San Francisco, Distanzen
Chinatown, San Francisco, schlichtes Wonton-Lokal, in dem ausschließlich ethnisch chinesische Menschen speisen, cash only. Das Gefühl, hier würden einander alle kennen, oder aber auch sich einfach niemand drum kümmern, wer der oder die andere ist; das liefe doch auf das Gleiche hinaus. Stummes Essen, routinierte Bestellungen, stilles Begleichen von Rechnungen. Kühle Geschäftigkeit.
Als ich nach Aufgabe meiner Bestellung von der Toilette zurückkehre, hat sich ein älterer Herr mir gegenüber an den langen Tisch gesetzt. Er rechnete nicht damit, dass da schon jemand saß; sah die Jacke am Stuhl nicht. Wir werden nach einem Moment der Irritation einvernehmlich stumme Tischgenossen. Irgendwann fragt er, woher ich komme, und als ich ihm sage, woher, und ich wäre für eine Woche in Berkeley, erstaunt ihn das, was, ich käme aus Berkeley hierher, das sei doch unglaublich weit (eine Stunde mit BART und Bus, lange Wartezeiten mit eingerechnet). Wir wünschen einander “have a good day”.
Otoboke Beaver in der Great American Music Hall. Ein Musiktheater, 1907 im Zuge des Wiederaufbaus nach dem großen Erdbeben von 1906 errichtet, ein Schnörkseltheaterbau mit Galerien, Marmorsäulen, Deckenfresken; der Architekt hieß A.W. Edelman (hier mehr über die Geschichte). Blick von der seitlichen Galerie nach unten: wogende Menschenmenge, Körper werfen einander nach vorne, freundliche Securities setzen ihnen Grenzen. Die Bassistin, etwas kräftiger gebaut, erscheint zuerst und richtet sich ihr Instrument zurecht. Alle Damen bei Otoboke Beaver tragen Minikleider; die Bassistin scheint sich darin weniger wohl zu fühlen – ich kenne diese Haltung, wenn eine sich im Minirock nicht nach vorne beugen möchte und daher immer mit geschlossenen Beinen so weit wie möglich in die Knie geht. Der Sängerin ist es dagegen egal, ob sie Einblicke gibt; im Gegenteil, sie stellt ihr rechtes Bein quer auf einen der Bühnenmonitore, sodass die Typen in der ersten Reihe praktisch Freiblick auf ihren Slip haben müssen. Ein Typ mit Spiegelreflex fotografiert direkt zwischen ihre Beine, so sieht es zumindest aus. Ein seltsames, nicht ganz stimmiges Spiel aus Provokation und Voyeurismus. Es wirkt aufgesetzt, und ich kann mir nicht vorstellen, wie ein solches Spiel in dieser Art von Öffentlichkeit nicht aufgesetzt wirken könnte.
Neben mir auf der Galerie ein älterer Herr mit Maske. Während der Vorgruppe liest er auf seinem Handy New York Times; manisches Wischen. Irgendwann fragt er mich, ob ich Otoboke Beaver schon einmal gesehen hätte, ich “nein”, er so, er hätte sie vor ein paar Jahren bei Coachella gesehen, “they’re kind of fun”.
Rückweg zu Fuß durch die Larkin Street zur BART-Station Civic Center. Dunkelheit. Schlechte Straßenbeleuchtung; das Licht kommt von den erleuchteten Drugstores, Bars, Hotels, aus dem Inneren unidentifizierbarer Gebäude. Sehr viele Obdachlose; it’s a San Francisco problem. Leichte Angst, einige der sichtlich unter Drogeneinfluss Stehenden könnten sich unter Umständen nicht ganz unter Kontrolle haben. An Menschen vorbeimanövrieren, sichere Distanz abschätzen. Das Gefühl, ein Eindringling in einem Raum zu sein, den andere beanspruchen, der anderen gehört. Viele junge Latinos, sie sagen “hi”, ich sage “hi”.
15 Minuten Wartezeit in der BART-Station Civic Center. Viele, die irgendwo waren, Essen oder im Kino oder in Konzerten, leicht ermüdete, aber angeregte Stimmung; andere sichtlich erschöpft, am Weg von der Arbeit nach Hause. Um diese Uhrzeit gibt es keine direkten Züge von San Francisco nach Berkeley mehr; man muss in MacArthur umsteigen, dort lässt der Anschlusszug 20 Minuten auf sich warten. Mein Rücken möchte nicht mehr sitzen, ich lege mich auf eine Bank. Ein Schwarzer, der zuvor am anderen Ende der Bank etwas weiter entfernt saß, geht von hinten an mir vorbei, dreht sich um, nickt mir zu, ja, ich bin ok, und ich habe verstanden, dass du mir nichts Böses willst, ich nicke zurück, um dir zu zeigen, dass ich das verstanden habe und schätze. The kindness of strangers, that’s the US for you (or at least California).
Der ältere Kellner im Flughafenrestaurant bei der Abreise, aus Israel, fuhr dort im Kibbuz einen Steyr-Traktor, hat dann in London studiert, eine Kommilitonin (seine Freundin?) aus einer Bäckersfamilie in Osttirol dort zum Skifahren besucht. Es war 1974. Spielt man im ORF bei Sendeschluss immer noch Johann Strauß? Das mochte er nämlich.