Go to content Go to navigation Go to search

- 11 11 2023 - 15:41 - katatonik

Mehr Gehkonzerte (Wien Modern, 2023)

Peter Jakober: Saitenraum II für Streichorchester in drei verbundenen Räumen. Konzerthaus Wien, Wiener Symphoniker. 50’. (31.10.)

Georg Friedrich Haas, 11000 Saiten für 50 im Raum verteilte Klaviere im Hundertsteltonabstand und Kammerorchester. Konzerthaus Wien. Klangforum Wien sowie 50 Studierende des Ludwig van Beethoven Instituts für Klavier in der Musikpädagogik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 60’. (1.11.)

Das Festival “Wien Modern” hat dieses Jahr das Motto “Go – Bewegung im Raum”. Konzerte mit im Raum verteilten Musiker*innen, bei denen auch das Publikum die Möglichkeit zur Bewegung hatte, gab es auch im letzten Jahr. Die monumentale Aufführung von Georg Friedrich Haas’ “Ceremony II” in mehr als 30 Räumen des Kunsthistorischen Museums (link) war das aufwändigste solche Konzert, auch das mit der größten Variationsbreite an Sounderfahrung durch Bewegung, in ineinander übergehende, aber doch voneinander getrennte Klangräume differenziert. Gegangen ist das Publikum; die Musiker*innen statisch (mit Ausnahme von drei Akkordeonist*innen).

Das offizielle Eröffnungskonzert des diesjährigen Festivals – nach der Performance von Maria Gstättners Fanfare und anderem im Stadtpark – war bescheidener dimensioniert, aber immer noch sehr monumental. In Peter Jakobers “Saitenraum II” wurden alle drei Säle des Wiener Konzerthauses von insgesamt 60 Streicher*innen der Wiener Symphoniker bespielt, die Türen weit geöffnet, Sitzreihen zum Teil entfernt. Musiker*innen saßen auf Bühnen, aber auch um die angestammten Publikumsbereiche herum auf Saalniveau. Auf den Saalböden sind Trennlinien aufgeklebt. Man sollte den Musiker*innen nicht zu nahe treten; es gibt auch ein paar Aufpasser*innen. Vor allem den Großen Saal des Konzerthauses ohne Stuhlreihen zu sehen und durchschreiten zu können, das hatte was. Oha. (Man konnte sich übrigens auch zwischendurch oder überhaupt hinsetzen; es gibt ja in allen Sälen zumindet an den Rändern auch feste Sitze.)

Die Komposition ging aus einem Auftragswerk hervor (“Seitenraum”), das letztes Jahr bei Wien Modern uraufgeführt worden war. Musikalisch: mikrotonale Bewegungen, durch eigens entwickelte Hard- und Software komplex synchronisiert. Ein Typ lief mit einem Rucksack herum, aus dem zwei Antennen mit Kugeln ragten, Mikros, denn das Ganze wurde live auf Ö1 übertragen (jetzt leider nicht mehr verfügbar, die Kulturnation Österreich versenkt ihre Radioschätze ja systematisch nach sieben Tagen im Nichts). Schwere Louis-und-die-außerirdischen-Kohlköpfe-Vibes, nicht nur bei mir.

Jedenfalls wäre das aber eben nur eine Variation des Konzerts gewesen, ein besonderer Gang durch die drei Klangräume. Die Klangerfahrung hing ja wesentlich von der Bewegung ab und war somit individuell – aber dann doch auch stärker kollektiv als, im Vergleich, die weitläufigeren Wege im KHM bei der letztjährigen Haas-Extravaganza. Man bewegte sich recht langsam mit anderen durch Räume, zwischen Räumen; die Türen waren Flaschenhälse, wo sich’s staute. Weitgehende Stille im Publikum, gelegentliches Geflüstere. Konzentrierte Gesichter, verzückte Gesichter, entrückte Gesichter, mit geschlossenen Augen Lauschende, fasziniert Beobachtende, gelegentlich Gelöstheit und wechselseitiges Anlächeln. Man konnte Geh- und Stehphasen natürlich auch individuell abwechseln. Die Sache mit der Musik und der Motorik eben auch sehr individuell. B. lobte zum Beispiel das Gehkonzert prinzipiell, Konzerte im Sitzen fände sie nicht nur rückentechnisch unangenehm, sie würde sich da auch viel schlechter konzentrieren können.

