es ist ja nicht jetzt – aber lassen wir das, die Zeitschleifen in Wahnvorstellungen sollte man nicht mit Realismus überfrachten. Die Lebensumstände also sehr andere, hier ganz bestimmt, und dort sicher auch, und wahrscheinlich auch die Einstellungen, Haltungen, Gefühlslagen, Stimmungslagen. Du würdest zu diesen anderen dort gerne sagen, no hard feelings, aber hier glaubst du dir das selber nicht so ganz, auch wenn du es wirklich gern so hättest; da gibt es einfach etwas, über das du nicht drüber kommst, auch wenn du wirklich gerne würdest, von Herzen. Der Stachel. Und die anderen, die würden vielleicht auch gar nicht erst wissen, warum es überhaupt hard feelings geben hätte sollen, die es zu verneinen gälte oder zu beschwichtigen, so dermaßen disparat, diese Geschichten, so lange, die Zeit.
Und umgekehrt gibt es da vielleicht auch Punkte, Dinge, von denen du nichts weisst, nichts gespürt hast, etwas, das du angerichtet hast, das du nicht hingekriegt hast. Das frühere Ich ist ja bei manchen Dingen bemerkenswert stumm, also wirklich, auffällig ist das, obwohl es sonst kaum zu bremsen ist in seinem Mitteilungsdrang. Vielleicht wäre es diesen anderen auch einfach lieber, nichts mehr von dir zu wissen, vielleicht wissen sie auch einfach nichts mehr von dir. Das kann doch auch sein, das wäre doch auch rechtens. Du denkst dir, du würdest diesen Gedankengang gerne abschließen mit einem “… und es ist gut so”, was Versöhnliches. Aber das fühlt sich nicht richtig an, lauf lieber noch eine Runde durch die Ambivalenzen.