Irrtage und Sekundäranmutung
Kälte, Glätte, Zwang zum öffentlichen Verkehr. Klamme Finger, kalte Nasen, für Zehen lassen sich ungleich leichter Wärmestrategien finden als für diese forsch nach vorne ragenden Kälteattraktoren from hell. Im Ohr viel Palmer in Dub [eins , zwei ]; das Zeug ist einfach schweinefein. Viel verhatschte zwischenmenschliche Wärme der Vorweihnachtszeit, neoliberal durchzogen von Stressformen, die das nahende Jahresende mit seiner Willkür notwendiger Abschlüsse generiert; Alkohol. Austronihilismus galore. Massen von Menschen in der Stadt und in den Lokalen, die Innenstadt überhaupt, Punschstände, dicht besiedelt, in den Kaffeehäusern keine Tische frei, nicht einmal Sessel, wo zur Hölle kommen diese Menschen alle her, wo doch gleichzeitig so viele krank sind, und warum. Birnencreme-Selleriesuppe zwischendurch im Kaffeehaus, am letzten Platz in der Ecke, dazu ein Formosa Sencha, warum auch nicht, vor einer der großen Sitzungen diese Woche. Am Weg durch die Innenstadt diese Krähe auf einem Autodach beim Volksgarten, sie flog nicht weg, als sie mich sah, sondern hopste auf mich zu, doch, nein, ich hatte keine Erdnuss und auch keine andere Nuss.
“Bin leider mit Verführung im Bett”
Am Tag davor eine Ausstellungseröffnung, Vorträge, ich komme am Ende eines Arbeitstages etwas zu spät und gerade passend zum Buffet, Plaudereien mit Gästen “aus dem Ausland”, Reisethemen, bevorstehende Feiertagsriten, Speisepläne (viel mit Wild), Familienbesuche, Austarieren von Sensibilitäten, irgendwann fragt jemand “and you?”, und ich erörtere mein in Phasen des totalen Rückzugs und der geneigten Familiengesellschaft gestaffeltes Feiertagsritual, das auf manche exzentrisch wirken mag. Mir fällt plötzlich der Satz ein “you know, I come from a Michael Haneke type of family”, dann geht’s eigentlich, man muss nichts mehr erklären, das verstehen alle, oder sie finden es zumindest verstörend genug, dass sie nicht weiter nachfragen.
Intensiver Austausch über Zubereitungsvarianten des Hot Pot in Sichuan. Die Beobachtung, auch unlängst vom Bruder, der vor ein paar Jahren durch China tourte, dass man sich durch chinesische Ess-Schärfe durchschmecken kann und muss und dann höchst Schmackhaftes vorfindet. Letta Mbulus famoses What’s Wrong With Groovin’ wird mir vom Empfehlungsalgorithmus hereingespült, der kann also mitunter doch was.
“Make me resonate”
“Umarmungen ohne Unschuld” [Aufgew.]
Kraftgelackel
Noch einen Tag früher ein Gastvortrag, davor Dinge geregelt bekommen in diversen Meetings, wieder einmal administrative Job-Interviews mit ein paar Leuten, die hoffnungslos überqualifiziert sind, und nach dem Gastvortrag Herumstehen beim Buffet und danach noch in ein Lokal, es gab Hirschragout auf der Karte, warum auch nicht, und, hey, lass uns noch einen Birnenschnaps, ich wüsste schon, warum nicht, aber einer geht schon. Junge Leute dabei, sprühend vor Gedanken, ältere Kollegen, die Gäste immer in ihre Spezialthemen verwickeln, da muss man sie dann mit Konversationsablenkung draus befreien um ihnen Raum zu verschaffen. Wir können das mittlerweile, wir sind ein gutes Team.