Das sind so die Sachen, mit denen man sich bei Jakober beschäftigte und über die man dann plauderte: Fragen der Klangästhetik, der Wirkung, die Gehen zu diesen feinen an- und abschwellenden Streicherklängen mit ihren Richtungswechseln eben so hat. Das Gehen produziert eine stärker körperliche Klangerfahrung, allerdings eine, in der die Bewegung des Körpers nicht die Oberhand über die Rezeptionsfähigkeit des Gehörs gewinnt (wie ich es beispielsweise beim Tanz empfinde). Das langsame Gehen verstärkt die räumliche Dimension und Körperlichkeit von Klängen, jedenfalls bei solchen, die auf diese Rezeptionsform zugeschnitten und entsprechend komponiert wurden. Anders bei der “Fanfare” im Stadtpark. Dort ging das Publikum Musiker*innen hinterher, die aus Traditionen kollektiven, Gesellschaftsnormen bewahrenden Musizierens kamen (Militär- und Blaskapellen). Das eröffnete die Frage nach dem Verhältnis von Musik zu Macht, Musik zu Gewalt. Das Gehen erhielt dabei einen anderen Kontext, es war eher Reaktion auf eine Verlockung durch Musik, auf Verführung durch Musik, fühlte sich weniger autonom an. Mitgehen und Mitläufertum; Rattenfänger-von-Hameln-Vibes, meinte D., dann auch wieder die Frage nach möglicher Subversion im musikalischen Spiel ebenso wie im rezipzierenden Gang.

Jakober hat bei Georg Friedrich Haas studiert. Am Tag nach dem Jakober-Konzert im Großen Saal des Konzerthauses, auch als Gehkonzert angelegt, Haas’ “11000 Saiten” für 50 im Raum verteilte Klaviere im Hundertsteltonabstand und Kammerorchester. Die 50 Klaviere an den langen Seiten des Publikumsbereichs aufgestellt und oben auf der Bühne im Halbrund, durchnummeriert von 0 bis 49. Im Video-Interview – wo man auch Ausschnitte hören kann – erzählt Peter Paul Kainrath (Konzertpianist, Kulturmanager, Leiter des Klangforums Wien), er sei 2018 in einem Raum in der Fabrik des chinesischen Klavierherstellers Hailun gestanden und hätte 100 ungestimmte Klaviere gleichzeitig gespielt gehört, von Maschinen. Dieser Klang habe ihn so begeistert, dass er Georg Friedrich Haas angerufen hätte und ihm einen Kompositionsauftrag erteilt. Haas selbst erzählt dort auch von den Stimmvorgängen, davon, wie die 50 Klaviere, die ja im Raum verteilt seien, einen Hundertsteltonabstand versetzt gestimmt wurden; er lobt die chinesischen Klavierstimmer von Hailun für ihre Kooperation bei dieser für sie sehr ungewöhnlichen Aufgabe. Die Stimmung, sie nimmt bereits Bedacht auf die Beweglichkeit des Publikums.

Haas produziert außerordentlich sinnliche Klänge mithilfe akribischer Berechnung mikrotonaler Intervalle, Körper, die sich immer wieder auflösen und neu zusammensetzen. “Präzise realisierte Mikrotonalität” sagt er einmal über seine Musik. Klänge von einer vielstimmigen Emotionalität, einer dialektischen Emotionalität, einer widersprüchlichen Emotionalität, einer geschichteten Emotionalität. Mich fasziniert diese Kombination aus enormer Abstraktion im Kompositionsvorgang, präziser Festlegung der Klänge und einer verdichteten Sinnlichkeit des gespielten Stücks, das trotz der genauen Festlegung nicht spröde oder trocken wirkt.

Der Große Saal des Konzerthauses sehr gut gefüllt; das Konzert ist ausverkauft. Zu Beginn Skepsis, ob sich das Gehen überhaupt gehen ließe. Das tut es aber dann. Es ist, als würde die Mikrotonalität der Komposition sich körperlich in Mikrobewegungen spiegeln, sehr langsam, viel durch die und in der Menge. Eine Form des sehr langsamen Tanzes vieler Ameisen in Zeitlupe. Serendipitäten, wenn du dich einem Instrument näherst, das erst nicht, dann plötzlich schon gespielt wird, das ist ja alles nicht vorhersehbar – umso mehr, wenn du an der Rückseite eines Klaviers stehst, auf das dann plötzlich in einem Rausch und Braus eingehämmert wird. Die 50 Klaviere gestatten im Verbund enorme Bombastik, das wird auch weidlich ausgenutzt, wenn auch, wie ich finde, nicht übertrieben. Ich wusste nicht, dass Klaviere so klingen können, so rauschen, brausen und vibrieren, oha. Die Stimmung im Publikum sehr enthusiasmiert. Haas, wie immer im schwarzen Lederanzug, freut sich (wie immer) über den Applaus wie ein Schnitzel, und ein honoriger Austro-Kulturmanager meint nachher, dass er es noch erleben dürfe, dass ein zeitgenössischer österreichischer E-Komponist gefeiert würde wie ein Popstar, fände er doch sehr schön. Ich auch.

  Textile help