Musik, Entdeckungen, 2022
2022 ein Jahr mit deutlich mehr Musik, sowohl live als auch sonst, zurück in einen Modus des aktiven Suchens, Aufspürens und Entdeckens gefallen, den ich einige Jahre lang nicht gepflegt hatte (wie schändlich). Die quantitative Erfassung der Hörgewohnheiten durch Streaming und Scrobbeln sagt über Bedeutung nicht unbedingt viel aus, aber immerhin: Hier ist die Tidal-Trackliste des Jahres, hier die last.fm-Tracklist des Jahres, die etwas anders aussieht, da ich ja nicht nur auf Tidal höre. (Dieses Jahr auch so viel Musik gekauft wie schon lang nicht, das Meiste über bandcamp, wenn dort nicht erhältlich, direkt bei Labels oder bei Qobuz; nein, ich kaufe keine Tonträger mehr.) An persönlichen Entdeckungen gab es dieses Jahr verdammt viel, hier einige besondere darunter (es gab auch viele andere, je auf ihre eigene Art wichtig). Nicht nur 2022 Erschienenes dabei, aber bei so viel Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Welt ist Anderszeitigkeit sowieso voll die Avant-Garde. Abgesehen davon, dass ich mich als jemand, die hauptberuflich in Texten und Ideen aus dem 5.—13. Jahrhundert herumwühlt, jetzt nicht unbedingt der Gegenwart verpflichtet fühle. Aufgefallen ist mir, dass ich recht wenig Musik von Frauen höre, gerade im elektronischen Bereich, wo ich recht viel höre; das gefällt mir nicht.
Automat (Georg Zeitblom, Jochen Arbeit und Achim Färber): Ich stieß komischerweise erst jetzt und zufällig auf Automat und blieb das ganze Jahr über immer wieder fast täglich bei ihrem Sound hängen. 1204 Mal hätte ich Nummern von Automat auf mit ihm verbundenen Geräten aktiviert, sagt der Scrobbler. Das wirkt jetzt schon sehr durchgeknallt, aber man muss das relativieren; der Gute hat einen Bug und zählt seit einer nicht näher eingrenzbaren Zeit alles, was über das Tidal-Web-Interface abgespielt wird, doppelt, der Hund. Wie auch immer, Automat steht in der Statistik weit oben, gleich danach kommt Brian Eno mit 631 Scrobbles (im gesamten Jahr zählt der Hund übrigens bisher an die 17.000, wuff). “Electronic-Kraut-Dub” las ich irgendwo als Stilbeschreibung von Automat (würde dabei aber “electronic” etwas größer schreiben). Das Album “Plusminus” (2015) hat’s mir mit seinem kristallinen Ton in dub-esken Strukturen angetan — in gewisser Weise eine zeitgenössische Entfaltung des Eröffnungsklangs von Eno/Moebius/Roedelius’ “The Belldog”, deucht mir —, “Ost – West” (2016) hat mich mit seiner Treibkraft und dem dichten, präzisen Sound begeistert; “Tränenpalast” und “Fabrik der Welt” hörte ich besonders oft. “Modul” (2020) hat ein — wie überraschend — modulartigeres Konzept und mehr Vokalnummern; von “Modul” gibt’s auch Remixes; Pulsingers von “Ankaten” steht bei mir hoch im Kurs. Aufgeräumt ist der Sound, meinte Herr T. auf Twitter; ich gebe das zustimmend wieder und weiter. Zu “Ost – West” gibt es ein politisches Narrativ; das Album wurde in den Candy Bomber Studios am Gelände des ehem. Flughafens Tempelhof am Höhepunkt der so genannten Flüchtlingskrise aufgenommen, auf einem Gelände, das als temporäre Unterkunft für Tausende von Menschen diente. Überlagerung unterschiedlicher historischer Verwerfungslinien, das ist in den Brüchen der Musik tektonisch spürbar, meine ich.
Der Scrobbler meint, ich hätte “Fabrik der Welt” in diesem Jahr gezählte 180 Mal auf einem verbundenen Gerät aktiviert, deshalb platziert er die Nummer ganz oben auf der last.fm-Tracklist. Die Nummer ist freilich Teil meiner Sportbegleitungsplaylist, was die Hörgewohnheiten etwas verzerrt. Es ist im übrigen total stimmig, ausgerechnet einen Track mit dem Titel “Fabrik der Welt” begleitend zu nihilistischer körperlicher Selbstoptimierung am Ergometer zu hören.