Diskussion über das Wort “Wertschätzung”, das manche gar nicht mögen, ich dagegen sehr. Finde ‘Wertschätzung’ (für einen Menschen) ein total schönes Wort, das hat etwas von umfassender Perspektive auf einen Menschen, Vielseitigkeit, Komplexität, gleichzeitig warmes Zugetansein und eine Distanziertheit, die Raum gibt und nicht erstickt. [Satz: “Ich hätte mir ein Zeichen der Wertschätzung von dir gewünscht.” Aber kann man ‘Wertschätzung’ in Sätzen verwenden, die nicht nach Vorwurf riechen?]
“Vergebliche Zustände”
Sich in Geschichten aus der Vergangenheit hineindenken, hineinfühlen, mit Sekundäranmutung. Überhaupt: sich der Vergangenheit gegenüber mit Sekundäranmutung verhalten. Ich weiß nicht genau, was das heisst, es ist mir so eingefallen, kam so daher, aber es klingt nicht schlecht. Sekundäranmutung: dass etwas eine Schicht um sich drumherum trägt im Kopf, eine zeitliche Isolierschicht, die aber gleichzeitig das geistige und affektive Verhalten gegenüber der Vergangenheit mit einer Art Wiederholungsdynamik versieht. Ein Wiederdurchleben, aber eben doch nicht, weil anders, weil so viel dazwischen, eine Art reenactment, aber abstrakt und komprimiert und verschoben. Keine Kreisbewegung, sondern eine Seitwärtsspirale. Got it? Gefühle mit Sekundäranmutung. Wiedergänger. [Schon wieder die Gespenster?] Jedenfalls kann man die Vergangenheit nicht aus der Reserve locken, so viel habe ich mittlerweile gelernt. Sie ist zu indifferent, zu woanders. Dann hing noch irgendwo die Frage in den Bäumen, ob Erinnerung generell ein Gefühl von Kumpelhaftigkeit erzeugt.
Da war diese Stimme, diese verdammte Stimme, diese Intonation, das Reden in einem erkennbaren Dialekt, und dann gleich wieder in einer dialektbereinigten Hochsprache (die natürlich nur so tut, in Wirklichkeit stecken in ihr auch andere Dialekte). Das Einflechten von Partikeln des Überregionalen (“ne”). Menschen aus dem Süden des deutschen Sprachraums machen das oft, sie finden sich in ihrem lokalen, mit dem Aufwachsen mitgegebenen Sprachraum und dann auch in einem größeren, gemeinsameren und dann doch wieder lokal nördlich dominierten, in den sie sich — häufig als junge Erwachsene — hineinbegeben haben, durch Umzüge oder sprachliche Dominanzverhältnisse vor Ort. Sie springen in ein- und demselben Satz hin und her, vor allem, wenn es gemischte Gegenüber gibt, und wenn sie mit einer reden, die wie sie grosso modo aus dem Süden kommt (grosso modo, weil es natürlich verschiedene Süden gibt), springen sie in das Lokale zurück, und das kann sehr charmant sein und sich schon an sich wie eine zärtliche Geste anfühlen.
thin white duke, Grenzgängertum der gefährlicheren Sorte.
Im Hintergrund Schadensabwendungen, zumindest der Versuch von solchen, viel Diplomatisches und Politisches, Akte und Aktionen, versteckt viele davon, nachgerade konspirativ; ma, is des mühsam. Wie soll in diesem Scheißsystem etwas vorwärts gehen, etwas geschafft und geschaffen werden, wenn man doch so viel Energie darin hineinstecken muss, dass Menschen nicht zerstört werden.
Das mit der Sekundäranmutung hört sich interessant an. Aber so in der abstrakten Beschreibung erscheint es mir etwas anämisch. Gibt es dafür ein konkretes Beispiel? Ansonsten immer wieder phantastisch so differenzierte, tiefgrabende Texte einfach so im Internet zu lesen. Danke dafür. “What’s wrong with Groovin’” ist wunderbar. Und Wertschätzung wird ganz klar unterschätzt.