KMRU (Joseph Kamaru): KMRU hörte ich bei der Mego-Nacht Anfang des Jahres (Wiener Festwochen) live und war begeistert von der Intensität, Dichte und Mehrdimensionalität seiner elektronisch aufbereiteten Klänge, die teils auf field recordings beruhen. Das Album “Peel” vermittelt viel davon; live fand ich ihn aber auf spannende Weise rauer (auf “Peel” vermittelt das die Nummer “Klang” am besten), und natürlich auch lauter. Es gibt noch Vieles von ihm für mich zu hören. Das Album Temporary Stored erschien dieses Jahr, eine Beschäftigung mit kolonialen Archiven in Europa, in diesem Fall mit immateriellem Kulturgut (Aufnahmen). Ich habe “Temporary Stored” nicht oft gehört; es schien mir einen konzeptuellen Punkt zu machen, der sich nicht in eine sinnlich-ästhetische Erfahrung übertrug, die nach Wiederholung verlangte. Vielleicht geht das aber auch gar nicht. Auf “Temporary Stored” verwebt KMRU Aufnahmen (aus Afrika) aus dem Royal Museum for Central Africa in Tervuren (Belgien), entstanden 1952 bis 1993, mit ambient-artigen Texturen. Es sind vorwiegend Vokalaufnahmen, Gesprochenes, dessen Funktion und Bedeutung ich nicht entschlüsseln kann, mehrstimmige und teils dialogische Gesänge. Es geht, so der Begleittext, um die Wiederaneignung geraubten Kulturguts. KMRU erzeugt mit seinen Klängen einen Raum für diese Aufnahmen, der ohne Zweifel neu ist und ihnen eine Resonanz gibt, die sie weder im Kontext ihrer habituellen Performanz noch in kolonialgeschichtlichen Museen oder Archiven haben. Aber auf welche Weise handelt es sich dabei um eine Wiederaneignung von etwas Gestohlenem? Was macht aus diesen Tracks ein “emancipatory sonic hearing”? Mit dem Begriff der kulturellen Aneignung habe ich mich längere Zeit in ganz anderen Kontexten befasst (schon wieder gut acht Jahre her); ich finde ihn schwierig und denke, ein emanzipatorischer Anspruch müsste sich eigentlich von der Prämisse des Eigentumsbegriffs befreien oder ihn zumindest in die Kritik nehmen, aber auch da habe ich keine Ahnung, was das für Audio-Aufnahmen und ihre Rahmung bedeuten kann; es hängt gewiss auch von der Art des Aufgenommenen ab, religiöse Rituale sind andere Objekte als Unterhaltungsgesänge, Audio ist nicht gleich Audio. (Der Begleittext verweist auf Arbeiten von Bonaventure Ndikung und Kofi Agawu zum Archiv, dem nehme ich mir vor beizeiten nachzugehen. Zu “Temporary Stored” selbst fand ich noch keine Spuren einer Rezeption, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzt.)
Anton Fier, Dreamspeed / Blind Light 1992-1994: Eine Nummer daraus war auf einem Sampler enthalten, den ich in den 1990er Jahren in Japan erworben hatte. Zufällig forschte ich der dieses Jahr nach und kam endlich zum Album. Trockenes, fahriges Schlagzeug, treibender Bass, schräg hineinschneidende oder entspannt hineingestrichene Gitarrenakkorde, aber vor allem die — auf Japanisch — sprechende, deklamierende Stimme von Phew (Hiromi Mitani); hauchend, hypnotisierend, heimsuchend (haunting!), nüchtern rezitierend, eindringlich beschwörend, alles dabei, gelegentlich mit zusätzlichem Gesang unterlegt. Hier der Link zur Albumseite beim Label Tzadik, offiziell digital verfügbar finde ich das nicht (aber Stichwort Schwarze Krähe, wem’s was sagt). Anton Fier verstarb dieses Jahr; es ist von selbstgewähltem Tod in der Schweiz nach künstlerisch schwierigen und finanziell desaströsen Lebensphasen die Rede.
RE-201: überschneidet sich personell mit Automat, spielte Nummern von Robert Palmer auf Dub ein, und das Ganze gab es dann in unterschiedlichen Remixes. Hier also etwas neu Rausgekommenes, freut Euch, Leute. Das Jahr über waren vor allem die Remixes von Deadbeat zugänglich; gegen Jahresende wurden die um mehrere andere erweitert. Als Zweites dann noch acht Remixes von “Johnny & Mary”. Mika Bajinsky singt (“Pressure Dub”, in der Deadbeat-Fassung, Soundtrack der Covid-Quarantäne in Seoul im August), Peter Heppner singt. Ich bin großer Deadbeat-Fan; seine Remixe sind eine Klasse für sich, finde ich. Deadbeat schreibt über das erste Album “the tunes have burned down many a morning dancefloor since they came out, getting smiles from ear to ear each and everytime”, und für meinen morning dancefloor im Wohnzimmer kann ich das nur bestätigen. Entzerrung von Melodien und Schaffung eleganter Zwischenräume, Entfernung von Stimmen nach irgendwo ganz weit hinten, Bewegungen ins Andeutungsvolle, Hall um die Stimmen wie sorgsame Weichzeichner der Freundlichkeit, sehr pointierte Verstärkung einzelner Harmonien, Rhythmen, die sich zurücknehmen und doch unglaublich tief einfahren, wie man hierorts so sagt; es ist einfach wirklich sehr, sehr schön.
Carter, Tutti, Void: “Transverse” (2012) von Chris Carter, Cosey Fanni Tutti und Nik Colk Void, Live-Aufnahme eines Konzerts aus 2011. Pulsierende Maschinenrhythmen schaffen erstaunliche Leichtigkeit zu düsteren Störtönen, Sirren, Maschinenkrächzen, verzerrte Stimmen, Momente der Zartheit, die sich so anhören, wie sich das vorsichtige Streicheln eines gewusst scharfen Sägeblatts anfühlen muss. Das Zusammenwirken der drei, improvisiert, einmalig, seither wohl unerreicht. Mit den Solowerken der drei kann ich viel weniger anfangen, am meisten noch mit Carters Wybble. Feine Rezension von “Transverse” von Nick Neyland auf Pitchfork, anno dazumals. Zitat: “In many ways this feels like the true promise of industrial music being capitalized on, before it got utilized as a scare tactic to lure in impressionable mall-goth teens.” Highlights für mich die Nummern V2 und V5
Elektro Guzzi: eine österreichische Band, die mit Schlagzeug, Gitarre und Bass Techno-Formen spielt, und die es selbstverständlich auch bereits seit längerem gibt, wenn auch noch nicht seit dem 13. Jahrhundert. Aktuelle Besetzung Jakob Schneidewind, Bernhard Breuer, Bernhard Hammer. Hauptsächlich gehört in diesem Jahr Achse Dachse (2017), zuletzt auch Trip (2021), anlässlich dessen Veröffentlichung Christoph Benkeser ein Interview über Liveaufnahmen, Studioaufnahmen, Dekonstruktion und Zusammenspiel führte. “Was man jetzt auf der Platte hört, sind meistens Ausschnitte längerer Aufnahme-Phasen, in denen sich über 40 Minuten verschiedene Momente des Einschwingens, des Zugaufnehmens und des Zerfalls abgespielt haben.” Das kandidelt mitunter schon ordentlich über, schnelle Rhythmen mit vielen, teils auseinanderlaufenden zusätzlichen elektronischen Sounds. Die Nummer “Horst (Dub)” ist verdammt gut und in ihrer leichten, selbstbewussten Bösartigkeit tröstlich.
Konzerte? Konzerte! Menschen- und Kulturdurst dieses Jahr, Hunger nach live. Bei den Wiener Festwochen im Mai eine Mego-Nacht, im Juni eine Xenakis-Nacht, beide noch sehr stark von pandemisch bedingter Vorsicht geprägt. Dann durch Zufall Patti Smith in der Arena, im Freien, und die Kings of Convenience im Volkstheater, ausverkauft, wegen der vielen Menschen leicht beklemmend, aber FFP2-bewehrt in Ordung.
Nach der Covid-Infektion waren Konzerte dann weniger infektionssorgebestimmt. Ausflüge in moderne E-Musik bei insgesamt acht Konzerten von “Wien Modern”, dabei herausragend Aufführungen von Stücken von Georg Friedrich Haas (1 | 2) und des CoronAtion-Zyklus von Olga Neuwirth in der Kassenhalle des Postsparkassengebäudes (Otto-Wagner-Jugendstil, mit Robyn Schulkowsky, Joey Baron und Lucas Niggli an den Schlagwerken). Dazwischen Feines, vorwiegend Elektronisches und vom Verein Liccht Organisiertes im Rhiz, in den Westbahnstudios und im Re-Plugged; Experimentelles im Echoraum, ein Freiluftkonzert von Bulbul in Liesing (mit sommerabendlich ansprechender Fahrradtour durch die südlichen Randgebiete Wiens ebendorthin) mit der Erkenntnis, dass sich die Jungs in finstren Innenräumen wahrscheinlich wohler fühlen; Otoboke Beaver in San Francisco, am Volksstimmefest Esrap. Ein Liederabend im Volkstheater. Eine experimentelle Aufführung von mit Xenakis’ Fortran-Programm generierter Musik in den Westbahnstudios durch das Kollektiv Studio Dan, nicht gebloggt, keine Zeit. Leider keine Konzerte in Seoul, da dort zu lang in Covid-Quarantäne.